Im Vorfeld einer zweitägigen Konferenz über die Stärkung der Widerstandskraft von Einrichtungen des Strafvollzugs gegen Infektionskrankheiten am 20. und 21. Juni in London sprachen wir mit zwei Führungskräften, die in London an der Schnittstelle von Gesundheit und Justiz arbeiten – Sinéad Dervin, Deputy Director for NHS London’s Health and Justice Services, und Ian Bickers, Prison Group Director for London Prisons, His Majesty’s (HM) Prison and Probation Service. Sie geben uns Einblicke in innovative Wege zur Unterstützung der Versorgungskontinuität und lassen uns an ihren Überlegungen teilhaben, worauf sich nach der COVID-19-Pandemie die Aufmerksamkeit richten sollte.
Profil der Patienten im Strafvollzug
In London gibt es acht Haftanstalten, alle für Männer, in denen rund ein Zehntel der gesamten Gefangenenpopulation Englands einsitzt. Einige sind Untersuchungsgefängnisse für Menschen, deren Verhandlung noch bevorsteht, mit entsprechend hoher Fluktuation.
„In unserer größten Haftanstalt, HM Prison Wormwood Scrubs, ist der Anteil der Untersuchungsgefangenen hoch. Manche sind nur eine Woche da, andere sechs Monate, wieder andere ein Jahr – das ist ganz unterschiedlich. Hier einen Rhythmus für Versorgungskontinuität zu finden, ist eine echte Herausforderung“, erklärt Sinéad.
„Viele Menschen kommen in sehr schlechtem Zustand in der Haftanstalt an. Viele, die ich als ehrenamtliche Richterin sehe, hatten einen schlechten Start ins Leben und einen chaotischen Lebensverlauf mit Alkohol- oder Drogenproblemen. In der Regel haben sie eine lange Vorgeschichte von Erfahrungen mit Einrichtungen, Fürsorgesystemen, Obdachlosigkeit – allesamt schwerwiegende, verfestigte Probleme. Das ist oft das allgemeine Profil. Psychische Schwierigkeiten sind häufig.
Manchmal haben wir sie gerade stabilisiert, und schon sind sie wieder weg. Wir müssen schnell sein, damit wir auf die Menschen eingehen können. Unsere Gesundheitsanbieter müssen Hand in Hand mit dem Strafvollzug arbeiten, um einen angemessenen Zugang zu den Menschen sicherzustellen. Wir müssen rasch herausfinden, mit wem sie bereits Kontakt haben, welche Unterstützungsnetze und Familienbindungen sie haben, und das alles in sehr kurzer Zeit zusammentragen.“
Unvorhersehbarkeit
Die Arbeit an der Schnittstelle von Gesundheits- und Justizsystem ist fordernd, da beide sehr komplex sind. Betrachtet man den Weg eines Menschen durch den Strafvollzug und seinen Patientenpfad, wird man feststellen, dass sie selten harmonieren.
„Wir wissen nicht immer über bevorstehende Gerichtstermine Bescheid. Das ist ein Punkt, an dem es oft hapert. Plötzlich werden Menschen entlassen. So kann es vorkommen, dass ihre Kautionsentscheidung bei einem erneuten Gerichtstermin überprüft wird und sie sofort entlassen werden, auch wenn sie Versorgung brauchen. Dann wird es schwierig mit der Kontinuität. Natürlich sollen wir Menschen entlassen, wenn sie nicht in Haft sein müssen. Wir sollten aber auch bedenken, dass sie vielleicht gerade wegen einer Reihe von Problemen behandelt werden. Bei ungeplanten Entlassungen ist zudem die Gefahr eines Rückfalls und/oder einer versehentlichen Überdosierung größer. Wenn sie ein gefestigtes Unterstützungssystem haben, ist das okay, aber das haben nicht alle“, sagt Sinéad.
Oft werden Menschen von einem Gefängnis in ein anderes verlegt, was sich auch auf ihre Gesundheitsversorgung auswirkt.
„Wir sehen Menschen, die in einer Haftanstalt kurz vor einer Diagnose stehen, die wir aber plötzlich verlegen müssen, weil wir die Plätze von Gerichts wegen brauchen. Dann stellen wir fest, dass diese Menschen mit dem Diagnoseprozess wieder ganz von vorn anfangen müssen. Was hat hier Priorität?“, fragt Ian.
