Die gewaltsame Fixierung oder Isolierung einer Person, die sich in einer psychischen Krise befindet, kann zu schweren körperlichen Verletzungen und sogar zum Tod führen. Menschen, die solche Zwangsmaßnahmen erlebt haben, bezeichnen sie als traumatische Erlebnisse, die der Genesung schaden und Misstrauen gegenüber der psychiatrischen Versorgung wecken. Hierbei handelt es sich um systembedingte Mängel, und das zuständige Gesundheitspersonal hat manchmal das Gefühl, dass ihr Einsatz gegen seine eigenen Werte und Moralvorstellungen verstößt.
Die WHO vertritt seit Langem den Standpunkt, dass solche Eingriffe – abgesehen davon, dass sie nicht therapeutisch sind – auch gegen Menschenrechte verstoßen, wie sie in allen internationalen Rechtsinstrumenten, namentlich dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, verbrieft sind.
Warum werden sie also weiterhin angewendet?
Diejenigen, die sich im Rahmen der WHO-Initiative QualityRights für die Abschaffung von Isolierung und Fixierung einsetzen, sind der Meinung, dass es häufig an einer grundlegenden Störung der Kommunikation zwischen den Nutzern und dem Personal liegt, die durch systemische Probleme noch verschärft wird.
„Es hat den Anschein, dass die Menschenrechte in der psychiatrischen Versorgung manchmal nur teilweise akzeptiert werden“, sagt Roger Banks, ein Psychiater aus dem Vereinigten Königreich und Ausbilder im Rahmen der WHO-Initiative QualityRights. „Die Leute sagen: Ja, Menschenrechte, alles schön und gut, solange es nicht um das spezielle Thema Isolierung und Fixierung geht, aber dann müssen wir anders entscheiden, um Risiken zu minimieren und die Sicherheit zu wahren, um andere Menschen zu schützen.“
Glücklicherweise arbeiten Regierungen und psychosoziale Einrichtungen in der gesamten Europäischen Region der WHO zunehmend daran, für Alternativen zu diesen Zwangsmaßnahmen zu werben und die Dienstleistungskultur zum Besseren zu verändern.
Ein langer und kurvenreicher Weg
Es gibt viele Formen von Isolierung und Fixierung, und sie werden oft zusammen eingesetzt. Die mechanische Fixierung umfasst die Verwendung von Gurten, Riemen oder Seilen, um die Bewegungsfreiheit einer Person einzuschränken, während die medikamentöse Fixierung die Verwendung von Beruhigungsmitteln oder anderen Medikamenten gegen den Willen einer Person beinhaltet. Isolierung bedeutet, dass die Fähigkeit einer Person, einen Raum oder Bereich zu verlassen, eingeschränkt wird.
Sie alle gelten als schädlich, sind aber in den meisten Ländern der Europäischen Region weiterhin legal, jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt. Denn Gesetze können die Zeitspanne begrenzen, in der eine Person eingesperrt oder fixiert werden darf, und die Anwendung von Zwangsmaßnahmen in Situationen zulassen, in denen eine unmittelbare Gefahr für den Nutzer oder andere besteht.
Viele Institutionen nutzen solche Maßnahmen übermäßig. 2018 veröffentlichte WHO/Europa die Ergebnisse einer Bewertung von psychiatrischen Langzeiteinrichtungen in 24 Ländern; dabei stand im Mittelpunkt die Frage, inwieweit die Versorgung in diesen Einrichtungen mit internationalen Menschenrechtsinstrumenten vereinbar ist.
Beunruhigenderweise erfüllten die meisten der 98 Einrichtungen diese Normen bei Weitem nicht. In dem Bericht werden „ungeheuerliche“ Beispiele von Rechtsverletzungen genannt, darunter der ungerechtfertigte Einsatz von Zwangsmaßnahmen.
Im Anschluss an den Bericht begann die WHO, zusammen mit den nationalen Regierungen auf eine Verbesserung der Versorgungsstandards hinzuarbeiten. Daraufhin organisierten Kroatien, Lettland, Serbien und Tschechien Schulungen im Rahmen der Initiative QualityRights der WHO, um eine Veränderung der institutionellen Kultur und Praxis in die Wege zu leiten. Doch während der COVID-19-Pandemie kam diese Arbeit zum Stillstand.
Erst 2024 kam wieder Bewegung in die Sache. Im Rahmen seines von der Europäischen Union finanzierten Projekts „Bewältigung der Herausforderungen im Bereich der psychischen Gesundheit in den EU-Ländern, Island und Norwegen“ begann WHO/Europa einen Grundsatzdialog mit den 29 an dem Projekt beteiligten Ländern. Die Verbesserung der Qualität der psychosozialen Versorgung durch die WHO-Initiative QualityRights stand für viele Länder ganz oben auf der Liste.
