WHO
Kostiantyn und Nelia erhalten ihr wöchentliches Lebensmittelpaket von der Tafel in Krakau
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Sicherstellen, dass ukrainische Flüchtlinge mit Behinderungen in Polen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen – Kostiantyns Geschichte

6 December 2022
Mit Einsetzen des Winters steht den Menschen in vielen Teilen der Ukraine eine bitterkalte Jahreszeit ohne Heizung, Strom oder fließendes Wasser bevor. Angesichts der Prognose, dass die Temperaturen in einigen Landesteilen bis auf -20 ˚C fallen könnten, und der Tatsache, dass Tausende Häuser und Gebäude durch den Artilleriebeschuss schwer beschädigt wurden, bleibt für Millionen von Menschen nur die Flucht, um die kommenden Monate zu überleben.

Bei einem kürzlichen Besuch in der Ukraine warnte der WHO-Regionaldirektor für Europa, Dr. Hans Henri P. Kluge, vor den Herausforderungen für die öffentliche Gesundheit: „Wir gehen davon aus, dass 2–3 Millionen zusätzliche Menschen ihre Heimat auf der Suche nach Wärme und Sicherheit verlassen werden. Sie werden mit einzigartigen gesundheitlichen Herausforderungen konfrontiert sein, etwa Atemwegsinfektionen wie COVID-19, Lungenentzündungen und Influenza sowie dem ernsthaften Risiko von Diphtherie- und Masernausbrüchen in unzureichend geimpften Bevölkerungsgruppen.“

Zu Beginn des Krieges schien Abwarten und das Hoffen auf ein baldiges Ende der Feindseligkeiten die einzige Option für viele Familien mit einem stark behinderten Familienmitglied. Die Herausforderungen, die damit einhergehen, einen Angehörigen mit komplexen Bedürfnissen in ein anderes Land zu bringen, können überwältigend sein, insbesondere angesichts von Sprachbarrieren und unbekannten Gesundheitssystemen, ganz zu schweigen von den physischen Faktoren.

Doch zehn lange Monate nach Beginn des Konflikts sind die Resilienz und Bewältigungsmechanismen dieser Familien erschöpft. Auch wenn derzeit weniger ukrainische Flüchtlinge in Polen ankommen, haben viele der aktuell Ankommenden mit schwerwiegenderen funktionellen Beeinträchtigungen zu kämpfen und sehr viel komplexere gesundheitliche Bedürfnisse.

Als der Krieg im Februar ausbrach war die 56-jährige Nelia Sniehurskyi entschlossen zu bleiben. Ihr Sohn Kostiantyn wurde mit dem Edwards-Syndrom geboren, einer genetischen Störung, die eine schwere Behinderung zur Folge hat. Tatsächlich sterben viele Kinder mit diesem Syndrom bereits im Säuglingsalter, doch der 35-jährige Kostiantyn ist einer der wenigen, die das Erwachsenenalter erreichen.

Kostiantyn ist rund um die Uhr auf Pflege angewiesen, sodass Nelia sich permanent um ihn kümmern muss und keiner bezahlten Arbeit nachgehen kann. In ihrem kleinen Dorf in der Nähe von Odessa verfügte die Familie über ein weites Support-Netzwerk und Kostiantyn hatte Anspruch auf Hilfe vom ukrainischen Gesundheitswesen. Obwohl das Leben ihnen einiges abverlangte, war Nelia mit Unterstützung ihres 59-jährigen Ehemanns Leonid und ihrer 21-jährigen Tochter Olena in der Lage, zu Hause für Kostiantyn zu sorgen. 

Obwohl viele andere Familien aus ihrem Dorf schnell das Land verließen als der Artilleriebeschuss begann, war Nelia der Ansicht, dass es zu destabilisierend sei fortzugehen, und so beschloss die Familie zu bleiben. „Wir wollten unser Zuhause nicht verlassen, doch unser Dorf war unter ständigem Beschuss. Wir haben uns fast drei Monate lang im Keller versteckt, während draußen die Sirenen heulten und die Bomben fielen, ohne Strom oder fließendes Wasser. Dies wirkte sich zunehmend auf die Gesundheit meiner Familie aus, einige unserer Nachbarn wurden getötet, und wir konnten einfach nicht weiter an einem solch gefährlichen Ort leben.“ 

Da ein Ende des Krieges nicht abzusehen ist und sich ihr Gesundheitszustand infolge des Aufenthalts in ihrem Unterschlupf im feuchten Keller zunehmend verschlechterte, beschloss die Familie, dass es nicht länger möglich sei, in ihrem Dorf zu bleiben, und dass es wohl ihre beste Option sei, in eines der Nachbarländer zu fliehen. Bei ihrer Ankunft in Krakau (Polen) war die Familie damit konfrontiert, ihre unmittelbaren Bedürfnisse in einem fremden Land erfüllen zu müssen, in dem sie die Sprache nicht sprechen.

