WHO/Andreas Beck
Cajsa Lindberg, Verfechterin einer globalen Gesundheitspolitik, hält eine Rede auf der Konferenz „Aufbau eines Innovationsökosystems für die öffentliche Gesundheit in der Europäischen Region der WHO“.
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„Das Schlimmste ist, dass man sich nie richtig entspannen kann“

26 July 2024

Die junge Schwedin Cajsa lebt mit Typ-1-Diabetes, seit sie 13 Jahre alt ist. Sie hat auch einen Gehirntumor überlebt und muss mit verschiedenen krebsbedingten Gesundheitsproblemen leben. Sie ist Verfechterin einer globalen Gesundheitspolitik und ist beim Schwedischen Handels- und Investitionsrat als leitende Beraterin und als Koordinatorin der nordischen Länder für Gesundheitswesen und Biowissenschaften tätig.

Der Vorschlag, Cajsa auf Diabetes untersuchen zu lassen, kam von einer Nachbarin, da sie ihren Durst, ihr häufiges Wasserlassen und ihren Gewichtsverlust als mögliche Symptome erkannt hatte. Cajsa selbst fühlte sich gut; deshalb waren sie und ihre Familie von der Diagnose überwältigt. Sie war zwei Wochen lang im Krankenhaus, wo ihr Zustand überwacht und stabilisiert und sie auf das vorbereitet wurde, was ihr bevorstand. Eine solche Diagnose in einem Alter, in dem man eher unabhängig sein und sich mit Freunden treffen möchte, hatte große Auswirkungen auf sie. Sie war fest entschlossen, mit ihrer Krankheit allein fertig zu werden, und wollte niemandem zur Last fallen und niemanden um Hilfe bitten. Ihr erster Impuls war: „Ich schaffe das.“

Doch sie erhielt einen erheblichen Dämpfer aufgrund eines Vorfalls, den sie nie vergessen wird, als eine Krankenschwester zu ihr sagte: „Benutze niemals Daumen und Zeigefinger zum Blutabnehmen, die wirst du noch brauchen, wenn du erblindest.“ Dieser schockierende Rat in so jungem Alter hat sie nachdrücklich geprägt. Die Angst vor Komplikationen hat sie immer begleitet, auch wenn sie heute weiß, dass die Worte der Krankenschwester unangemessen waren.

Sie ist der Meinung, dass Diabetes schnell zu einer Frage der Kontrolle wird. „Du musst immer die Kontrolle haben. Ich glaube, das hat mich definitiv zu einem kleinen Kontrollfreak gemacht. Du musst ständig für deine Gesundheit verantwortlich sein und von Minute zu Minute die vielen Faktoren überprüfen, die sich auf deinen Blutzucker auswirken können – nicht nur das Zählen von Kohlenhydraten, sondern zum Beispiel auch deinen Schlaf, die Hitze, deinen Hormonspiegel, außerdem Stress, Dehydrierung, Insulin, Bewegung und das ganze Datensammeln. Das wird irgendwann zur Obsession. Dieses Selbstmanagement findet zwischen den Arztterminen statt. Die neue Technologie macht natürlich alles einfacher, aber das Schlimmste ist, dass man sich nie richtig entspannen kann.“

Sich die Zeit zum Zuhören nehmen

Der Krebs und seine Behandlung sowie die chronischen Gesundheitsprobleme, mit denen Cajsa leben muss, haben all das noch zusätzlich kompliziert. Sie drängt auf eine stärker integrierte und koordinierte Versorgung. Ein weiterer Aspekt, der ihr am Herzen liegt, ist, dass die Pflege patientenorientiert sein sollte. Diabetes-Pflegekräfte sind dabei von zentraler Bedeutung, weil sie sich einen Einblick in die wahren Bedürfnisse der Patienten verschaffen können.

Sie ist der Meinung, dass die Öffentlichkeit sich nicht immer dessen bewusst ist, wie schwerwiegend Diabetes sein kann. „Insulin ist für Menschen mit Typ-1-Diabetes wie Sauerstoff – ohne Insulin sterben wir.“ Dieses Wissen hat Auswirkungen auf das Wohlbefinden. Darüber hinaus wirkt sich Diabetes bei vielen Menschen auf die psychische Gesundheit ebenso stark aus wie auf die körperliche Gesundheit und ist im Laufe des Lebens Schwankungen unterworfen. „Man kann sich nicht nur zum Zeitpunkt der Diagnose überfordert und traurig fühlen, sondern das ganze Leben lang, und es kann zu einem Auf- oder Abschwellen kommen.“

Doch Cajsa ist der Meinung, dass sie im Leben und in ihrer Karriere noch nie eine große Chance verpasst hat. Sie fühlt sich durch die Menschen, die sie beruflich und bei internationalen Jugendprogrammen für Menschen mit Diabetes kennengelernt hat, inspiriert, das Beste aus ihrem Leben mit der Krankheit zu machen.

Die von Cajsa so geschätzte patientenorientierte Versorgung ist der Ansatz, der in der jüngsten Publikation von WHO/Europa mit dem Titel „Therapeutische Patientenschulung: eine Einführung“ verfolgt wird. Diese Publikation soll politischen Entscheidungsträgern und Angehörigen der Gesundheitsberufe dabei behilflich sein, eine wirksame therapeutische Patientenaufklärung für alle Menschen mit chronischen Erkrankungen zu gewährleisten. Ziel ist es nicht nur, Entscheidungsprozesse in Bezug auf die klinische Versorgung zu verbessern, indem die Patienten durch Aufklärung, Befähigung und Unterstützung eingebunden werden, sondern auch, ihnen zu einem sinnvolleren Leben zu verhelfen. 

Hintergrund zum Thema Diabetes: Wozu haben sich die Mitgliedstaaten der WHO verpflichtet?

2022 haben sich die Mitgliedstaaten der WHO erstmals für die Festlegung globaler Zielvorgaben für Diabetes ausgesprochen, die Teil der Empfehlungen zur Stärkung und Überwachung von Diabetesmaßnahmen im Rahmen nationaler Programme für nichtübertragbare Krankheiten waren.

WHO/Europa und die International Diabetes Federation Europe haben sich darauf geeinigt, die Fortschritte zu beschleunigen, um diese globalen Diabetesziele bis 2030 zu erreichen oder zu übertreffen:

  • 80 % der mit Diabetes lebenden Menschen sollen eine ordnungsgemäße Diagnose erhalten. 
  • 80 % von ihnen sollen über eine gute Kontrolle über ihren Blutdruck und Blutzuckerspiegel verfügen. 
  • 60 % der Menschen mit Diabetes ab 40 Jahren erhalten Statine. 
  • 100 % der Menschen mit Typ-1-Diabetes haben Zugang zu bezahlbarem Insulin und zu Blutzucker-Selbstkontrollen.

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Ein Satz des Artikels wurde am 15. November 2024 geändert, um die Rolle von Pflegekräften bei der Unterstützung von Menschen mit Diabetes treffender zu beschreiben.