Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa
Heute richte ich einen weiteren dringenden Appell an Regierungen und Zivilgesellschaft, in den kommenden Wochen und Monaten ihre Anstrengungen zu verstärken, damit die Affenpocken sich nicht in einem größeren geografischen Gebiet breit machen. Wenn wir in dem Wettlauf zur Umkehr der anhaltenden Ausbreitung der Krankheit Fortschritte erreichen wollen, brauchen wir dringend umgehende, abgestimmte Maßnahmen.
Europäische Region weiterhin im Epizentrum des sich ausbreitenden Ausbruchs
Auch wenn vergangene Woche der Notfallausschuss im Rahmen der IGV die Ansicht vertrat, dass der Ausbruch gegenwärtig noch keine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite darstellt, so wird der Ausschuss doch angesichts der rapiden Entwicklung und der Dringlichkeit des Ereignisses seine Position in Kürze nochmals überprüfen. In der Zwischenzeit stuft die WHO die Gefahr der Affenpocken in der Europäischen Region aufgrund der fortbestehenden Bedrohung für die öffentliche Gesundheit sowie der schnellen Ausbreitung der Krankheit, bei der unsere Reaktion durch anhaltende Herausforderungen beeinträchtigt wird und bei der zusätzliche Fälle unter Frauen und Kindern gemeldet wurden, weiterhin als hoch ein.
Im Augenblick stellt sich die Lage folgendermaßen dar: Fast 90% aller seit Mitte Mai im Labor bestätigten und weltweit gemeldeten Fälle entfallen auf die Europäische Region der WHO. Seit meiner letzten Erklärung am 15. Juni haben sechs neue Länder und Gebiete (insgesamt nun 31) Fälle von Affenpocken gemeldet, und im gleichen Zeitraum hat sich die Zahl der im Labor bestätigten neuen Fälle in der Europäischen Region mehr als verdreifacht und liegt nun bei über 4500.
Mit neuen Daten zu einem besseren Verständnis der Krankheit und ihrer Ausbreitung
Es ist wichtig, dass wir verstehen, was die Daten aus der Europäischen Region uns sagen.
Das WHO-Regionalbüro für Europa (WHO/Europa) und das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) veröffentlichen wöchentlich einen gemeinsamen Nachrichtenbrief zur Surveillance der Affenpocken, in dem die aktuelle Lage zusammengefasst und eine gemeinsame Analyse der sich rapide verändernden Situation in der Europäischen Region erstellt wird.
Ein Großteil der bisher gemeldeten Fälle wurde in der Altersgruppe von 21 bis 40 Jahren verzeichnet, davon 99% unter Männern, wobei die Mehrheit der Fälle, über die uns Informationen vorliegen, auf Männer mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten entfielen. Doch inzwischen wurde auch eine kleine Zahl von Fällen unter Haushaltsmitgliedern, unter heterosexuellen und nichtsexuellen Kontaktpersonen sowie unter Kindern gemeldet. Dort, wo Informationen vorliegen, wurden knapp 10% der Patienten entweder zur Behandlung oder zu Isolationszwecken ins Krankenhaus eingewiesen, und ein Patient wurde auf die Intensivstation gebracht. Glücklicherweise wurden bisher noch keine Todesfälle gemeldet. Die überwältigende Mehrzahl der Fälle wiesen einen Ausschlag auf, und etwa drei Viertel berichteten von Symptomen wie Fieber, Erschöpfung, Muskelschmerzen, Erbrechen, Durchfall, Schüttelfrost, Halsschmerzen oder Kopfschmerzen.
Die WHO ist den 26 Ländern und Gebieten dankbar, die dem ECDC und WHO/Europa über das Europäische Surveillance-System (TESSy) ausführliche Informationen übermittelt haben. Wir müssen diese Informationen in den kommenden Wochen und Monaten weiter sorgfältig prüfen, um die bestehenden Expositionsrisiken und das klinische Krankheitsbild in verschiedenen Bevölkerungsgruppen besser zu verstehen und vor allem unverzüglich jegliche Veränderungen in der Entwicklung des Ausbruchs zu bestimmen, die Einfluss auf unsere Risikoabschätzung für die öffentliche Gesundheit hätten.
