WHO/Halldorsson
© Credits

Gehbehindert und mit zwölf Jahren ans Haus gebunden – die extremen Folgen von Long COVID

15 May 2023

Mit elf Jahren war Jay noch wie viele andere gleichaltrige Jungen im Vereinigten Königreich. Er spielte gern mit seinen Freunden Fußball, hatte eine Leidenschaft für das Boxen und verbrachte Stunden mit dem Versuch, das nächste Level des neuesten Computerspiels zu erreichen. Kurz gesagt, er war ein normaler Junge kurz vor dem Eintritt ins Jugendalter, fit und gesund und gut in der Schule. Die Vorstellung, dass er ernsthaft krank werden könnte, war das Allerletzte, woran er oder seine Eltern dachten.

Seine Mutter Neera, eine Allgemeinärztin, erzählt, dass seine schwere Erkrankung im Anschluss an eine COVID-19-Infektion für alle ein Schock war. „Während der schlimmsten Zeit der Pandemie waren wir umgezogen, um meine ältere Mutter unterzubringen, die in dieser schwierigen Zeit nur schwer allein zurecht kam. Wir hatten uns bewusst für ein Haus entschieden, in dem man sich leicht bewegen kann, falls sie eine Gehhilfe oder einen Rollstuhl braucht – natürlich nicht ahnend, dass es Jay sein würde, der auf diese Dinge angewiesen sein würde.“ 

Erstinfektion mit COVID-19 und Nachwirkungen

Nach einer Phase mit Halsschmerzen, laufender Nase und leichtem Fieber wurde Jay am 11. Januar 2022 positiv auf COVID-19 getestet. „Als ich das erste Mal COVID bekam, war es nicht so schlimm“, erzählt Jay. „Ich fühlte mich ein wenig krank und schlief mehr als sonst, aber dann wurde es noch viel schlimmer.“

Im Februar 2022 bekam er starke Magenschmerzen, die sich seine Mutter als Ärztin nicht erklären konnte. Jays Eltern brachten ihn in die Unfall- und Notaufnahme des örtlichen Krankenhauses in Croydon im Süden Londons, aber trotz zahlreicher Bluttests und Untersuchungen konnten die Ärzte keine Ursache finden. Die wiederkehrenden Schmerzen führten dazu, dass Jay mehrmals von der Schule nach Hause geschickt werden musste.

Wenig später bekam er nach und nach eine Reihe weiterer behindernder und scheinbar zufälliger Symptome wie Schwindel, Brustschmerzen, nächtliche Schweißausbrüche, Ausschlag im Gesicht, sich schälende Finger, Ermüdung und Diarrhöe.

Diagnose Long COVID

In ihrer verzweifelten Suche nach Antworten und Behandlungen für Jays schwerwiegende Symptome wandte sich die Familie im April 2022 an einen privaten Facharzt für Kinderheilkunde. Ohne eine konventionelle Erklärung für Jays Krankheit finden zu können sowie angesichts der Tatsache, dass er lange nach seiner ursprünglichen Infektion unter Symptomen litt, stellte der Arzt als Diagnose Post-COVID-19-Syndrom, allgemein bekannt als „Long COVID“.

„Es war eine Erleichterung, als endlich bestätigt wurde, dass Jays Zustand durch seine ursprüngliche COVID-19-Infektion verursacht wurde, nachdem alles andere ausgeschlossen worden war“, sagt Neera. „Damit hofften wir, ernster genommen und nicht einfach abgewimmelt zu werden, wie es manche Ärzte taten, die die Schwere von Jays Symptomen nicht verstanden oder nicht daran glaubten. Außerdem bekamen wir dadurch eine bessere Vorstellung davon, womit wir es zu tun hatten, sodass wir recherchieren und Behandlungsvorschläge ausprobieren konnten.“

Auf der Suche nach Therapien

Um Jays wiederkehrende Magenschmerzen zu behandeln, setzte der Facharzt ihn auf eine Elementardiät – eine flüssige Mahlzeit, die ein komplettes Nährstoffprofil bietet – in der Annahme, er leide an einem Reizdarm. Die einzigen festen Nahrungsmittel, die Jay im Rahmen dieser strengen vierwöchigen Diät zu sich nehmen konnte, waren Huhn und Reis. Dank der Einhaltung dieser Diät schienen Jays Magenschmerzen für eine Weile nachzulassen. 

