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Eine Expertin warnt: „Es gibt nur eine Gewissheit: dass es wieder eine Grippepandemie geben wird“

30 April 2024
Die Influenzaepidemie in der Europäischen Region der WHO ist wieder auf ihr Ausgangsniveau zurückgekehrt, und die Fallzahlen sind gerade zum ersten Mal seit Anfang Dezember wieder unter den saisonalen Schwellenwert gefallen. Dies bedeutet zwar eine Verringerung der unmittelbaren Belastung für die Gesundheitssysteme in der Region durch die Grippe, doch die Vorbereitungen für die nächste Grippesaison laufen weiter, und Experten halten Ausschau nach einem Virus mit Pandemiepotenzial. 

Nicola Lewis, Leiterin des Worldwide Influenza Centre am Francis Crick Institute in London, spricht offen über die Risiken der Grippe: „Ich glaube, die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei der Krankheit X um ein Grippevirus handelt, ist wohl größer als bei jeder anderen bekannten Erregergruppe, die mir einfällt.“ Krankheit X ist ein Begriff, der zur Beschreibung einer hypothetischen neuartigen oder unbekannten Krankheit verwendet wird, die eine weitere Pandemie verursachen könnte.

Das Francis Crick Institute ist eines von sieben Kooperationszentren der WHO, die für die Analyse der in der menschlichen Bevölkerung zirkulierenden Influenzaviren zuständig sind. Sie charakterisieren Grippestämme und nutzen diese Informationen zur Risikobewertung und zur Entwicklung von Impfstoffen, sowohl gegen die saisonale Grippe als auch gegen Stämme mit Pandemiepotenzial. 

Das Institut ist Teil des Globalen Systems zur Überwachung und Bekämpfung von Influenza (GISRS), das aus über 150 Laboren und Institutionen in aller Welt besteht.

Anpassung der Impfstoffe an Veränderungen bei der saisonalen Influenza

Gegenwärtig sind die jährlichen Epidemien der saisonalen Grippe weltweit für bis zu 650 000 Todesfälle verantwortlich, davon 72 000 – etwa 11 % – in der Europäischen Region; diese treten vor allem bei Menschen mit einem erhöhten Risiko für eine schwere Erkrankung auf, also bei älteren Menschen, Personen mit chronischen Herz- oder Lungenerkrankungen, Kindern unter fünf Jahren und schwangeren Frauen. Die Impfung gegen die saisonale Grippe ist ein sicheres und wirksames Mittel, um den Schweregrad von Infektionen zu verringern. 

Um den Impfstoff auf die zirkulierenden Varianten abzustimmen, organisiert die WHO zweimal jährlich Konsultationen mit einer beratenden Expertengruppe aus Mitarbeitern von Kooperationszentren und Regulierungslaboren der WHO, die die vom GISRS generierten Überwachungsdaten zu Influenzaviren analysieren. Ihre Empfehlungen werden dann von den nationalen Regulierungsbehörden für Impfstoffe und von den Pharmaunternehmen verwendet, die die Impfstoffe für die nachfolgende Grippesaison entwickeln, herstellen und lizenzieren. 

Da die Grippesaison auf der Nordhalbkugel mit der Herbst- bzw. Wintersaison zusammenfällt und Herstellung und Vertrieb Zeit in Anspruch nehmen, findet die Sitzung des Gremiums zur Empfehlung der Zusammensetzung der Grippeimpfstoffe im Februar statt. „Die Sitzung steht am Ende einer sehr langen Anstrengung des GISRS-Netzwerks, das sich aus 151 nationalen Grippezentren in 129 Mitgliedstaaten zusammensetzt“, sagt Nicola. 

Sie fügt hinzu: „Die nationalen Grippezentren nehmen klinische Proben entgegen, die positiv auf Influenzaviren getestet wurden, und beginnen mit deren Analyse.“ „Diese Proben werden dann an die sieben WHO-Kooperationszentren weitergegeben, darunter das in London, die dann die genetischen Sequenzen und die antigenen Eigenschaften dieser Viren (die Immunreaktion des Einzelnen) analysieren.“

Die Kooperationszentren bringen diese Informationen in die Sitzung des Empfehlungsgremiums ein, dessen Mitglieder eine Woche lang die vorgelegten Daten prüfen, bevor sie Empfehlungen zu den für den Menschen relevanten Stämmen der saisonalen Influenza abgeben, die durch maßgeschneiderte Impfstoffe bekämpft werden sollen.“

