Hannah Daly
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Arbeiten im Gesundheitswesen mit einer Behinderung: Hannah Daly aus Irland verrät, wie es gelingen kann

26 May 2023

Es ist alles andere als eine leichte Aufgabe, sich mit einer Behinderung in Ausbildung und Beruf zurechtzufinden. In allen Ländern der Europäischen Region der WHO gibt es verschiedene Hindernisse, die einer behinderungsgerechten Gestaltung von Gesundheitssystem und Gesellschaft im Wege stehen. Ebenso haben wir in den Gesundheitsberufen noch einen weiten Weg vor uns, um Menschen mit Behinderungserfahrungen zu befähigen, aufzunehmen und gezielt zu fördern. „Es ist irgendwie ironisch“, sagt Hannah Daly. „Obwohl ich sog. unsichtbare Behinderungen habe, kann ich sie nicht wirklich verbergen.“ 

Die 37-jährige Irin, Mutter von vier Kindern, kann zwar nur so gut lesen wie ein siebenjähriges Kind und hat Probleme mit dem Schreiben, hat aber mehrere Hochschulabschlüsse erworben und arbeitet heute erfolgreich als Ergotherapeutin. Vor Kurzem wurde ihre Autobiografie mit dem Titel „Knowing No Boundaries“ [dt. „Keine Grenzen kennen“] veröffentlicht. Doch der Weg dorthin war in der Tat von zahlreichen Grenzen geprägt, die zu überwinden sie heute anderen Menschen hilft.

„Wir alle brauchen das Gefühl, Teil von etwas zu sein“

Hannah fühlte sich schon immer anders als ihre Mitschüler und war erleichtert, als bei ihr Dyslexie, Dyspraxie und eine sensorische Verarbeitungsstörung diagnostiziert wurden. „Ich musste ungeheuer viel Mobbing und Isolation ertragen“, sagt sie rückblickend auf ihre frühen Schuljahre. „Ich fing an zu glauben, dass ich nicht intelligent und nicht gut genug war. Aber als ich merkte, dass ich Dyslexie hatte und mit anderen Kindern wie mir zur Schule ging, wusste ich, dass ich nicht allein war. Wir alle brauchen das Gefühl, Teil von etwas zu sein.“ 

Obwohl ihr Lesen und Schreiben weiterhin schwerfallen, 
hat Hannah ihr Selbstvertrauen zurückgewonnen und aktiv Maßnahmen ergriffen, um sich an ihren Universitäten angemessene Unterstützung zu sichern. Noch wichtiger war, dass sie sich mit hilfsbereiten Menschen umgab, die sie bei ihrem Studium unterstützen wollten. So wurde Hannah von Kommilitonen freiwillig beim Lesen und Schreiben unterstützt, und ihre Mutter ging sogar so weit, dass sie ihre Bücher auf Band aufnahm. „Die Zahl derer, die mir vorgelesen haben, geht wahrscheinlich in die Tausende“, sagt Hannah. „Textinformationen sehen für mich wie verschlüsselt aus, aber wenn sich jemand die Zeit nimmt, sie laut vorzulesen, sind sie plötzlich für immer entschlüsselt. Ich erinnere mich noch an Dinge, die ich vor über 20 Jahren vorgelesen bekam.“

Ausdauer ist keine unendliche Ressource, vor allem nicht in einem System, das nicht für Menschen wie einen selbst geschaffen ist. Hannah räumt ein, dass es Momente gab, in denen sie ernsthaft daran dachte, aufzugeben. „Wenn jemand aufgibt, bedeutet das nicht, dass er schwach ist“, sagt sie. „Wir sollten nicht so viel Trauma und Ablehnung erleben müssen. Wir sollten nicht so hart kämpfen müssen, um überhaupt eine Ausbildung zu bekommen.“

„Ich liebe es, Probleme zu lösen“

Bevor sie sich der Ergotherapie zuwandte, beschäftigte sich Hannah mit darstellenden Künsten, eine Erfahrung, die ihre Arbeit noch heute prägt. „Wenn man Theater spielt, dann lernt man da viel über Selbstbehauptung; das gilt vor allem für Menschen, die als gefährdet gelten, z. B. junge Straftäter oder Kinder mit Lernschwierigkeiten“, sagt sie.

Obwohl das Gesundheitswesen nicht Hannahs ursprünglicher Berufswunsch war, erwies es sich letztendlich als eine natürliche Wahl. Hannah hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, und da sie schon in jungen Jahren mit Behinderung konfrontiert war, ist ihr der Drang, anderen zu helfen, gewissermaßen angeboren. „Mein Bruder hatte das Down-Syndrom und war taub, also unterstützte ich ihn und übersetzte für ihn mit der irischen Gebärdensprache“, erzählt sie. 

