Dr. Margarida Tavares
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„Man beginnt mit den am stärksten gefährdeten Menschen“: Überlegungen einer Expertin für Infektionskrankheiten zur Pandemievorsorge und zum Strafvollzug

21 November 2023
Margarida Tavares führt die Tatsache, dass sie „zur richtigen Zeit am richtigen Ort“ war, ganz einfach auf pures Glück zurück. Wahrscheinlich war es eher eine Kombination aus ihrer Faszination für neu auftretende Infektionskrankheiten, ihrem spürbaren Interesse am Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und ihrer Liebe zur Planung. 

Die für die Gesundheitsförderung zuständige Staatssekretärin Portugals wurde zum ersten Mal mit dem Ausbruch einer schweren Infektionskrankheit konfrontiert, während sie als Jugendliche in São Paulo (Brasilien) lebte. Ein plötzlicher Ausbruch von Gelbfieber in einem Bezirk der Stadt veranlasste sie, sich zusammen mit Familie und Freunden freiwillig an einer Präventionskampagne zu beteiligen, sich für Maßnahmen zur Bekämpfung brütender Stechmücken einzusetzen und die betroffene Gemeinschaft zu Impfungen zu ermutigen. 

Selbst als junger Mensch und als Außenseiterin bzw. Ortsfremde ließ sie sich nicht von der Aussicht einschüchtern, in marginalisierte Gemeinschaften zu gehen, um Botschaften zur öffentlichen Gesundheit zu vermitteln. Seitdem hat sie eine Ausbildung zur Spezialistin für Infektionskrankheiten absolviert. Hier sprechen wir über ihre Leidenschaft für das öffentliche Gesundheitswesen, ihre Arbeit im Bereich Gesundheit im Strafvollzug und darüber, was die Länder ihrer Meinung nach im Vorfeld der nächsten Pandemie besser machen müssen. 

Patienten zuhören

Dr. Tavares spricht klar und direkt und mit großem Stolz, wenn sie über die Menschen spricht, die sie betreut hat.

„Ich kenne die Namen all meiner Patienten, weiß über ihre Kinder, ihre Reisen und ihre Arbeit Bescheid. Ich stelle immer Fragen, weil ich wirklich an der Antwort interessiert bin.“

Ihr aufrichtiges Interesse am Leben ihrer Patienten ist nicht nur sozial bedingt. Ihre Erfahrung zeigt, dass die Informationen, die Patienten bereitstellen, einen wesentlichen Bestandteil einer guten Versorgung darstellen. Sie erinnert sich an eine Weisheit, die ihr ein älterer Arzt aus ihrer Abteilung mit auf den Weg gegeben hat.

„Er hat mir einmal gesagt, man müsse ihnen einfach zuhören; den Patienten zuhören. Sie werden einem alles sagen, was man für die Behandlung wissen muss. Seitdem nehme ich mir Zeit, um zuzuhören.“

Dieser einfache Ratschlag mag im Widerspruch zu den rasanten Fortschritten in der medizinischen Wissenschaft und Technologie stehen. Doch Dr. Tavares veranschaulicht ihren Standpunkt anhand eines aktuellen Beispiels aus ihren Erfahrungen mit der Koordination der Reaktion Portugals auf den Ausbruch der Affenpocken (Mpox) im Jahr 2022. Sie hat genau das getan: den Menschen zugehört. 

„Ich bin wirklich stolz darauf, wie wir damals vorgegangen sind, und es war so einfach, weil sie [durch Mpox gefährdete Menschen] uns gesagt haben, wie wir vorgehen sollten. Wir trafen auf unerwartete Akteure, darunter einen Saunabesitzer, der eine klare Vorstellung davon hatte, wie diese Krankheit zu bekämpfen ist und was man den Menschen sagen sollte. Wer hört inmitten einer Krise schon auf einen Saunabesitzer?! Doch er wusste genau, was zu tun war. Die Menschen können uns Gesundheitsfachkräften etwas beibringen. Wir müssen sie als maßgebliche Akteure sehen. Sie können uns die besten Lösungen aufzeigen. Die meiste Zeit müssen wir nicht für sie mitdenken.“ 

