WHO/Uugangerel Davaasuren
Yongjie Yon
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Gesichter der WHO – Yongjie Yon

8 August 2022
Der Kanadier Yongjie Yon hat eine Leidenschaft dafür, Dinge zu beleuchten, die nur allzu oft übersehen werden. Diese Leidenschaft hat ihn auf eine etwas ungewöhnliche Laufbahn geführt: von der angewandten Psychologie zur Gerontologie, von den Vereinigten Staaten nach Brasilien und in die Schweiz, mit einem berufsbedingten Zwischenstopp in einer Haftanstalt, und schließlich nach Kopenhagen. Als Fachreferent in dem Referat Politikgestaltung und -steuerung für Gesundheit im gesamten Lebensverlauf kann er seine bevorzugten Tätigkeitsfelder miteinander kombinieren: Altern und Gesundheit, mit einer Prise Gewaltprävention.

Bevor wir auf diese interessante Kombination zu sprechen kommen: Was genau ist Ihr beruflicher Hintergrund?

Ich habe Gerontologie studiert, also die Wissenschaft des Alterns. Gegen Ende meines Bachelor-Studiums in angewandter Psychologie und meines Forschungsprogramms hatte ich diese endlose Forschungsarbeit ein bisschen satt. Ich sah das für den Abschluss erforderliche Praktikum als eine Gelegenheit, Forschung konkret anzuwenden. Es ergab sich zufällig so, dass ich dieses Praktikum im Strafvollzug absolvieren konnte.

Das war eine unerwartete Wendung. Wie sah Ihre Arbeit dort aus?

Ich war in einem regionalen Bewertungszentrum als Bewährungshelfer tätig und prüfte all die Akten, einschließlich der Strafsachen und der Urteile. Außerdem führte ich Gespräche mit den Häftlingen. Dann entwickelte ich für jeden einzelnen Häftling einen Lehrplan zur Unterstützung und zum Erwerb von Fähigkeiten, in der Hoffnung, ihnen eine Rückkehr in ihre Gemeinschaften als produktive Mitglieder der Gesellschaft zu ermöglichen. 

Wie sind Sie zur WHO gekommen?

Nachdem ich forensische Psychologie in Betracht gezogen hatte, führte mich mein Interesse an „vergessenen“ Themen zur Misshandlung älterer Menschen und der diesbezüglich von mir wahrgenommenen Kluft: denn diese Thematik findet viel zu wenig Beachtung, wenn man bedenkt, wie heute in vielen Teilen der Welt die Bevölkerungsalterung voranschreitet. 2015 absolvierte ich als Doktorand ein Praktikum bei der WHO in Genf. Das Praktikum erstreckte sich inhaltlich auf zwei Programme: Altern und Gewaltprävention. Ich unternahm eine systematische Untersuchung und Metaanalyse sämtlicher Prävalenzstudien zum Thema Misshandlung älterer Menschen. Die Ergebnisse waren alarmierend: Jede sechste ältere Person hatte in den vorausgegangenen zwölf Monaten Misshandlung erlebt, was weltweit einer Zahl von 141 Millionen Senioren entspricht. Ein anderes alarmierendes Ergebnis war das Ausmaß der Misshandlung in Einrichtungen der Langzeitpflege: 65% des Pflegepersonals gaben an, Pflegebedürftige misshandelt zu haben. Das sind zwei Drittel der Beschäftigten! Ich lege großen Wert darauf, Schuldzuweisungen zu vermeiden: zu den Ursachen gehören oft Personalmangel, fehlende Ressourcen, Schulungen und Aufmerksamkeit, was zu einer übermäßigen Belastung für die Beschäftigten führt. Die Ergebnisse meiner Doktorarbeit wurden schließlich in The Lancet veröffentlicht. Am Ende meines Praktikums erhielt ich einen Anruf vom WHO-Regionalbüro für Europa in Kopenhagen, wo sie eine Stelle besetzen wollten, die zu 50% Altern und zu 50% Gewalt- und Verletzungsprävention beinhaltet – genau den Bereichen, in denen ich während meines Praktikums bei der WHO gearbeitet hatte. Es passte perfekt. In dieser Woche bin ich seit genau sechs Jahren bei der WHO. 

Glückwunsch! Wie wirkt sich Ihre Arbeit auf andere aus?

Vor meiner Tätigkeit für die WHO arbeitete ich für die kanadische Regierung im Bereich Seniorenpolitik, u. a. an einer nationalen Initiative zur Sensibilisierung für die Problematik der Misshandlung älterer Menschen. Darüber hinaus habe ich auch zur Ausarbeitung von Gesetzen zur Erhöhung des Rentenalters und zur Einführung eines Nationalen Seniorentages in Kanada beigetragen. Meine Doktorarbeit und mein Praktikum bei der WHO standen im Zeichen der Sensibilisierung für das Altern und die Misshandlung älterer Menschen, und die WHO intensiviert nun ihre Bemühungen auf diesem Gebiet im Rahmen der Dekade des gesunden Alterns der Vereinten Nationen. Auf einer vor Kurzem abgehaltenen Ministerkonferenz zum Thema Altern in Rom haben wir den Bericht mit dem Titel „Bekämpfung der Misshandlung älterer Menschen: fünf Prioritäten für die Dekade des gesunden Alterns (2021–2030) der Vereinten Nationen“ veröffentlicht. Doch jenseits der Berichte und Zahlen geht es doch letztendlich um die Opfer. Eigentlich ist mir das Wort „Überlebende“ lieber – weil sie den Mut haben, ihre Geschichte zu erzählen. Die Täter können Familienmitglieder sein, und viele Menschen wollen nicht ihre eigenen Kinder oder Enkel anzeigen. Von all den Geschichten, die ich während meiner Forschung gelesen habe, werde ich mich immer an diese eine Überlebende erinnern, die ihren eigenen Misshandlungsfall folgendermaßen den Behörden meldete: „Es [sein eigenes Verhalten] tut meinem Sohn auch weh, aber er tut mir auch leid“. 