Die Stützen einer kontinuierlichen Versorgung
Für ein optimales Zusammenspiel von Gesundheits- und Justizsystem sind noch nicht alle Lösungen gefunden. Die vom NHS England auf nationaler Ebene initiierte elektronische Patientenakte ist jedoch eine der Trumpfkarten Englands, wenn es darum geht, die beständige, integrierte Versorgung von Menschen in Haft zu gewährleisten. Ein weiteres Plus ist die solide Kultur der Partnerschaft zwischen den wichtigsten im Gesundheits- und Justizwesen tätigen Stellen. Der NHS England, der HM Prison and Probation Service, die britische Behörde für Gesundheitssicherheit, das Ministerium für Gesundheit und Soziales und das Justizministerium arbeiten im Rahmen einer Partnerschaftsvereinbarung gemeinsam daran, dass Menschen in Haft gesundheitlich versorgt werden. Kontinuität in der Leistungserbringung ist das Ergebnis starker, dauerhafter Beziehungen, in denen die Partner einander gut kennen. Das erfordert Zeit, Energie und eine kooperative Geisteshaltung. Ian, der beim HM Prison and Probation Service tätig ist, erzählt:
„In meiner früheren Funktion als Gefängnisleiter habe ich gelernt, dass ich das nicht allein machen kann. Ich muss mir Partner suchen. Ich vermute, dass viele Menschen in unterschiedlichen Berufen Gesundheitspartnerschaften pflegen. Ich arbeite gern mit Sinéad vom NHS und anderen, damit wir gemeinsam herausfinden, was wir tun können und wie wir es tun können, um all den dringenden Erfordernissen zu begegnen.“
In der COVID-19-Pandemie war dieser partnerschaftliche Ansatz entscheidend, nicht nur zwischen den zuständigen Stellen, sondern auf allen Ebenen.
„Das Verhältnis zwischen Beschäftigten und Inhaftierten war in den 20 Jahren, seit ich diese Arbeit mache, nie so gut wie in der Pandemie, weil wir alle in einem Boot saßen“, sagt Ian.
„Sie hat Innovationen vorangetrieben, sie hat uns dazu gebracht, Dinge ganz anders zu tun, was positiv ist. COVID-19 hat auch zu einem Rückstand bei Diagnose und Behandlung geführt, die für Menschen in Haft schon immer schwerer zugänglich waren. Es kostete viel Mühe, den Rückstand an Arztterminen aufzuholen. Wir haben eng mit Sinéad und ihrem Team zusammengearbeitet, vor allem um den Zugang zur sekundären Versorgung zu verbessern.“
Sicherzustellen, dass die Menschen kontinuierlich versorgt werden und Zugang zu den Leistungen haben, die sie brauchen, ist nicht nur für die Zeit nach der Entlassung wichtig. Über die Verbindung zwischen Haftanstalten und der breiteren Gesellschaft sagt Ian:
„Wir brauchen Kontinuität der Versorgung sowohl von der Gesellschaft zur Haftanstalt als auch von der Haftanstalt zur Gesellschaft. Die meisten Menschen, die im Gefängnis landen, sind dort, weil sie ein chaotisches Leben geführt haben. Zum regulären Gesundheitswesen hatten sie vor ihrer Inhaftierung wahrscheinlich nur begrenzt Zugang. Wie finden wir den Anschluss aus der Haft zurück in die Gesellschaft? Ja, das elektronische System unterstützt diesen Prozess, aber damit es funktioniert, muss die Person bereits in einer Allgemeinpraxis registriert sein. Manche Elemente des Modells funktionieren gut, doch wir müssen auch daran arbeiten, die Lücken zu erkennen und zu schließen.“
Traumasensible Perspektiven
Ian vertritt die Perspektive der Gefängnisverwaltung und Sinéad die der Rechtspflege. Aber beide sehen weit über ihren jeweiligen Bereich hinaus und sind mit Leidenschaft bei der Sache. Sie sehen, dass sie mit ihrer Arbeit das Leben eines Menschen entscheidend verändern und destruktive Kreisläufe durchbrechen helfen können. Sinéad sagt:
