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Svetlana is struggling to process her experiences.
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Svetlanas Geschichte – „Es gibt dort nichts mehr für mich, für das es sich zurückzukehren lohnt“

21 February 2023

Svetlana stammt aus dem südlichen Teil der Ukraine, nahe der Hafenstadt Mykolajiw am Schwarzen Meer. Drei Tage, nachdem der Krieg begonnen hatte, wurde ihr Dorf eingenommen. Svetlana verbrachte mehrere Monate in ihrem besetzten Heimatdorf, bevor ihr Haus im Juli bombardiert wurde und sie in die Republik Moldau flüchtete. Um ihre Erfahrungen besser verarbeiten zu können, konsultiert Svetlana einen Psychologen. 

„Ich stamme aus einem Dorf namens Burhnovka, in der Nähe von Mykolajiw. Dort bin ich aufgewachsen, und dort leben auch mein Vater und meine Geschwister. Dort habe ich meine Wurzeln. Doch ich habe keinen Grund, dorthin zurückzukehren. Mein Leben dort ist beendet. Ich spüre einen tiefen Schmerz in meiner Seele.“ 

Die 50-jährige Svetlana hatte sich auf ihre Jahre in der zweiten Lebenshälfte gefreut. Die vierfache Mutter hatte ein großes Haus mit einem wunderschönen Garten. Auch wenn sie nicht reich war, konnte sie aufgrund ihrer Kenntnis des Landes und ihren traditionellen Fähigkeiten Blumen, Obst und Gemüse züchten und ein wenig Geld mit deren Verkauf verdienen. 

Ihre erwachsenen Kinder lebten in der Stadt und besuchten sie oft mit den Enkelkindern. Sie konnte ihren betagten Vater unterstützen und brachte ihm dreimal am Tag frisch zubereitetes Essen vorbei. Obwohl sie allein lebte, war Svetlana nie einsam. Sie kannte all ihre Nachbarn und ihr 18 Jahre alter Hund leistete ihr Gesellschaft. 

„Am 23. Februar 2022 saß ich in meinem Haus und fühlte eine innere Zufriedenheit darüber, wie hübsch ich mein Haus dekoriert und eingerichtet hatte. Ich hatte das Haus und den Garten so gestaltet, dass ich aus jedem Fenster Blumen blühen sehen konnte, und das hat mich mit Freude erfüllt, diese Schönheit um mich herum zu sehen. 

Wir hatten Gerüchte über den Krieg gehört, aber wir dachten, dass wir in unserem Dorf sicher seien, da es keine große Bedeutung hat. Mein Sohn besuchte mich und sagte, dass er bei mir bleiben würde, falls etwas passieren sollte. Ich glaubte, dass meine Kinder immer nach Hause kommen konnten, wenn das Leben in der Stadt zu schwierig werden würde. Das Dorf war ein Ort der Sicherheit, und außerdem konnte ich selbst Nahrungsmittel anbauen – wir hätten also genug zu essen. 

Doch am 24. Februar änderte sich alles. Mein wunderschönes Haus wurde durch Granatsplitter einer Bombe beschädigt. Meine Tochter rief mich an und forderte mich auf, umgehend das Haus zu verlassen. Sie sagte, ich sei nicht in der Lage, den Schmerz zu ertragen, wenn ich zusehen müsste, wie das Haus, das ich so sehr liebte, zerstört würde. 

Die Soldaten trafen am 27. Februar ein. Unser Dorf ist so klein, dass hier nicht viele Menschen leben. Es kamen so viele Soldaten, dass wir uns quasi überrannt fühlten. 

Von dem Moment an veränderte sich alles im Dorf. Die Soldaten bedrohten uns, wir konnten einander nicht länger anrufen. Wir taten alles, um keine Aufmerksamkeit auf uns zu lenken – wir krochen auf Händen und Knien durch unsere Höfe, damit sie uns nicht sahen. Manchmal kamen sie auf der Suche nach Kühen und Vieh, die sie stehlen konnten, in unsere Höfe. Wir mussten jegliche Zeichen der Loyalität zu unserem Land – Flagge oder andere Zeichen des Nationalstolzes – verstecken oder zerstören, damit sie von den Soldaten nicht gefunden wurden. 