Die Verbundenheit mit ihrem Bruder und ihre eigenen Erfahrungen haben Hannah dazu veranlasst, neurodiverse Jugendliche in Bezug auf Beruf und Ausbildung zu unterstützen. „Ich liebe es, Probleme zu lösen, weil ich das mein ganzes Leben lang für mich und meine Familie getan habe“, sagt sie. „Ich schätze mich glücklich, so weit gekommen zu sein, aber ich musste dafür wirklich hart kämpfen. Ich habe viele harte Lektionen lernen müssen, die anderen Kindern erspart bleiben sollten. Deshalb spreche ich mit den Menschen und gebe ihnen die Möglichkeit, aus meinen Fehlern und meiner Entwicklung zu lernen.“

Selbstbewusstes Auftreten

Hannah findet es einfacher, Menschen zu lesen als Bücher. Sie erklärt, dass man aus der Art und Weise, wie jemand spricht, sich bewegt und an Situationen herangeht, eine Menge wertvoller Erkenntnisse gewinnen kann. „Diese Informationen findet man nicht in schriftlichen Notizen, sondern sie kommen durch Beobachtung“, beschreibt sie ihren Ansatz. „Dann beginne ich, mit den Patienten auf einer tieferen Ebene zu interagieren und ihnen zu helfen, ihre Stärken zu erkennen. Es ist wunderbar zu sehen, wie sie ihr Selbstbild ändern und sogar sagen: ,Ich verdiene es, mit Würde und Respekt behandelt zu werden, ich bin es wert.‘ Es ist ein bemerkenswerter Moment, wenn es Klick macht und die Eltern plötzlich überrascht sind, dass es überhaupt möglich war.“

Hannah hofft, dass eine Behinderung irgendwann so selbstverständlich wahrgenommen und akzeptiert wird wie etwa Vegetarismus. Bis dahin müssen Studierende und Berufstätige selbstbewusst für sich eintreten. „Ich bin eigentlich ein eher introvertierter Mensch“, sagt sie, „aber ich spreche offen über meine Behinderung, weil sich da etwas an der Einstellung der Leute ändern muss. Wenn man eine Behinderung hat, bekommt man manchmal das Gefühl, dass man sich mehr beweisen muss und mehr unter die Lupe genommen wird. Während einer Bewerbung lege ich nicht immer die Karten auf den Tisch, aber wenn ich die Stelle bekomme, sage ich: ,Also, ich habe in diesem Bereich Schwierigkeiten und deshalb Bedürfnisse‘.“

Veränderungen bewirken

Manchmal kann Hannah durch ihre Andersartigkeit besser mit Menschen in Kontakt treten, die ebenfalls neurodivergent sind, oder ihre Fälle aus einer besonderen Perspektive betrachten. „Gelegentlich kommt es vor, dass ich den Kindern oder ihren Eltern von meiner eigenen Situation erzähle“, sagt sie. „Manche Menschen mögen mich als gebrochen ansehen, aber das sagt mehr über sie aus als über mich. Trotzdem ist es mir unangenehm. Andererseits gibt es da diese Momente, in denen jemand merkt: ,Du verstehst das, oder?‘ Manchmal kommen auch Menschen zu mir, die eine neurodivergente Therapeutin suchen.“ 

So wie es für werdende Eltern beruhigend sein kann, mit einer Hebamme zusammenzuarbeiten, die die Geburt selbst erlebt hat, so kann auch eine Ergotherapeutin, die über vergleichbare Erfahrungen verfügt, beruhigend wirken, zumal kognitive und neurologische Erkrankungen immer noch mit einem Stigma behaftet sind. „Manchmal macht es den entscheidenden Unterschied, wenn man diese Verbindung hat, weil unsere Gehirne ähnlich verdrahtet sind.“

Obwohl nur wenige Berufe wirklich auf die Inklusion von Menschen mit Behinderungen ausgerichtet sind und das Gesundheitswesen in Bezug auf die Barrierefreiheit noch einen weiten Weg vor sich hat, entstehen immer mehr Möglichkeiten für Menschen mit unterschiedlichen Zugangsbedürfnissen Deshalb ist es so wichtig, vorausschauend zu handeln. „Verstehe deine Bedürfnisse“, sagt Hannah mit Blick auf Menschen mit Behinderungen, die über einen Beruf im Gesundheitswesen nachdenken. „Denk über die Aufgaben und über mögliche Hindernisse nach. Denk über mögliche Lösungen nach, die dir zum Erfolg verhelfen könnten. Kannst du die Arbeit an deine Bedürfnisse anpassen? Kannst du vorausplanen? Sei ganz offen und ehrlich. Erkundige dich im Voraus, wie dir ggf. geholfen werden kann, denn es kann lange dauern, bis das so eingerichtet ist. Wähle einen Beruf, der zu deinen Stärken passt. Versuche, jemanden mit ähnlichen Erfahrungen zu finden und mit ihm zu sprechen.“ Und der wichtigste Ratschlag? „Sei nicht zu streng mit dir selbst“, sagt Hannah abschließend mit einem Lächeln.