„Das Gefängnis kann eine Chance sein, denn es bietet einen Rahmen, den viele Menschen brauchen, aber in ihrem Leben nicht haben. Das kann ihnen guttun. Aber sobald sie gehen, wird es kritisch mir der Kontinuität der Versorgung. Wir tun, was wir können, um Menschen mit Diensten zu vernetzen, dafür zu sorgen, dass sie an der Pforte abgeholt werden, ihr Rezept haben, sich an ein Team wenden, doch die Erfahrung einer kontrollierten und geschlossenen Umgebung können wir nie reproduzieren. Wenn Menschen gehen, sind sie wieder anfällig für all die Dinge in ihrem Leben, auch für ihre Trigger und Stressoren.“
Im gesamten Gesundheits- und Sozialwesen rückt der Wert der gelebten Erfahrung der Menschen zunehmend in den Fokus. Die Erkenntnis wächst, dass Menschen, die Zeit in Haft verbracht oder Substanzen konsumiert haben, über wichtige Erkenntnisse verfügen, die in Politik und Verfahren einfließen können, vor allem zum Thema Rehabilitation. Ian sagt:
„Wie erschließen Sie die gelebten Erfahrungen von Menschen? Für mich ist es enorm wichtig, mit Menschen zu sprechen, die Zeit in Haft verbracht haben. Wir wissen, dass Menschen in Haftanstalten in ihrem Leben vermutlich ziemlich traumatische Ereignisse durchgemacht haben. Wir wissen auch, dass Menschen in Haftanstalten oft unter negativen Kindheitserfahrungen gelitten haben. Ich weiß, dass diese beiden Faktoren mit hoher Wahrscheinlichkeit in schlechtem Verhalten zum Ausdruck kommen, womit wir auf eine bestimmte Art und Weise umgehen könnten. Wenn wir das besser wüssten und verstünden, könnten wir natürlich besser reagieren.“
Gefährdete Bevölkerungsgruppen
Menschen in Haft sind eine gefährdete Gruppe mit einem enormen und komplexen Bedarf an Gesundheits- und Sozialversorgung. Diese Menschen werden zu vorhandenen Angeboten nicht leicht Zugang finden oder Kontakt aufnehmen. Sie müssen bei der Zuteilung von Gesundheitsressourcen mit Vorrang bedacht werden, um eine gewisse Kontinuität der Versorgung zu gewährleisten und Kreisläufe der Rückfälligkeit zu durchbrechen.
„Wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen, Politik zu gestalten und Investitionsprioritäten zu setzen, kann die Erzählung medial vereinnahmt und die Botschaft ausgesendet werden, dass Menschen bestraft werden müssen und dass die im Gefängnis schlechte Menschen sind“, sagt Sinéad.
„Bei der Haft erfolgt die Bestrafung, noch bevor die Betroffenen das Gefängnistor erreicht haben, weil sie mit dem Verlust der Freiheit verbunden ist. Die Haftanstalt sollte ein Ort der Rehabilitation sein, an dem wir Menschen die Möglichkeit geben, ihr Leben neu aufzubauen, zu gesunden, zu wachsen und als die besten Bürger, die sie sein können, in die Gesellschaft zurückzukehren. Die Männer, um die ich mich gerade kümmere, werden aus der Haft kommen und unsere Nachbarn sein“, sagt Ian.
Menschen, die an der Schnittstelle von Gesundheit und Justiz arbeiten, haben mit einem Ausmaß an menschlichem Leid und an Komplexität zu tun, das die meisten von uns nie kennenlernen werden, oft vor dem Hintergrund politischer Instabilität. Die Gesellschaft und insbesondere das öffentliche Gesundheitswesen müssen verstehen, was in Haftanstalten vor sich geht. Hier handelt es sich um Menschen mit erheblichen und vielfältigen gesundheitlichen Bedürfnissen in ständigem Fluss. Die hier gewonnenen Erkenntnisse und entwickelten Verfahren könnten Grundlage für umfassendere Bemühungen um die Resilienz von Gesundheitssystemen sein und den Weg weisen, wie wir agile, reaktionsfähige Systeme schaffen, die in Krisenzeiten eine kontinuierliche Versorgung bieten.
Sinéad und Ian fordern uns heraus, zu überlegen, wie wir Menschen in Haft sehen und wie sie in unsere Vorstellung von Gemeinschaft passen.