Doch bei der Nachuntersuchung im Juni waren Jays Brustschmerzen schlimmer als je zuvor – er wachte nachts vor Schmerzen auf – und der Versuch, die Elementardiät abzusetzen, führte dazu, dass seine Magenprobleme wieder auftraten. Obwohl Jay neue Medikamente verschrieben bekam, wollten seine schmerzhaften Symptome einfach nicht verschwinden. 

Eine kurze Zeit des Aufatmens

Im Sommer 2022 ging es dann allmählich aufwärts. Durch eine sanfte Staffelung der Aktivitäten fühlte sich Jay weniger erschöpft, seine nächtlichen Schweißausbrüche hörten auf und seine Unterleibsschmerzen verschwanden von selbst.

Er erzählt: „In den Sommerferien konnte ich einfach nur dasitzen und schlafen und mich entspannen, weil ich keine Schularbeiten machen musste. Am Ende der Ferien war ich fit genug, um wieder in die Schule zu gehen, und hatte sogar genug Energie, um zu boxen und Fußball zu spielen. Es war fantastisch – ich konnte all die Dinge tun, die ich wieder tun wollte!“

Ein Jahr nach seiner COVID-19-Infektion: Rückfall

Doch dieser Zustand hielt nicht lange an. Genau ein Jahr nach seiner ursprünglichen COVID-19-Diagnose wurde Jay wieder krank und bekam hohes Fieber, geschwollene Lymphknoten und Halsschmerzen. Aufgrund einer Telefonkonsultation mit seinem Hausarzt wurde diese Erkrankung als eine mögliche Streptokokken-Infektionen der Gruppe A behandelt, da es zu diesem Zeitpunkt einen größeren Ausbruch gab. Dementsprechend bekam Jay Medikamente verschrieben.

Doch da sein Vater im Monat zuvor positiv auf COVID-19 getestet worden war, vermutete die Familie, dass es sich tatsächlich um eine COVID-19-Reinfektion handelte. Da aber Tests nicht mehr in großem Umfang zur Verfügung standen, gab es keine Möglichkeit, dies mit Sicherheit festzustellen.

Verlust der Mobilität

Unabhängig von der Ursache verschlimmerte sich Jays Zustand nochmals. Die Erschöpfung und die Magenschmerzen kehrten zurück, er verlor den Appetit und, was noch schlimmer war, bekam starke Schmerzen in den Beinen, die seine Mobilität stark einschränkten. Jay erzählt: „Meine Beine schmerzten so stark, dass ich irgendwann nicht mehr gehen konnte und auf dem Boden herumkrabbeln musste. Ich hatte Mühe, die Treppe hochzukommen, und musste mich am Türrahmen hochziehen, um lange genug stehen zu können, um auf die Toilette zu gehen, und selbst dann zitterten meine Beine wie Gelee.“

Seit Ende Januar 2023 erhält Jay Hausbesuche von einem privaten Kinderphysiotherapeuten, der ihm sanfte Muskelübungen verordnet. Er hat versucht, eine Gehhilfe zu benutzen, kann aber höchstens zehn Schritte auf einmal machen. Auch ein Mobilitätsroller hilft ihm, sich im Erdgeschoss fortzubewegen und im Garten an der frischen Luft zu sein, aber er weiß immer noch nicht, wann er wieder richtig gehen kann.

Es ist nicht verwunderlich, dass Jay von all dem deprimiert und frustriert ist. „Ich bin genervt und wirklich traurig, weil ich nicht mehr all die Dinge tun kann, die ich früher tun konnte“, erzählt er uns. „Und die Ärzte haben mir nicht viel helfen können, weil sie sich meine Erkrankung einfach nicht erklären können.“

Jays momentaner Zustand

Jay beschreibt, wie sein Leben nach 14 Monaten Krankheit aussieht. „An einem normalen Tag wache ich auf, meist nach einem unterbrochenen Schlaf, und sitze eine Weile auf dem Bett, bevor ich genug Kraft habe, um aufzustehen. Das Anziehen ist sehr anstrengend, und meine Eltern müssen mir dabei helfen. Und ich habe keinen Appetit. Mama muss mich zum Essen zwingen, also esse ich etwas Kleines, zum Beispiel eine Scheibe Toast.“