„Die Grippe verändert sich ständig, und unsere Aufgabe als Kooperationszentren besteht darin, mit Unterstützung durch die umfangreiche Arbeit der nationalen Grippezentren dafür zu sorgen, dass wir verstehen, wie sich die Viren verändern. Der Impfstoff gegen die saisonale Grippe ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Arsenals zum Schutz der menschlichen Gesundheit.“

Übertragung der Influenza durch Tiere

Auf der Sitzung des Gremiums zur Empfehlung der Zusammensetzung der Grippeimpfstoffe analysieren die Experten auch Viren, die in Tierpopulationen zirkulieren, um Impfstoffkandidaten zu ermitteln, die im Falle einer weiteren Pandemie eine wichtige Gegenmaßnahme darstellen könnten.

„Einer der faszinierenden Aspekte der Grippe ist, dass sich das Virus ständig weiterentwickelt, sodass es in der Lage ist, einer vorher bestehenden Immunität zu entgehen, die wir gegen ein bestimmtes Grippevirus erworben haben könnten“, sagt Nicola. 

„Grippeviren können auch eine sog. Neukombination durchlaufen, wenn ein Mensch oder ein Schwein gleichzeitig von zwei verschiedenen Grippeviren infiziert wird. Dabei wird ihr genetisches Material so durchgemischt, dass das Nachkommenvirus, das aus dem Schwein oder dem Menschen kommt, tatsächlich anders ist.“

Schweine sind ein ideales Mischgefäß, in dem die Grippe mutieren kann, da sie sich von Vögeln und Menschen anstecken können. Von Zeit zu Zeit kommt es vor, dass Viren aus bestimmten Tierpopulationen auf andere Tierpopulationen oder auf den Menschen übergreifen, wo sie schwere Schäden verursachen können. Manchmal verursachen sie nur einzelne Infektionen, aber sie können auch eine Pandemie auslösen.

Vorbereitung auf eine mögliche Pandemie

Aufgrund ihrer jüngsten rasanten Entwicklung und ihres anhaltenden Nachweises bei Rindern in den Vereinigten Staaten steht die hochpathogene aviäre Influenza unter ständiger Beobachtung. Sie verläuft bei Hausgeflügel oft tödlich, ist aber bisher nicht leicht auf den Menschen übertragbar. Seit 2020 haben sich Stämme des Virus über Wildvögel als Wirte weltweit ausgebreitet – in ganz Eurasien sowie in Afrika, Nord- und Südamerika und sogar in der Antarktis. 

Die hochpathogene aviäre Influenza tötet nicht nur viele Millionen Wild- und Hausvögel (und damit Geflügel, das für den menschlichen Verzehr gezüchtet wird), sondern erweist sich auch als übertragbar und gefährlich für Säugetiere wie Tiger, Füchse, Nerze und Robben. Besonders besorgniserregend sind Infektionen bei Säugetieren, da sie Mutationen hervorrufen können, die das Risiko einer Ausbreitung von Säugetier zu Säugetier und einer Übertragung auf oder zwischen Menschen erhöhen.

„Eine derartige Situation mit einem hochpathogenen H5-Virus haben wir noch nie erlebt. Wenn Sie mich 2019 gefragt hätten, hätte ich mir sicher nicht vorgestellt, was die Vogelgrippe anrichten kann“, stellt Nicola fest.

Die Forscher des Worldwide Influenza Centre am Francis Crick Institute sind bestrebt, diese evolutionären Veränderungen besser zu verstehen, um zu den weltweiten Vorbereitungen auf eine mögliche durch Grippeviren hervorgerufene Pandemie beizutragen. 

Nicola betont, dass Rahmen wie das GISRS, die für die globale Pandemievorsorge so wichtig sind, auf vertrauensvolle, kooperative Partnerschaften und einen Informationsaustausch in nahezu Echtzeit angewiesen sind. Sie appelliert an die Mitgliedstaaten, die derzeit im Vorfeld der 77. Weltgesundheitsversammlung über das Pandemieabkommen verhandeln, zum Wohle aller zusammenzuarbeiten. 

„Meine Botschaft an die internationale Gemeinschaft lautet, dass wir unsere Zurückhaltung aufgeben müssen. Wir müssen unsere engstirnigen Bedenken überwinden und an die Auswirkungen und die verheerenden Folgen einer globalen Pandemie denken, egal von welchem Krankheitserreger sie ausgeht.“