„Unter dem Aspekt der Resilienz und der Vorsorge müssen Haftanstalten in alles regionale und nationale Handeln eingebunden werden, gerade weil diese Bevölkerungsgruppe und dieses Umfeld Komplikationen und Risiken bergen. Darüber müssen wir nachdenken, anstatt uns darauf zu konzentrieren, wer warum in Haft ist. Und wir sollten nicht vergessen, wie verletzlich diese Gruppe ist“, sagt Sinéad.
Kontinuität der Versorgung ist ein wesentlicher Baustein resilienter Systeme. Mauern sind harte physikalische Schnittstellen, das Gegenteil von Kontinuität. Sie unterteilen die Menschen in die da drinnen und die da draußen. Vielleicht müssen wir unsere mentalen wie physikalischen Grenzen überwinden, um zu erkennen, dass wir im Grunde eine Gemeinschaft und ein Versorgungssystem sind.
Momentaufnahme: Patientenpfad in Londoner Haftanstalten
Sinéad Dervin leitet die Beschaffung von Gesundheitsleistungen in den Londoner Haftanstalten. Eine Reihe von Anbietern des NHS, des unabhängigen und des dritten Sektors erbringen Gesundheitsleistungen gemäß den nationalen Leistungsspezifikationen des NHS England. Für die Auftragsvergabe und die Leistungserbringung gilt der Grundsatz der Gleichwertigkeit, wonach Menschen in Haft den gleichen Versorgungsstandard erhalten sollen wie die Allgemeinbevölkerung. Die Gefangenen können mit einem umfassenden Angebot an primären Gesundheitsleistungen sowie sekundären Leistungen in den Bereichen psychische Gesundheit, Behandlung bei Substanzmissbrauch, Zahnmedizin und in anderen verwandten Gesundheitsbereichen rechnen. In London können sich Gefangene auch in der Anstalt eine Dialysebehandlung unterziehen. Für die fachärztliche Versorgung, etwa bei Krebs, verlassen die Patienten die Haftanstalt in Begleitung, um sich in einem externen Krankenhaus behandeln zu lassen.
Neben der nationalen elektronischen Akte für Patienten in Haft können in London Verbindungs- und Diversionsteams, die in Polizeistationen und Gerichten arbeiten, um Menschen mit bestimmten Gefährdungen zu ermitteln, Daten direkt in das Patientendatensystem der Haftanstalten eingeben. So haben Fachkräfte des Gesundheits- und Sozialwesens Zugang zu Informationen über die Bedürfnisse eines Menschen und seine Interaktionen mit dem Gesundheitswesen seit seiner ersten Begegnung mit dem Strafjustizsystem.
Wenn Menschen in Haft kommen, erhalten sie im Rahmen des Strafvollzugs innerhalb von 24 Stunden nach Ankunft eine gesundheitliche Beurteilung und innerhalb von sieben Tagen eine umfassende Beurteilung. Am ersten Tag werden ihre gesundheitlichen Bedürfnisse, einschließlich der benötigten Medikamente, ermittelt. Nach der Beurteilung wird ihnen entsprechend ihren Bedürfnissen ein fachübergreifendes Versorgungsteam zugewiesen. In London sind die Versorgungsmodelle auf die ersten 14 Hafttage ausgerichtet, da die Menschen in der Regel mit vielen komplexen Problemen ankommen. Wir wissen, dass die ersten Tage in Haft für Gefangene mit erhöhtem Suizidrisiko zu den gefährlichsten Zeiten gehören. Darüber hinaus gibt es spezielle Teams, die eine Reihe von geplanten Leistungen wie auch Notfallversorgung anbieten.
Wenn Menschen die Haftanstalt verlassen, wird versucht, sie mit gemeindenahen Leistungsanbietern in Kontakt zu bringen, damit in ihrer Versorgung ein gewisses Maß an Kontinuität gewahrt bleibt. In London gibt es spezielle Verlegungs- und Entlassungsteams, die mit den Betroffenen etwa zehn Wochen, bevor diese die Anstalt verlassen, zu arbeiten beginnen, um sie in gemeindenahe Leistungsstrukturen einzubinden. Dies geschieht im Rahmen von RECONNECT, einem nationalen Programm, mit dem sichergestellt werden soll, dass Menschen nach der Haft Versorgung in Anspruch nehmen und die während der Haftzeit erzielten gesundheitlichen Fortschritte aufrechterhalten.