Elena Tsoy war kurz davor, Jura statt Medizin zu studieren, doch nicht zuletzt dank der Ermutigung ihrer Mutter entschied sie sich für eine medizinische Laufbahn. Heute arbeitet sie im WHO-Länderbüro in Usbekistan als national angeworbene Fachreferentin und unterstützt die Regierung Usbekistans bei ihrer ehrgeizigen Reform des Gesundheitssystems. In ihrer Freizeit unternimmt sie gerne abendliche Spaziergänge mit ihrer Familie, geht schwimmen oder besucht Tanzkurse für traditionelle usbekische Tänze. In diesem Interview spricht sie über ihre Arbeit, die Notwendigkeit von Geduld und den Schmetterlingseffekt.
Erzählen Sie uns etwas über Ihren Werdegang.
Ich bin von Beruf Ärztin. Tatsächlich sollte ich mich wohl bei meiner Mutter dafür bedanken – sie war diejenige, die mich wiederholt darauf hingewiesen hat, dass die Medizin ein großartiger Berufszweig ist und sehr gut geeignet für jemanden mit logischem Denkvermögen und meinen Charaktereigenschaften. Obwohl es immer mein Traum war, Anwältin zu werden, habe ich Medizin studiert und mich dann nach meinem Abschluss auf die Kinderheilkunde spezialisiert. Doch nachdem ich während meiner Facharztausbildung auf einer Station für Neonatologie und ernsthafte Pathologien gearbeitet und Neugeborene mit schweren Erkrankungen gesehen hatte, habe ich realisiert, dass es für mich unerträglich wäre, das Leid und den Tod von Neugeborenen mitzuerleben. Ich musste einen Weg finden, diesen Kindern aus einem anderen Blickwinkel heraus zu helfen. Daher beschloss ich, eine zusätzliche Ausbildung zur Allgemeinmedizinerin zu absolvieren.
Wie sind Sie zur WHO gekommen?
Einer meiner Freunde arbeitete bei der WHO und ermutigte mich, mich auf eine freie Stelle zu bewerben, und das habe ich dann auch getan. Mir wurde die Stelle angeboten und ich trat 2009 die Position als national angeworbene Fachreferentin für nichtübertragbare Krankheiten an. Es war immer mein Traum, für die Vereinten Nationen zu arbeiten, für die WHO – es ist eine solch einzigartige Gelegenheit, mit hochrangigen Experten zusammenzuarbeiten und ihre Erfahrungen und Empfehlungen auf Länderebene in die Praxis umzusetzen. Wo ich als Ärztin ein oder zwei Menschenleben retten kann, kann ich diesen Anteil durch meine Arbeit für die WHO um ein Vielfaches erhöhen.
Was genau umfasst Ihre Arbeit als Fachreferentin?
Einfach ausgedrückt arbeiten wir mit der Regierung und mit Fachspezialisten zusammen, um das gesamte Gesundheitssystem umzugestalten und zu verbessern. Als Fachreferentin für die Stärkung von Gesundheitssystemen unterstütze ich die Regierung Usbekistans bei der Gestaltung von Gesundheitsstrategien und der Einführung von vorbildlichen Praktiken, Protokollen und Standards der WHO. Darüber hinaus arbeite ich mit der Regierung an der Überarbeitung der medizinischen Ausbildung und der Personalplanung im Gesundheitswesen. Es ist nicht immer einfach, aber es ist äußerst befriedigend, sich für die Bedürfnisse der Menschen und für mehr Gesundheit für alle einzusetzen. Im Jahr 2020 wurde mir vom usbekischen Gesundheitsministerium der Preis für herausragende Leistungen im Gesundheitsbereich verliehen – in Anerkennung sowohl meines persönlichen Beitrags als auch des Beitrags meiner Fachkollegen bei der WHO zur Verbesserung der Gesundheit der usbekischen Bevölkerung. Doch man könnte meine Arbeit auch mit den Worten meines jüngeren Sohnes zusammenfassen, der meine Arbeit im Alter von sechs Jahren folgendermaßen beschrieb: „Meine Mama erklärt anderen, wie man kranke Menschen behandelt und wie man gesund bleibt.“
Das ist brillant. Können Sie uns ein Beispiel nennen, wie sich Ihre Arbeit auf andere auswirkt?
