Ich glaube, man muss wohl erst eine Art von Behinderung haben, um seine inneren, versteckten Qualitäten kennen zu lernen. Denn seit dem Einsetzen meiner psychischen Probleme habe ich eine innere Kraft gefunden, die schon immer da gewesen sein muss,
zu der ich zuvor aber nie Zugang hatte. Heute nutze ich diese Energie für mich selbst und zum Wohl meiner Mitmenschen.
Ich wurde 1961 in der Stadt Tuzla in Bosnien and Herzegowina geboren, wo ich auch heute noch mit meiner Frau und
meiner Tochter lebe. Im bosnischen Krieg war ich von 1992–1995 Soldat. Meine ersten psychischen Probleme traten auf, nachdem ich im September 1992 von einem Granatsplitter schwer verwundet wurde. Dabei erlitt ich Verletzungen an Prostata, Urintrakt
und inneren Organen sowie an den peripheren Nerven meines rechten Beins. Insgesamt wurde ich sieben Mal operiert, die letzten drei Male in Tschechien, wohin sie mich 1994 schickten. Der Splitter der Granate steckt noch heute in meinem Körper.
Meine Kriegsverletzungen hinterließen bei mir Angst und Stress, und ich bekam Albträume. Oft brachten mich schon die kleinsten Dinge aus der Fassung. Die Probleme wurden schlimmer, bis ich mich 1996 vor lauter Angst nicht mehr allein
aus dem Haus traute. Meine Frau musste mich jedes Mal begleiten, und ich hatte panische Angst davor, allein zu sein und verrückt zu werden.
Damals wurde ich Patient bei einer Neuropsychiaterin und hatte das Glück, auf eine verständnisvolle
Ärztin zu treffen, die mich als Menschen und nicht nur als Patienten sah. Die Tatsache, dass sie mich nicht in eine psychiatrische Klinik einwies, sondern ambulant behandelte, war meiner Meinung nach entscheidend für meine gegenwärtige
Situation. Eine Einweisung in eine Klinik hätte mich noch weiter traumatisiert, doch anders als die meisten ihrer Kollegen behandelte meine Psychiaterin mich individuell und widmete mir von Anfang an ihre Zeit. Während meiner Sitzungen mit
ihr wurde meine Stärke wieder hergestellt, und ich gewann mein Selbstvertrauen zurück.
Allerdings hatte ich auch das Glück, von Familie und Freundeskreis unterstützt zu werden. Meine Frau und meine Tochter spielten eine
wesentliche Rolle bei meiner Erholung. Während meines Leidens waren sie immer für mich da, nahmen mich an der Hand und gaben mir die Kraft zum Weitermachen. Neben ihrem eigenen Einsatz mobilisierte meine Frau auch einige unserer Freunde
zu meiner Unterstützung.
Durch die Geduld meiner Familie und die Hilfe von Freunden während des gesamten ersten Jahres habe ich zu meinem jetzigen aktiven Leben gefunden, in dem ich mich stark für die Belange von Psychiatrie-Patienten
an meinem Ort engagiere. Außerdem kann ich behaupten, viele neue Freunde gefunden zu haben, sowohl auf privater Ebene als auch im Rahmen meiner Tätigkeit. Doch es war kein leichter Weg. Wie für viele andere war der erste Kontakt mit
dem psychiatrischen System eine schmachvolle Erfahrung, insbesondere wegen der negativen Einstellung in der Gesellschaft (vor allem in ländlichen Gebieten). Ich erlebte Diskriminierung am Arbeitsplatz, wo einige Kollegen es nicht akzeptieren
konnten, dass ich nicht mit voll einsatzfähig war. Neben meinen psychischen Problemen habe ich auch eine körperliche Behinderung, die mich beeinträchtigt, und ich musste mir oft Bemerkungen wie „aus dem Weg“ oder „geh’
zum Arzt oder geh’ in Rente“ anhören. Darauf antwortete ich stets: „Das werde ich, wenn ich es für richtig halte, und nicht, wenn es euch passt“.