Nachdem die Familie zusammen in Einrichtungen des Aufnahmelandes untergebracht worden war, mussten sie sich darum bemühen, über die Runden zu kommen. Olena war in der Lage, Arbeit als Freiberuflerin zu finden, doch ohne feste Anstellung leiden sie unter ständigen Geldsorgen. Kostiantyns Behinderung bedeutet, dass die Familie Anspruch auf Lebensmittelpakete von der gemeinnützigen Tafel hat. Doch mit dem zunehmenden wirtschaftlichen Druck in Polen sind die Spenden an private Tafeln zurückgegangen, was bedeutet, dass diese Art der Unterstützung nicht länger garantiert ist. 

Darüber hinaus muss Nelia sich mit dem polnischen Gesundheitssystem vertraut machen, um die notwendige Versorgung für Kostiantyn zu organisieren. „Alles ist neu hier; zu Beginn wusste ich nicht, wie ich Kostiantyn als behindert registrieren konnte. Meine Tochter sah im Bahnhof ein Plakat für ukrainische Flüchtlinge, auf dem erläutert wurde, wie man Zugang zur Gesundheitsversorgung in Polen erhalten kann, doch als ich zu einem Arzt ging, fiel es mir schwer Kostiantyns gesundheitliche Probleme zu beschreiben und zu verstehen, was der Arzt auf Polnisch sagte.“ 

Das WHO-Länderbüro in Polen hilft Flüchtlingen wie Nelia und ihrer Familie dabei, das Gesundheitssystem zu navigieren. Nachdem sie einen russischsprachigen Arzt gefunden hatten, war ein Mitglied des WHO-Teams in der Lage, Nelia und Kostiantyn zu einem örtlichen Krankenhaus zu begleiten und sicherzustellen, dass er Zugang zu einer fachgerechten Versorgung erhielt.

Das Länderbüro in Polen arbeitet zudem eng mit der Regierung und anderen Gesundheitspartnern zusammen, um Gesundheitsleistungen für Notfälle anzubieten, und hat Plakate auf Ukrainisch und in anderen Sprachen verteilt, die Orientierungshilfe darüber bieten, wie man Zugang zu Behandlungen und Arzneimitteln erhält, sowie Informationen über zusätzliche Angebote wie psychische Unterstützung und COVID-19-Impfungen, die infolge des Krieges beeinträchtigt wurden. 

Die für Kostiantyn und andere Flüchtlinge mit Behinderungen angebotenen Leistungen sind Teil der Anstrengungen der polnischen Regierung, um sicherzustellen, dass sämtliche Barrieren innerhalb des Gesundheitssystems und der Gesellschaft für Menschen mit Behinderungen beseitigt sind. Wie auch aufseiten anderer Regierungen in der Europäischen Region der WHO bemüht man sich in Polen mit dem höchsten Maß an politischem Engagement darum, behinderungsgerechte Gesundheitssysteme zu stärken und so die Gesundheit und das Wohlbefinden von Menschen mit Behinderungen aller Altersgruppen und aus den unterschiedlichsten Umfeldern zu schützen und zu fördern. 

Sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zur nötigen Versorgung und Pflege erhalten, steht im Zentrum des ersten „Handlungsrahmens der WHO zur Verwirklichung eines Höchstmaßes an Gesundheit für Menschen mit Behinderungen in der Europäischen Region“. Der Handlungsrahmen, der von allen 53 Mitgliedstaaten in der Europäischen Region – welche Europa und Zentralasien umfasst – angenommen wurde, legt dar, wie die Länder behinderungsgerechte Gesundheitssysteme und Gesellschaften aufbauen können. 

Dr. Paloma Cuchί, Repräsentantin der WHO in Polen, fasst zusammen, warum die Programme und Angebote für Flüchtlinge mit Behinderungen so wichtig sind: „Die Sicherung von Gesundheit und Wohlbefinden aller Menschen steht im Mittelpunkt des Auftrags der WHO. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen besagt eindeutig, dass Menschen mit Behinderungen über die gleichen Rechte wie alle anderen Menschen verfügen. Die Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Gesundheitsversorgung bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu inklusiven Leistungen erhalten, was dazu beiträgt, ihre Isolation von der Gesellschaft zu verhindern. Wir als WHO haben den Auftrag, die Gesundheit und das Wohlbefinden aller Menschen zu unterstützen.“