Ihren Ruhestand hatte sich die 62-jährige Olga Dziuba anders vorgestellt. Die renommierte Städtebauarchitektin aus der südukrainischen Hafenstadt Odessa war erst kürzlich in den Ruhestand getreten und hatte sich darauf gefreut, ihren Lebensabend in ihrem schönen Haus zu verbringen. Ihre Tochter, eine Ärztin, lebte mit ihrem Mann und ihren Kindern ganz in der Nähe, und die erweiterte Familie traf sich oft zu gemeinsamen Mahlzeiten und Veranstaltungen. Ihr jüngster Enkel, Gacha, war als Frühchen zur Welt gekommen und hatte unterentwickelte Lungen. Daher brauchte er regelmäßige medizinische Versorgung, doch er machte gute Fortschritte. Das Leben war schön.
Dieses friedliche Leben wurde zerrissen, als am 24. Februar 2022 in ihrem Heimatland Krieg ausbrach. Odessa, zuvor ein Urlaubsort am Schwarzen Meer, wurde plötzlich zum Kriegsgebiet, das Tag und Nacht von Luftangriffen getroffen wurde.
Olgas Tochter, eine Anästhesistin, wusste, dass ihre Fähigkeiten in der Ukraine für die Behandlung von Patienten, die operiert werden mussten, unerlässlich waren. Es wurde das Kriegsrecht ausgerufen, das alle Männer im kampffähigen Alter zwang, im Land zu bleiben, darunter auch den Vater der Kinder.
Doch da ihre Heimatstadt regelmäßig unter Beschuss war, beschloss die Familie, dass es für Olga und die Kinder am sichersten sei, die Ukraine für die Dauer des Krieges zu verlassen. Schweren Herzens verabschiedeten sie sich, und die Familie wurde auseinandergerissen.
Ankunft in Ungarn
Olga und ihre Enkel, Konstantin, jetzt 16, und Gacha, jetzt 6, kamen im März 2022 nach Budapest. Da die Familie kein Ungarisch sprach, bestand ihre erste Priorität darin, sich zunächst um eine Unterkunft, eine Schulausbildung für die Kinder und eine medizinische Versorgung für Gachas anhaltende Lungenprobleme zu kümmern. Seit Beginn des Krieges hat die ungarische Regierung eine Politik der offenen Tür verfolgt und sich nachdrücklich dafür eingesetzt, dass Flüchtlinge aus der Ukraine den gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung erhalten wie ungarische Bürger. Dank der in ukrainischer und russischer Sprache verfügbaren Gesundheitsinformationen konnte Olga verstehen, wie man Zugang zur Gesundheitsversorgung erhält, und Gacha konnte seine Behandlung kostenlos fortsetzen.
Olga fand eine winzige Wohnung. Im Gegensatz zu ihrem geräumigen Haus in Odessa misst das Wohnzimmer nur 12 Quadratmeter, und jeder freie Zentimeter wird voll ausgenutzt. Gacha hat einen Bereich, in dem er bunte Fische in einem Aquarium hält, Olga hat ihr Bett und einen Schrank, und Konstantin hat seinen Schreibtisch. Trotz der beengten Verhältnisse wissen sie, dass ihre Situation viel besser ist als die ihrer Familie, die in der Ukraine geblieben ist.
Anpassung an das Leben als Flüchtling
Gacha besuchte einen ungarischen Kindergarten, lernte schnell die Sprache und fand bald Freunde. Er wird wegen seiner Lungenprobleme weiterhin gut versorgt. Aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme musste sich Gacha mehr anstrengen als seine Altersgenossen, obwohl er immer sportlich aktiv war. Diese Entschlossenheit, erfolgreich zu sein, hat ihn vorangebracht, und er nimmt jetzt an Schwimmwettkämpfen teil. Er ist Teil eines Schwimmteams und sein Trainer ist ein Mentor, aber auch wie ein Vater für ihn. „Gacha erhält hier in Ungarn alles, was er braucht. Er hat eine Gesundheitsversorgung, er besucht eine sehr gute Schule und er treibt Sport. Das alles wird kostenlos angeboten, was für uns sehr hilfreich ist“, erklärt Olga.