Deshalb stellte WHO/Europa Roger Banks und zwei weitere Ausbilder – Danny Angus und Jennifer Kilcoyne – ein, um in vier Ländern (Bulgarien, Litauen, Slowakei und Slowenien) Schulungen abzuhalten. Der Schwerpunkt dieser ersten Schulungen lag auf der Förderung von Alternativen zu Zwangsmaßnahmen wie Isolierung und Fixierung.
„Alle sind sich einig, dass die Menschenrechte geschützt werden müssen, aber in der Praxis haben wir als Fachkräfte in Krankenhäusern das Gefühl, dass wir ohne körperliche Fixierungen unsere Arbeit nicht erledigen können“, erklärt Vesna Švab, Psychiaterin und Professorin an der Universität Ljubljana, die an der Schulung in Slowenien teilnahm.
„Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich wirklich erkannte, dass die Menschen in diesem Raum mit mir darin übereinstimmten, dass etwas verändert werden muss. Es war ein fantastisches Gefühl“, fügte sie hinzu.
„Chronischer Kommunikationsmangel“ und systembedingte Herausforderungen
Zwangsmaßnahmen sind häufig das Ergebnis einer unsachgemäß geführten Kommunikation zwischen Nutzern und Personal. Deshalb liegt ein großer Teil des Schwerpunkts von QualityRights auf der Verbesserung der Kommunikation und der Verbesserung der Fähigkeiten des Personals zur Deeskalation in angespannten Situationen.
„Ich sehe das so, dass Zwangsmaßnahmen die Hilflosigkeit des gesamten Systems und seines Personals widerspiegeln, Menschen in einer Krise zu verstehen“, sagt die Peer-Mitarbeiterin Marina Vidović aus Kroatien in einem vor Kurzem veröffentlichten Video der Feniks Split Association, einer nichtstaatlichen Organisation, die Menschen mit psychischen Erkrankungen unterstützt.
In dem Video bezeichnet Marina die Zwangsmaßnahmen als „chronischen Mangel an Kommunikation“. Für ein Zusammenbrechen der Kommunikation gibt es vielfältige Gründe. Das Personal kann Frustration oder Stress bei den Nutzern als herausfordernd oder aggressiv wahrnehmen, was oft auf die Stigmatisierung zurückzuführen ist. Sie wissen manchmal nicht, was ein Nutzer braucht, wenn er ängstlich oder gestresst ist, oder sie fühlen sich aus Sicherheitsgründen nicht in der Lage, auf seine Wünsche einzugehen.
Mangelnde Fähigkeiten des Personals sind jedoch selten der einzige Grund für die Anwendung von Zwangsmaßnahmen.
„Viele der Organisationen, die wir unterstützt haben, stehen vor denselben systembedingten Herausforderungen, nämlich Personalmangel, ungünstige Arbeitsbedingungen und Schwierigkeiten beim Risiko- und Sicherheitsmanagement, und gleichzeitig Wahrung der Menschenrechte und patientenorientierte Versorgung“, sagt Danny Angus, psychiatrischer Krankenpfleger beim Mersey Care National Health Service (NHS) Foundation Trust in England.
„Trotz dieser Herausforderungen haben wir in England durch das nationale Kulturveränderungsprogramm HOPE(S) bewiesen, dass wir Zwangsmaßnahmen reduzieren und die Erfahrungen der von uns betreuten Menschen verbessern und zu ihrer Genesung beitragen können“, fügt Danny hinzu.
In vielen Ländern der Europäischen Region gibt es zu wenig Personal, wobei das Defizit jedoch schwer abzuschätzen ist. In einer 2023 durchgeführten Erhebung über die Kapazitäten der psychischen Gesundheitssysteme in der EU, Island und Norwegen gab mehr als die Hälfte der Länder (16 von 29) an, dass sie Unterstützung bei Personalplanung und Kapazitätsaufbau im Psychiatriewesen benötigen. Als weiteres großes Hindernis für die Umsetzung der Psychiatriepolitik nannten sie den Personalmangel.
Wenn auf einer überlasteten Station nicht genügend Personal zur Verfügung steht, können Isolierung und Fixierung als das einzige Mittel angesehen werden, um die Sicherheit aller Beteiligten in einer Krisensituation zu gewährleisten. Dies kann sogar dann der Fall sein, wenn die Mitarbeiter wissen, dass Zwangsmaßnahmen schädlich sind, denn sie fühlen sich möglicherweise nicht in der Lage, anders zu handeln. Damit wird die Liste der negativen Auswirkungen von Zwangsmaßnahmen noch um moralische Verletzungen und Desillusionierung der Mitarbeiter erweitert.