Ich bin von Beruf eigentlich Bautechniker, wurde aber mangels
Arbeitsplätzen in der Baubranche zum Schuhmacher umgeschult. Nach meiner Verwundung im Krieg war ich bis 1996 krankgeschrieben; dann ging ich wieder zur Arbeit in die Schuhfabrik. Aufgrund meiner körperlichen und psychischen Behinderung
konnte ich jedoch nicht mehr in der Produktion arbeiten, sondern erhielt eine weniger anstrengende Arbeit in einem Lager. Ich erhielt aber weiterhin den gleichen Lohn, so dass ich in dieser Hinsicht nicht diskriminiert wurde. Nach vier Jahren ging
ich in den Ruhestand, da die Arbeit für mich auf Dauer doch körperlich zu anstrengend wurde.
Seitdem habe ich mehr Freizeit, in der ich meiner Frau dabei helfe, die Nachbarschaft, in der wir wohnen, zu verschönern. Ich wende
auch gerne in der Küche meine Kochkünste an.
Als Kriegsversehrter beziehe ich eine Invalidenrente, so dass ich jeden Monat mehr oder weniger den Mindestbetrag erhalte, den ich für meine grundlegenden Bedürfnisse brauche.
Damit bin ich in einer glücklicheren Situation als die meisten anderen psychiatrischen Patienten in Bosnien und Herzegowina. Die Mehrheit von ihnen erhalten nicht einmal das soziale Minimum.
Als ich begann, mich für die Patientenbewegung
zu engagieren, hatte ich doch beträchtliche Schwierigkeiten zu erklären, wer ich war und wofür ich stand. Eine Erfahrung, die mir dabei half, war eine informelle Unterhaltung mit Selim Beslagic, dem früheren Bürgermeister
von Tuzla and heutigen Gouverneur der Region Tuzla. Nachdem ich mich vorgestellt und um Unterstützung für meine Organisation gebeten hatte, erwiderte er mir: „Sie müssen hartnäckig sein und die Leute am Kragen packen! Wenn
Sie Erfolg haben wollen, müssen Sie den Leuten auf den Wecker gehen!“ Diese Erfahrung trug wesentlich dazu bei, dass ich heute ganz offen mit den Entscheidungsträgern auf kommunaler Ebene spreche.
Das Ziel des in der Region
Tuzla tätigen Verbands „Fenix“, für den ich arbeite, ist gegenseitige Unterstützung bei psychischen Problemen. Er wurde am 1. April 2000 gegründet, u. a. mit Unterstützung des Hamlet Trust aus London. Mittlerweile
bin ich zum zweiten Mal in Folge Präsident des Verbands. Fenix setzt sich für die Interessen der Patienten und für ihre Ermächtigung ein und ist für die Ausarbeitung von Konzepten für die Psychiatriepolitik in unserer
Kommune und darüber hinaus bekannt und anerkannt. Mit finanziellen Spenden aus dem Ausland sowie mit Unterstützung aus der Region hat Fenix schon eine Vielzahl von Projekten durchgeführt. Wir verfügen inzwischen über ein eigenes
Zentrum, wo unsere Mitglieder sich treffen können. Wir haben auch einen Lieferwagen, eine Schreinerei und ein Gewächshaus, wo wir Gemüse anbauen. Neben den informellen sozialen Kontakten bieten wir auch eine Reihe von Dienstleistungen
und Aktivitäten wie Rechtsberatung, Kunst- und Schreinerkurse, Angebote zum Erlernen sozialer Fähigkeiten und die Veröffentlichung von Büchern und Broschüren an. Wir arbeiten mit einer zahlreichen anderen nichtstaatlichen
Organisationen zusammen, von denen einige über Rechtsabteilungen verfügen, an die wir uns für Unterstützung wenden können.