Ich war entschlossen, nichts von den Soldaten anzunehmen. Sie versuchten immer wieder, uns mit Lebensmittelpaketen zu versorgen. Einmal sagte ein Soldat mir, dass ich das Lebensmittelpaket annehmen solle, da ich sonst Gefahr liefe zu verhungern. Ich erklärte ihm auf höfliche Weise, dass ich über genug Lebensmittel verfügte und das Paket nicht annehmen wollte. Er sagte daraufhin, dass er mir in den Kopf schießen würde, wenn ich das Paket nicht annähme. 

Wir hatten keinen Strom und die Telefone funktionierten nicht, daher war es schwierig, mit meinen Verwandten Kontakt aufzunehmen und sie wissen zu lassen, dass es mir gut ging. Ich wusste, dass sich meine Töchter Sorgen um mich und unsere anderen Verwandten im Dorf machten, doch ich konnte einfach meinen Vater nicht allein lassen. 

Jede Nacht nahmen wir unsere Habseligkeiten mit in den Luftschutzbunker, um dort zu schlafen. Aber es war sehr schwierig, dort unten wirklich zur Ruhe zu kommen. Morgens früh gingen wir zurück nach Hause, um dort ein wenig zu schlafen. Am Morgen des 25. Juli kehrten mein Sohn und ich in mein Haus zurück. Wir hätten eigentlich in einem Raum ohne Fenster schlafen sollen, aber ich war aufgrund des Schlafmangels so erschöpft, dass ich einfach nur in meinem eigenen bequemen Bett schlafen wollte. 

Plötzlich fuhr ich aus dem Schlaf auf und sah, dass der Himmel auf mich herabfiel. Alle Fenster waren zersprungen, mein wunderschönes Haus und meine Möbel waren zerstört. Mein Hund, der 18 Jahre lang mein treuer Gefährte gewesen war, war tot. Ich glaube, er hat sich selbst geopfert, um mich und meinen Sohn zu retten. Ich weiß noch immer nicht, wie ich überlebt habe. 

Von dem Moment an veränderte sich alles. Ich konnte nicht länger auf meinem Grundstück oder in den Trümmern meines Hauses bleiben. Sobald ich auch nur in die Nähe kam, hatte ich sofort das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ich wusste, dass ich mein Dorf verlassen und zu meinen Töchtern gehen musste. 

Ich ging zum Haus meines Vaters und flehte ihn an, mit mir zu kommen. Ich fiel sogar vor ihm auf die Knie. Aber er war entschlossen zu bleiben. Er sagte mir, dass ich gehen müsse, um mich selbst zu retten, aber dass er in seinem Heimatland sterben wolle. Ich weiß nicht, ob ich ihn jemals wiedersehen werde. Ich habe das Gefühl, dass ich gezwungen war, zwischen meinem Vater und meinen Kindern zu wählen. Niemand sollte jemals vor dieser Wahl stehen müssen. 

Der Weg in die Republik Moldau war extrem beschwerlich. Mein Sohn und ich mussten etwa 100 Kontrollpunkte passieren, die von den Besatzungsmächten eingerichtet worden waren. Wir hatten nicht genug Geld, um mit dem Bus nach Mykolajiw zu gelangen. Schließlich erreichte ich meine jüngere Tochter, die einen Transport in die Republik Moldau arrangiert hatte. 

Endlich bin ich mit meinen Töchtern und Enkeln wiedervereint. Ich bin so dankbar zu wissen, dass sie in Sicherheit sind und ich mir nicht länger Sorgen um sie machen muss. Vor ungefähr zwei Monaten wurde mein Dorf befreit und wir erhielten die Nachricht, dass mein Vater am Leben ist. Das ist für mich eine enorme Erleichterung. 

Ich habe seit Beginn des Krieges jeden Tag geweint. Aber hier in der Republik Moldau komme ich langsam wieder zur Ruhe. Ich besuche einen Psychologen, aber trotzdem weine ich nach wie vor jeden Tag. 

Ich habe mittlerweile Arbeit als Putzfrau gefunden. Ich verfüge hier über alles Notwendige. Die Menschen sind freundlich. Ich würde gerne hier bleiben. Ich weiß, dass meine Töchter irgendwann in die Ukraine zurückkehren werden. Doch ich möchte gerne hier bleiben. Es gibt dort nichts mehr für mich, für das es sich zurückzukehren lohnt. Mein Leben hat sich für immer verändert.“