Die Bevölkerung schützen

Dr. Tavares Menschlichkeit geht über die einzelnen Patienten, die sie behandelt, hinaus. Ihre natürliche Sympathie für und ihr Sinn für Solidarität mit unterversorgten Bevölkerungsgruppen werden besonders deutlich. Wenn sie über Menschen spricht, die inhaftiert sind, weist sie auf die Realität ihrer Lebensumstände hin:

„Menschen in Haftanstalten waren in der Regel schon vor ihrer Inhaftierung benachteiligt. Die Freiheit zu verlieren, wenn man im Gefängnis sitzt, sollte nicht bedeuten, dass man sein Recht auf Gesundheit verliert; das sollte garantiert sein, insbesondere für Menschen, die ihre Freiheit verlieren. Wir müssen Menschen, die mit weniger angefangen haben, mehr geben. Im Strafvollzug gibt es so viele Schwierigkeiten und Benachteiligungen; dort müssen wir ansetzen.“

Tavares sagt, sie habe diese Grundsätze während ihres Studiums der öffentlichen Gesundheit gelernt. Es sind jedoch nicht einfach nur Werte, an die sie glaubt – ihre Forschung und ihre Erfahrung im Umgang mit Ausbrüchen von Infektionskrankheiten unterstreicht sie und bestärkt sie darin.

„In meinem Fachgebiet der Infektionskrankheiten habe ich den Bedarf an Chancengleichheit am deutlichsten gesehen. Um wirklich vorzusorgen, sollte man seinen Blick auf die am stärksten gefährdeten Menschen richten. Das ist der Ausgangspunkt. Gesundheitliche Notlagen betreffen immer unverhältnismäßig stark die Schwächsten, die Ärmsten und die am stärksten Gefährdeten in unserer Gesellschaft. Dies ist besonders wichtig für die nächste Pandemie oder Bedrohung durch eine Infektionskrankheit. Wir wollen Leiden lindern, und unsere Handlungskonzepte sollen die gesamte Bevölkerung schützen. Jeder profitiert von Prävention.“ 

Versorgung von Häftlingen

Dr. Tavares entschied sich zu einer Zeit für die Spezialisierung auf Infektionskrankheiten, als dies unter Medizinern noch nicht sehr beliebt war. Mitte der 1990er Jahre waren die Länder noch dabei, die verheerende HIV-/AIDS-Epidemie in den Griff zu bekommen. Es gab zwar wirksame Behandlungsmethoden, aber viele Menschen, darunter auch Angehörige der Gesundheitsberufe, hatten immer noch Angst davor, infizierte Patienten zu versorgen. In den ersten Jahren ihrer Tätigkeit als Ärztin waren die meisten ihrer Patienten HIV-positiv. Sie wurde zu einer unerschütterlichen Verbündeten und Fürsprecherin von Menschen mit HIV, einschließlich Menschen im Strafvollzug. Und das ist auch heute noch so. 

Die HIV-Prävalenz in portugiesischen Gefängnissen wird auf knapp 4 % geschätzt. Die Mehrzahl der Häftlinge haben während ihrer Inhaftierung Zugang zu medizinischer Versorgung. In vielen – wenn auch nicht in allen – Haftanstalten werden Vorsorgeuntersuchungen für Infektionskrankheiten wie HIV und Hepatitis C (HCV) durchgeführt, damit eine Behandlung eingeleitet werden kann. Eine Studie über ein Gefängnis in der Heimatstadt der Staatssekretärin, Porto, zeigt, dass die Diagnose einer HCV-Infektion bei einer beträchtlichen Anzahl von Patienten im Gefängnis gestellt wurde und dass das Virus nach einer 12-wöchigen Behandlung nicht mehr in ihrem Blut nachweisbar war. Die Verbesserung der HIV- und HCV-Versorgung von Häftlingen wird Teil eines neuen nationalen Plans zur Verbesserung der Gesundheit im Strafvollzug sein.

Chancengleichheit ist möglich

Im Jahr 2003 arbeitete Dr. Tavares im Universitätskrankenhaus São João in Porto. Während sie an einem Kurzlehrgang über Infektionskrankheiten an der Harvard University in Boston teilnahm, machte die WHO erstmals auf das Schwere Akute Respiratorische Syndrom (SARS) aufmerksam, eine neue virale Atemwegserkrankung, die in China aufgekommen war.