Veränderungen passieren nicht über Nacht – man braucht Geduld. Ein Beispiel hierfür ist etwa ein von mir geleitetes Schulungsprogramm für die Krankenhausversorgung von Kindern. Ein Aspekt der Schulung war die Einführung von Sauerstoff in der Aufnahmestation von Krankenhäusern im Rahmen der Notfallversorgung, damit Patienten bei Bedarf umgehend mit Sauerstoff versorgt werden können und kostbare Sekunden gewonnen werden können. Wir haben sowohl die Distanz als auch die Zeit gemessen, um abzuschätzen, wie viele Sekunden oder Minuten es dauern würde, um in einer dringlichen Situation einen Patienten ab dem Moment, in dem er im Krankenhaus eintrifft, mit Sauerstoff zu versorgen und zu behandeln. Nach der Schulung und meinen Empfehlungen sind wir in die Krankenhäuser zurückgekehrt, um uns ein Bild von den Ergebnissen zu machen, und stellten fest, dass sich nichts geändert hatte. Wir mussten von vorne anfangen. Ich erinnere mich daran, dass ich mit meiner Mutter darüber sprach, dass mein Team und ich wirklich unser Herzblut in diese Schulungen gesteckt hatten. Ich fühlte mich schrecklich, doch meine weise Mutter sagte nur: „Warte mal. Hat sich nichts geändert oder hat sich etwas geändert?“ Ich antwortete: „Naja, sie konnten das Leben eines Kindes in der Aufnahmestation retten, nachdem sie das Kind mit Sauerstoff versorgt hatten.“ Meine Mutter sah mich an und sagte: „Wenn dein Programm dazu beigetragen hat, das Leben auch nur eines Kindes zu retten, dann ist das doch ein gewaltiger Fortschritt. Das ist ein Leben, das gerettet wurde. Das ist doch etwas.“ Was ich daraus gelernt habe, ist, dass Fortschritte nicht immer so schnell erzielt werden, wie man das gerne möchte, aber dass selbst kleine Veränderungen bereits Leben retten können. Und diese eine kleine Veränderung kann vielleicht einen Schmetterlingseffekt erzeugen. Mittlerweile wird das Programm landesweit umgesetzt, was bedeutet, dass unsere Arbeit tatsächlich etwas bewirkt.
Wie halten Sie sich selbst gesund?
Während der COVID-19-Pandemie haben wir in meiner Familie eine nette Gewohnheit entwickelt – jeden Abend vor dem Schlafengehen machen wir einen Spaziergang. Wir haben oft neue Teile der Stadt erkundet und dabei einige Teile entdeckt, denen wir zuvor nie groß Beachtung geschenkt hatten. Ich bin jeden Tag fast 20 000 Schritte gegangen. Diese Momente zusammen waren für mich sehr kostbar. Wir sind in der Vergangenheit auch regelmäßig schwimmen gegangen, und es war wirklich schön, nach den Lockdowns wieder schwimmen gehen zu können, wobei wir uns natürlich jeweils an die aktuellen Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und der Gesellschaft gehalten haben. Mein jüngster Sohn nimmt regelmäßig Schwimmunterricht und er ist wirklich ein sehr guter Schwimmer. Er hat in seinem ersten Wettbewerb gleich eine Medaille gewonnen. Ich tanze auch sehr gerne – ich besuche einen Kurs für traditionelle usbekische Tänze. In den verschiedenen Teilen Usbekistans gibt es eine sehr vielfältige Kultur. Jede Region hat ihre eigene traditionelle Musik, ihre eigenen Tänze und ihre eigenen Kostüme.
Welch ein perfekter Bogen zu unserer letzten Frage. Haben Sie ein Buch, einen Musiktitel oder einen Film, das bzw. den Sie besonders empfehlen können?
Die wenige Freizeit, die ich habe, verbringe ich lieber mit meiner Familie als mit Lesen. Ich muss sowieso schon so viel lesen. Bei Musik mag ich alles mögliche. Ich würde daher sagen, alle Werke von Tschaikowski, aber auch Bryan Adams und die Scorpions (sie lacht). Mein Film-Tipp wäre wohl „Ziemlich beste Freunde“ mit Omar Sy und François Cluzet. Der Film bringt mich zum Lachen und er zeigt den Wert von Freundschaft und inwiefern ein anderer Mensch dein Leben auf ganz unerwartete Weise bereichern kann.
WHO-Länderbüro in Usbekistan
- Zahl der Mitarbeiter: 20
- In Betrieb seit (Jahr): 1993
- Wichtigste Schwerpunktbereiche: Infektionskrankheiten; Stärkung der Gesundheitssysteme zur Verwirklichung einer allgemeinen Gesundheitsversorgung und zur Förderung von Gesundheitsreformen; Prävention und Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten (Tabak- und Alkoholkonsum, Ernährung und Bewegung, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs); psychische Gesundheit, Tuberkulose/HIV/Hepatitis; impfpräventable Krankheiten, internationale Gesundheitsvorschriften und gesundheitliche Notlagen, antimikrobielle Resistenzen; Angebote zum Schutz der Gesundheit von Müttern, Neugeborenen, Kindern und Jugendlichen sowie der reproduktiven Gesundheit der Bevölkerung.