Kein Platz für Selbstzufriedenheit
Lassen Sie mich eines klarstellen: Es gibt keinen Platz für Selbstzufriedenheit – schon gar nicht hier in der Europäischen Region mit ihrem rasant voranschreitenden Ausbruch, dessen Reichweite sich stündlich, täglich und wöchentlich auf bisher nicht betroffene Gebiete ausdehnt.
Bei WHO/Europa bemühen wir uns gemeinsam mit Regierungen, mit unserer Partnerorganisation ECDC und mit Akteuren aus der Zivilgesellschaft wie den Organisatoren von sommerlichen Massenveranstaltungen wie Pride und anderen Festivals um eine Bewältigung der vor uns liegenden Herausforderungen.
Die Herausforderung wird in manchen Ländern noch durch die Stigmatisierung von Männern mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten verschärft. Aus Angst vor Konsequenzen wenden sich viele von ihnen möglicherweise nicht an die Gesundheitsbehörden. Die Erfahrung im Umgang mit HIV hat gezeigt, wie Stigmatisierung Krankheitsausbrüche und Epidemien weiter verschärft, doch es ist vielleicht genauso gefährlich, wenn die Angst vor der Begünstigung von Stigmatisierung uns am Handeln hindert.
Gestatten Sie mir deshalb, nochmals die wichtigsten Grundsätze hervorzuheben.
Erstens müssen die Länder schnell die Surveillance auf Affenpocken ausweiten, auch durch verstärkte Sequenzierung, und für die notwendigen Kapazitäten für Diagnose und Bekämpfung der Krankheit sorgen. Es gilt, die Fälle zu entdecken und in einem Labor zu untersuchen und dann zügig die Kontaktpersonen zu ermitteln, um das Risiko einer weiteren Ausbreitung zu verringern. WHO/Europa unterstützt die Länder durch Bereitstellung von Tests auf das Affenpockenvirus sowie von Schulungen für die erforderliche Diagnose in 17 Mitgliedstaaten. Bisher haben wir insgesamt fast 3000 Tests an sieben Mitgliedstaaten ausgeliefert, und Lieferungen an andere Länder sind in Vorbereitung.
Zweitens gilt es, die richtigen Botschaften auf möglichst verständliche Weise an die betroffenen Gruppen und die Allgemeinheit zu verbreiten. WHO/Europa und das ECDC haben einen gemeinsamen Leitfaden für Risikokommunikation sowie sommerliche und andere Massenveranstaltungen veröffentlicht, und ein Instrumentarium für kommunale Gesundheitsbehörden soll demnächst präsentiert werden.
Drittens: Nicht zuletzt erfordert die Bekämpfung der Affenpocken einen festen politischen Willen, der durch solide Investitionen in die öffentliche Gesundheit ergänzt wird. Wie bei jeder Herausforderung bedarf es politischer Führung, um die Reaktion des öffentlichen Gesundheitswesens zu unterstützen. Transparenz ist eng mit dem Vertrauen der Öffentlichkeit verknüpft und kann dafür sorgen, dass Defizite bei der Bekämpfung der Affenpocken schnell behoben werden können und dass die Länder partnerschaftlich mit der WHO und miteinander auf das gemeinsame Wohl hinarbeiten. Bei der Beschaffung und Verwendung von Impfstoffen müssen die Grundsätze der Chancengleichheit und der bedarfsgerechten Bereitstellung zur Anwendung kommen. Dies muss so geschehen, dass Belege für diese Intervention gewonnen werden, etwa durch Anwendung von Standardprotokollen zur Bewertung der Wirksamkeit von Impfstoffen und mit Systemen zur Kontrolle der Sicherheit dieser Produkte für den Einsatz in verschiedenen Bevölkerungsgruppen.
Die Affenpocken haben uns erneut vor Augen geführt, wie Krankheiten, die in einigen wenigen Ländern endemisch sind oder neu auftreten, schnell zu Seuchenausbrüchen führen können, die Auswirkungen auf ferne Regionen und sogar die ganze Welt haben. Dieser Ausbruch stellt einmal mehr die politische Entschlossenheit einzelner Mitgliedstaaten und der Europäischen Region insgesamt auf die Probe. Vergeuden wir diese Chance nicht, sondern machen wir uns die während COVID-19 gewonnenen Erfahrungen zunutze, indem wir zügig und entschlossen das Richtige tun – zum Nutzen unserer gesamten Region und darüber hinaus.