„Wir müssen an den Menschen denken, der sich in einer Krise befindet, der Schmerzen hat, der Hilfe sucht und der nicht für den Personalmangel bestraft werden darf“, sagt Marina.
Mentalitäts- und Kulturwandel
Die Förderung einer zwangfreien Versorgung bedeutet, dass die täglichen Praktiken und Sichtweisen des Personals ebenso geändert werden müssen wie die Politik der Institutionen. So können Pflegekräfte, Psychiater und Stationsassistenten darin geschult werden, in angespannten Situationen zu deeskalieren, indem sie sich aktiv die Zeit nehmen, mehr über die Bedürfnisse der Nutzer zu erfahren und zusammen mit ihnen Stress abzubauen. Dies kann durch individuelle Pläne unterstützt werden, die Personal und Nutzer gemeinsam erstellen, damit das Personal weiß, was zu tun bzw. unterlassen ist, wenn die Nutzer sich in einer Stresssituation befinden.
„Den Menschen zu sehen, nicht die Diagnose, und Seite an Seite mit den Menschen zu arbeiten, die wir betreuen – das fördert Mitgefühl, Toleranz und Verständnis. Diese Grundprinzipien schaffen für Leistungsempfänger und -erbringer gleichermaßen ein sichereres Umfeld“, sagt Danny.
Solche individuellen Ansätze sind ungeheuer wichtig, aber sie reichen nicht aus. Solange nicht die Dienstleistungskultur verändert wird und die Ressourcen aufgestockt werden, kann die durch den Wandel bedingte Belastung der einzelnen Mitarbeiter Mitleidsmüdigkeit und eine Rückkehr zu Zwangsmaßnahmen zur Folge haben.
„Wir erleben oft, dass es eine Gruppe von Menschen gibt, die die Dinge verbessern wollen, sich aber in ihrem Wunsch, anders zu arbeiten, nicht unterstützt fühlen. So kommt es, dass sich solche vereinzelten Beispiele geeigneter Praktiken meist nicht auf die Organisation insgesamt oder das Gesundheitssystem ausbreiten“, erklärt Jennifer Kilcoyne, klinische Direktorin beim Mersey Care NHS Foundation Trust und ebenfalls Ausbilderin im Rahmen von QualityRights.
Deshalb gilt es, die Führungskräfte einzubeziehen, von der Krankenhausleitung bis hin zum Gesundheitsministerium.
Abschaffung von Isolierung und Fixierung
Die WHO vertritt den Standpunkt, dass sich die Länder eine Beendigung aller Zwangsmaßnahmen zum Ziel setzen müssen, anstatt nur nach Alternativen zu suchen. Zwangsmaßnahmen sollten nicht einmal als letztes Mittel erwogen werden, da dadurch genau die Kultur entstehen kann, in der Zwangsmaßnahmen die Norm sind und die die WHO mit ihrer Initiative QualityRights ändern will.
Jennifer findet, dass die vereinzelten Beispiele geeigneter Praktiken ein guter Ausgangspunkt sind. Ein kleines, aber motiviertes Team von Mitarbeitern, die sich für bewährte Praktiken einsetzen und Daten über die Auswirkungen solcher Praktiken sammeln, kann eine starke Grundlage für die Veränderung der Arbeitsplatzkultur sein.
Der kulturelle Wandel vollzieht sich langsam, aber es gibt Grund zur Hoffnung. In Slowenien werden derzeit neue Leitlinien für das Personal zum Thema Isolierung und Fixierung erstellt. Litauen hat mit der Durchsetzung neuer Vorschriften für das Personal-Betten-Verhältnis und die Verfügbarkeit von Komfortzimmern begonnen. In der Slowakei wird das Safewards-Modell gefördert. Weitere QualityRights-Schulungen wurden im Rahmen des Projekts „Bewältigung der Herausforderungen im Bereich der psychischen Gesundheit“ organisiert, u. a. im März 2025 in Kroatien.
Insbesondere stellen die Teilnehmer der jüngsten Schulung ein wachsendes Interesse unter politischen Entscheidungsträgern und Führungskräften an der Förderung einer zwangfreien Versorgung fest. Dieses Interesse war vor acht Jahren, als WHO/Europa seine Bewertungen durchführte, noch nicht vorhanden.
Ein solches Interesse deutet auf das Entstehen eines kollektiven Willens zur Veränderung hin, und nur so können diese Veränderungen von Dauer sein, sagt Jennifer. Und zitiert ein bekanntes Sprichwort: „Wenn ihr schnell vorankommen wollt, geht allein. „Wenn ihr weit kommen wollt, geht zusammen.”