Für den 16-jährigen Konstantin war es jedoch schwierig, sich an das Leben als Flüchtling zu gewöhnen. Er war gerade 12 Jahre alt, als aufgrund der COVID-19-Pandemie die Schulen geschlossen wurden und er begann, online zu lernen. Konstantin war bereits 14 Jahre alt, als der Krieg ausbrach, und er beschloss, seine Schulausbildung online fortzusetzen, da er glaubte, dass der Krieg nur von kurzer Dauer sein würde. „Das Schwierigste ist, dass ich außer meiner Großmutter niemanden habe, mit dem ich reden kann“, erklärt der Teenager. „Ehrlich gesagt, bin ich zu einem recht introvertierten Menschen geworden und halte mich meist zu Hause auf. Es fällt mir schwer, mit Leuten zu sprechen, die ich nicht kenne. Ich vermisse meine alten Freunde und meine Familie so sehr, aber ich will nicht wirklich ausgehen, weder mit anderen Ukrainern in meinem Alter noch mit Ungarn.“
Wieder zurück in der Elternrolle
Konstantins Situation ist auch für Olga schwierig. Obwohl sie sich nach ihrer Heimat sehnt, ist die von Natur aus kontaktfreudige Person entschlossen, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Nichtstaatliche Organisationen bieten ihr die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen und Kurse zu besuchen, die ihr bei der sozialen Integration helfen. Die Wohnung ist mit farbenfrohen Kunstwerken geschmückt, die Olga in Kunstkursen anfertigt, und sie nimmt an Yogakursen teil, da sie weiß, dass sie menschliche Kontakte braucht, um ihre gute Laune zu bewahren.
Einmal pro Woche trifft sie sich mit einem Psychologen, der sie ermutigt, über ihre Probleme und Ängste zu sprechen. „Ich habe meine Kinder großgezogen, und bis vor 2 Jahren habe ich noch gearbeitet“, sagt Olga. „Dann hat sich über Nacht alles geändert. Jetzt bin ich wieder in der Rolle der Mutter, was nicht leicht ist, denn ich fühle mich noch mehr für die Kinder verantwortlich, als wenn ich ihre Mutter wäre. Mein Psychologe sagt, dass Tränen unsere Seele reinigen, so wie Wasser unseren Körper reinigt. Also erlaube ich mir manchmal zu weinen, und danach fühle ich mich besser.“
Jede Nachrichtensendung bringt Sorgen mit sich, und im September 2023 wurden ihre Befürchtungen wahr, als ihr Schwiegersohn, der Vater der Kinder, bei einem Bombenangriff getroffen wurde. Glücklicherweise überlebte er seine Verletzungen und wurde zur Rehabilitation geschickt. Während er sich erholte, reisten Olga und die Kinder für fünf Tage in die Ukraine, um ihre Tochter und ihren Schwiegersohn zu sehen.
Vor zwei Jahren hätten sie nie geahnt, dass ihr enger Familienverband noch immer durch den unaufhörlichen Krieg zerrissen sein würde. Olga erklärt, mit welchen Herausforderungen sie konfrontiert sind. „Manchmal fühle ich mich schuldig, hier zu sein, in einer Welt, in der der Krieg in meinem Land nur ein weiterer Zeitungsbericht ist, während meine Kinder in Gefahr leben. Aber wenn ich mich hoffnungslos und traurig fühle, rufe ich mir in Erinnerung, dass meine Tochter als Ärztin Leben rettet, und dass es meine Aufgabe ist, ihre Jungen am Leben zu halten.“
Aktuellen Schätzungen zufolge halten sich etwa 65 000 ukrainische Flüchtlinge in Ungarn auf, von denen sich mehr als 41 000 bei Schutzprogrammen registriert haben. Seit Beginn des Krieges wurden über 4,3 Mio. Grenzübertritte von der Ukraine nach Ungarn registriert.
Die nationalen Gesundheitssysteme vieler Länder, die Flüchtlinge aufnehmen, versorgen eine große Zahl von Vertriebenen. Um den Ländern bei der Bewältigung der Situation zu helfen, arbeitet die WHO mit den nationalen Behörden zusammen. Zur Fortsetzung ihrer Unterstützung haben die WHO, die Internationale Organisation für Migration (IOM) und die Europäische Union (EU) im vergangenen Oktober eine Auftaktveranstaltung für ein gemeinsames zweijähriges Projekt ausgerichtet, das der Verbesserung des Zugangs von Flüchtlingen und Vertriebenen aus der Ukraine zur Gesundheitsversorgung dient. Mit einer finanziellen Unterstützung in Höhe von 4 Mio. EUR aus dem Aktionsprogramm EU4Health 2023 vereinen die drei Organisationen ihr fachliches Know-how, um die Länder weiterhin zu unterstützen und ihre Gesundheitssysteme zu stärken.