„Es war eindrucksvoll, zu dieser Zeit dort zu sein, denn plötzlich konzentrierte sich das gesamte Kursprogramm auf diese neue Notlage. Es war für mich eine Gelegenheit, von Anfang an eng in das Geschehen eingebunden zu sein.“

Seit ihrer Beteiligung an der SARS-Vorsorge in ihrer Region hat Dr. Tavares sich zur Leiterin des portugiesischen Programms für HIV und andere sexuell übertragbare Krankheiten hochgearbeitet. Darüber hinaus war sie maßgeblich an der Planung für Grippepandemien, das Ebola-Virus und die Coronavirus-Krankheit (COVID-19) beteiligt. Da es ihr nicht an praktischer Erfahrung mangelt, sitzt sie nun am Tisch der politischen Entscheidungsträger. 

„Chancengleichheit ist möglich. Wenn wir, hier im Gesundheitsministerium, es nicht wagen, wer dann? Menschen in Haftanstalten, Minderheiten, Migranten, gefährdete und schwache Menschen, alte Menschen – sie haben keine Stimme.“ Was ist ihre Botschaft an die politischen Entscheidungsträger in Bezug auf den Aufbau von Widerstandsfähigkeit und die Vorbereitung auf die nächste Pandemie? 

„Stellen Sie sicher, dass Ihre am stärksten gefährdete und schutzbedürftige Bevölkerung versorgt wird, einschließlich Menschen im Strafvollzug. Investieren Sie in die öffentliche Gesundheit; bereiten Sie Gesundheitsfachkräfte und Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens entsprechend vor; und beziehen Sie die Öffentlichkeit in die öffentliche Gesundheit ein, indem Sie mit den Menschen und Gemeinschaften zusammenarbeiten. Verrennen Sie sich nicht in Fragen der Sicherheit, wie dies bei der letzten Pandemie der Fall war und was zur Schließung der Grenzen führte. Ich lege mehr Wert auf Solidarität als auf Sicherheit.“

Bei der öffentlichen Gesundheit geht es im Kern um die Sicherheit der Allgemeinheit, und für Dr. Tavares ist es Solidarität im Rahmen politischer Konzepte und Maßnahmen, die dies bewirken wird.

Ein nationaler Plan für Gesundheit im Strafvollzug 

Im Februar 2023 richtete Portugal die Veröffentlichung des „Sachstandsberichts der WHO über Gesundheit im Strafvollzug in der Europäischen Region der WHO (2022)“ aus. Als Staatssekretärin nutzte Dr. Tavares die Gelegenheit, um einen politischen Dialog über die Gesundheit im portugiesischen Strafvollzug mit Haftentlassenen, in Haftanstalten tätigem Sicherheits- und Gesundheitspersonal, nichtstaatlichen Organisationen, Wissenschaftlern, der WHO und politischen Entscheidungsträgern einzuleiten. Der Bericht über diesen politischen Dialog ist online abrufbar. 

Als Ergebnis dieses Prozesses kündigte das Gesundheitsministerium die Einrichtung einer Arbeitsgruppe an, die damit beauftragt wurde, einen nationalen Plan zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung in Haftanstalten auszuarbeiten. Die Gruppe wird sich dabei auf die Daten der Europäischen Datenbank der WHO für Gesundheit im Strafvollzug (HIPED) stützen, um vorrangige Handlungsfelder zu ermitteln. Neben Organisationen der Zivilgesellschaft werden auch die Ministerien für Gesundheit, Justiz, Bildung und Wissenschaft in den Entscheidungsprozess einbezogen. WHO/Europa wird die Arbeit dieser Gruppe über ihr Kooperationszentrum am Institut für öffentliche Gesundheit der Universität Porto (ISPUP) überwachen und unterstützen.

Der nationale Plan soll bis Ende 2023 veröffentlicht werden, seine Umsetzung soll 2024 beginnen. Nur wenige Länder verfügen über öffentlich zugängliche strategische Pläne für den Strafvollzug. Neben Irland können die Fortschritte Portugals in diesem Bereich als potenzieller Wegweiser für andere Länder dienen.