Zu unseren Hauptzielen gehört es, auf den Themenkomplex psychische Gesundheit und auf
die Probleme von psychiatrischen Patienten aufmerksam zu machen. Dazu veranstalten wir Pressekonferenzen und Gespräche am runden Tisch, beteiligen uns an Radio- und Fernsehprogrammen und veröffentlichen Informationsmaterial. Jedes Jahr begehen
wir den Welttag für psychische Gesundheit mit den von der WHO empfohlenen thematischen Schwerpunkten. 2007 haben wir uns mit dem interessanten Thema Suizidprävention befasst. Wir waren überwältigt vom Interesse der Medienvertreter
aus ganz Bosnien und Herzegowina an der Arbeit unseres Verbands und den Problemen der Patienten.
Ich muss jedoch einräumen, dass in unserem Land die Patientenbewegung noch nicht sehr weit fortgeschritten ist und dass es deshalb häufig
zur Verletzung grundlegender Menschenrechte kommt. Die Patienten werden vom medizinischen Personal und von der Zivilgesellschaft schwer stigmatisiert, und die Zustände in geschlossenen Psychiatrien sind alles andere als zufrieden stellend. Bei
der Bekämpfung dieser Ungleichheiten sowie der Diskriminierung von psychiatrischen Patienten kann die gesamte Gesellschaft behilflich sein, doch ist die wichtigste Rolle die der Patientenorganisationen und der Patienten selbst.
Insgesamt
habe ich den Eindruck, dass sich die Situation allmählich zum Besseren verändert. Wir spüren das in den psychiatrischen Einrichtungen, wo sich die Beziehungen zwischen Patienten und Ärzten verbessert haben und die ganze Atmosphäre
humaner wird. Bei allem Optimismus müssen wir jedoch realistisch genug sein, um zu erkennen, dass wir die Umwelt, in der wir leben, nicht von einem Tag auf den anderen verändern können. Aber seit die Mitglieder der Patientenorganisationen
offen über ihre Probleme sprechen, engagieren sich mehr von uns für gemeinnützige Zwecke, und das Thema psychische Gesundheit nimmt allmählich einen gebührenden Platz in der öffentlichen Diskussion ein.
Welche Lehren lassen sich aus Vahids Geschichte für die Psychiatriepolitik ziehen?
Überall in der Europäischen Region der WHO bemühen sich Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen darum, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren, gegen die eigene Stigmatisierung anzukämpfen und einander zu unterstützen. Niemand hätte es Vahid verübeln können, wenn er nach seinen Erfahrungen im Krieg über die Haltung seiner Kollegen, des psychiatrischen Personals und der Gesellschaft insgesamt empört gewesen wäre. Doch stattdessen nutzte er die negativen Botschaften für seine Kampagnen.
Vahid entschloss sich, seine eigene Organisation zu gründen, und nannte sie „Fenix“ (Phoenix) – ein sehr gut gewählter Name. Ihre Aktivitäten sind von einem auffallend positiven Geist geprägt: Unterstützung von Patienten, aber auch Aufklärung der Öffentlichkeit und Zusammenarbeit mit Presse und Fernsehen. Auch die Art und Weise, wie Fenix von der Öffentlichkeit aufgenommen wird, ist beeindruckend.
Es ist erfreulich, von der Unterstützung zu hören, die Vahid von seiner Familie erhielt, insbesondere von seiner Frau, deren tatkräftiger Einsatz ihn vor der Einweisung in die Psychiatrie bewahrte. Die Familien müssen mit der harten Realität fertig werden, die das Zusammenleben mit einem Menschen mit psychischen Problemen bedeutet, nicht zuletzt aufgrund der damit verbundenen Stigmatisierung und Diskriminierung. Vahids Geschichte ist eine Erfolgsgeschichte, in der er sogar zahlreiche neue Freunde gewonnen hat. Es scheint, als habe er den Rat befolgt, hartnäckig zu sein und den Leuten „auf den Wecker zu gehen“, und sich auch die erforderlichen Mittel für seine erfolgreiche Arbeit beschafft. Ich wünsche ihm auch weiterhin viel Erfolg und hoffe, er hält uns über seine Tätigkeit auf dem Laufenden. Wir alle können an seinem Beispiel lernen.
Dr. Matt Muijen, Regionalbeauftragter, WHO-Regionalbüro für Europa