Sie müssen so viele herzzerreißende Geschichten gehört haben. Wie sorgen Sie dafür, dass das nicht Ihr eigenes Wohlbefinden beeinträchtigt?

Ich habe das Gefühl, dass meine Arbeit ein Weg ist, Veränderungen zum Besseren herbeizuführen. Ich bin praktizierender Buddhist, und der Buddhismus lehrt uns, dass letztendlich jeder von uns die Macht hat, die Dinge zu verändern, anstatt die Verantwortung auf andere zu schieben. Das hat eine ermächtigende Wirkung. Ich gehöre einer großen buddhistischen Gemeinschaft namens Soka Gakkai an, für die ich als Jugendführer tätig bin. Dazu gehören regelmäßige Hausbesuche und junge Menschen in Dänemark kennenzulernen. Ich erinnere mich an diesen jungen Mann: als ich ihn vor sechs Jahren kennenlernte, hatte er eine Menge persönliche Probleme und war so schüchtern, dass er einem nicht einmal in die Augen schauen konnte. Heute geht es ihm in der Schule so gut, und er verfolgt aktiv seinen Traum, Lehrer zu werden, damit er anderen helfen kann. Ein buddhistischer Spruch lautet: „Wer eine Laterne für andere anzündet, erhellt seinen eigenen Weg“. 

Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

Ein Buch namens „Neue menschliche Revolution“. Daran lese ich bereits seit 15 Jahren.

Moment, wie bitte?

Nun ja, es besteht aus 30 Bänden, und ich habe gerade Band 24 fertig gelesen. Der Autor ist mein Mentor im Leben, Dr. Daisaku Ikeda, Präsident von Soka Gakkai International. Die menschliche Revolution ist eine Revolution in unserem eigenen Handeln und Verhalten: wenn wir uns ändern, verändert sich die Welt. Es geht dabei darum, gezielt Verhaltensweisen zu fördern, die in Mitgefühl begründet sind. Die „Neue menschliche Revolution“ erzählt die Geschichte eines fiktiven Mannes namens Shin’ichi Yamamoto und wie er eine globale Bewegung für Frieden, Kultur und Bildung aufbaut. In dieser Geschichte trifft er Menschen aus aller Welt: Musiker, Politiker, Wissenschaftler, gewöhnliche Menschen; und es geht um die Dialoge mit ihnen zu Fragen der Philosophie, Wissenschaft, Bildung, Musik und Führung. Es geht um das Leben, um alles Erdenkliche. Ich habe so lange gebraucht, das zu lesen, weil darin so viele Juwelen und Lebensweisheiten enthalten sind. Es heißt, dass die „Neue menschliche Revolution“ nicht mit dem 30. Band endet, sondern dass der 31. Band unsere eigene menschliche Revolution ist. Also, wie steuert man seine eigene Reise? 

Jetzt wissen wir, was wir in den nächsten 15 Jahren tun werden. Und Ihr Filmtipp?

Vor Kurzem habe ich im Flieger einen älteren Film namens „Schweinchen Wilbur und seine Freunde“ gesehen und fand ihn einfach toll. Der Film basiert auf einem gleichnamigen Buch. Es geht darin um eine Spinne namens Charlotte, die einem Schweinchen hilft, das zu Weihnachten geschlachtet werden soll. Indem sie verschiedene Wörter in ihr Netz schreibt, lockt sie Menschen aus der Ferne an, die diese „göttlichen Offenbarungen“ sehen wollen, und am Ende wird das Schweinchen Wilbur gerettet. Die Geschichte zeigt, dass, egal, wie klein du bist, du etwas verändern und jemandem das Leben retten kannst.


Abteilung Gesundheitspolitik und Gesundheitssysteme der Länder (CPS) – Referat Politikgestaltung und -steuerung für Gesundheit im gesamten Lebensverlauf (PGH)

  • Zahl der Mitarbeiter: 8
  • Das Referat PGH unterstützt die Länder bei der Entwicklung solider und evidenzgeleiteter Konzepte in der Gesundheitspolitik, die durch belastbare Steuerungsmechanismen untermauert sind und alle Phasen des menschlichen Lebens umfassen. Durch Zusammenarbeit mit maßgeblichen Akteuren und enge Kontakte mit sämtlichen Programmen beim Regionalbüro und in den Länderbüros der WHO leistet PGH fachliche Führungsarbeit für starke, wirksame und bedarfsgerechte Konzepte durch Wissensaustausch und -umsetzung sowie gezielten Kapazitätsaufbau.
  • Das Referat PGH hat vier zentrale Arbeitsbereiche: Unterstützung der Länder bei der Entwicklung und Umsetzung gesundheitspolitischer Konzepte; Stärkung der Steuerung der Gesundheitssysteme; Stärkung evidenzgeleiteter Entscheidungsprozesse; und gesundes Altern im gesamten Lebensverlauf.