Er fügt hinzu: „Tagsüber mache ich vielleicht ein paar Schularbeiten oder Physiotherapie, aber ich schaffe nicht beides am selben Tag. Jede Tätigkeit, die ich ausübe, muss in 15-Minuten-Phasen stattfinden, sonst breche ich vor Erschöpfung zusammen. Meine Mutter hilft mir bei den Schularbeiten und muss mir alles genau erklären, weil ich Probleme habe, Informationen zu verarbeiten. Ich verbringe jetzt viel Zeit auf dem Sofa, weil ich einfach nicht die Energie habe, mich im Haus richtig fortzubewegen.“

Obwohl Jay jetzt ans Haus gebunden ist, spenden die vielen Haustiere der Familie etwas Trost. Neera glaubt, dass die Tiere seiner psychischen Gesundheit guttun. „Unsere Haustiere haben Jay sehr geholfen. Wenn er auf dem Sofa liegt, kuscheln sich die Möpse an ihn, und wenn er versucht, mit seiner Gehhilfe zu gehen, folgen sie ihm. Er liegt gern einfach neben ihnen und streichelt sie. Er nimmt auch gern die Eidechse und den Hamster aus ihren Käfigen, um auf seinem Schoß mit ihnen zu spielen.“

Neera ist überrascht und sehr stolz darauf, wie gut Jay mit einer so drastischen und schwerwiegenden Veränderung in seinem Leben zurechtkommt. Sie stellt fest, dass er nach einer so langen Zeit der Krankheit viel Widerstandskraft bewiesen hat.

Die ganze Familie ist betroffen

Da Jay nun de facto behindert ist, muss die ganze Familie mit Einschränkungen leben. „Früher waren wir eine sehr aktive Familie: wir gingen ins Theater und sonntags zum Essen, immer mit den Hunden spazieren – aber jetzt müssen wir so vieles in letzter Minute absagen, weil Jay dafür einfach nicht die Energie hat“, sagt Neera.

„Das Leben besteht jetzt nur noch aus Arbeit und Aufhalten zuhause, um sich um Jay zu kümmern und Physio- und Osteopathentermine zu vereinbaren. Davon sind wir alle betroffen. Die Unterstützung, die wir von der Patientengruppe Long COVID Kids erhalten haben, war aber von unschätzbarem Wert. Es war eine Erleichterung, sich mit anderen Eltern auszutauschen, deren Kinder sich in einer ähnlichen Situation befinden, und mehr Informationen über die Krankheit zu erhalten.“

Die Schattenpandemie

Von denjenigen, die mit SARS-CoV-2, dem Virus, das COVID-19 verursacht, infiziert sind, entwickelt einer von zehn Long COVID; diese Erkrankung ist definiert als das Fortbestehen oder die Entwicklung neuer Symptome drei Monate nach der Erstinfektion, wobei diese Symptome mindestens zwei Monate lang anhalten, ohne dass es eine andere Erklärung für sie gibt.

Long COVID kann sich bei Menschen jeden Alters entwickeln, unabhängig vom Schweregrad der ursprünglichen Symptome.  Es ist auch bekannt, dass die Wahrscheinlichkeit, daran zu erkranken, steigt, je öfter eine Person mit dem SARS-CoV-2-Virus infiziert wird.

Nach Schätzungen der nationalen Statistikbehörde des Vereinigten Königreichs leiden derzeit (Stand: 5. März 2023) 1,9 Mio. Menschen (2,9 % der Bevölkerung des Landes) nach eigenen Angaben unter Symptomen von Long COVID.

Wir müssen noch viel über Long COVID und vor allem über sein Krankheitsbild bei Kindern lernen. Deshalb ruft WHO/Europa in Zusammenarbeit mit Long COVID Europe die Mitgliedstaaten dazu auf, die Bereiche Anerkennung, Erforschung und Rehabilitation für das Post-COVID-19-Syndrom (Long COVID) zu verstärken.


17-05-2023: Der letzte Abschnitt dieses Artikels wurde geändert und um zusätzliche Informationen darüber, wie sich Long COVID entwickeln kann, aber auch um die von der nationalen Statistikbehörde des Landes veröffentlichten aktuellen Betroffenenzahlen ergänzt.