Die Bedeutung von Schulungen für einen Massenanfall von Verletzten vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine: ein Interview mit Prof. Johan von Schreeb

2 May 2022
Pressemitteilung
Reading time:
Die Bedeutung von Schulungen für einen Massenanfall von Verletzten vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine: ein Interview mit Prof. Johan von Schreeb

Johan von Schreeb ist Professor für Globale Katastrophenmedizin in der Fakultät Globale Gesundheitspolitik am Karolinska-Institut in Schweden und Leiter des Forschungszentrums für Gesundheitsversorgung in Krisensituationen, einem Kooperationszentrum der WHO, das Kurse in globaler Katastrophenmedizin veranstaltet. In jüngster Zeit hat er in der Ukraine und ihren Nachbarländern in großem Umfang Schulungen für einen Massenanfall von Verletzten durchgeführt. 

Wie ist Ihr fachlicher Hintergrund, und welche Erfahrungen haben Sie im Umgang mit Ereignissen mit hohen Opferzahlen?


Ich bin Arzt mit Ausbildung in allgemeiner Chirurgie. In den letzten 35 Jahren habe ich in verschiedenen Teilen der Welt, zunächst mit Ärzte ohne Grenzen in Afghanistan, Missionen absolviert, in denen es um Bewältigung von Naturkatastrophen und Konflikten ging. 

2014 wurde ich Koordinator eines Medizinischen Notfallteams der WHO. In dieser Eigenschaft war ich von 2016 bis 2017 u. a. für die Bereitstellung von Traumaversorgung in der irakischen Provinz Mossul und später für die Durchführung von Schulungen über Traumaversorgung zuständig, und zwar 2017 in den Konfliktgebieten der Region Donezk in der Ostukraine und 2018 im Jemen. 2021 unterstützte ich die WHO im Libanon nach der Explosion in Beirut und führte im Irak Schulungen über die Bewältigung hoher Opferzahlen durch. 

Anfangs war ich als Traumachirurg tätig, aber mit der Zeit habe ich dann zunehmend Koordinierungsaufgaben übernommen, bei denen ich sämtliche Akteure in Notfallsituationen zusammenbrachte und mit den Gesundheitsministerien in den betroffenen Ländern dafür sorgte, dass die geltenden Normen angewandt werden und die Mitarbeiter vor Ort die nötigen Schulungen erhalten.

Wie sehen Ihre Aufgaben während des Krieges in der Ukraine aus?


Die WHO hat mich gebeten, die internationale Hilfe für die Ukraine in den Bereichen Traumaversorgung und Rehabilitation zu koordinieren. Die Rahmenbedingungen sind äußerst komplex. Einerseits gibt es ein durchaus gut funktionierendes Gesundheitssystem mit etwa 1600 Krankenhäusern im ganzen Land, in denen Tausende von ausgebildeten Chirurgen arbeiten. Andererseits sind diese Chirurgen nicht an die Art von Verletzungen gewöhnt, wie wir sie in diesem Konflikt sehen, und das stellt das Gesundheitssystem vor echte Probleme. 

Deshalb ist es meine Aufgabe, zusammen mit unserem internationalen Expertenteam das Gesundheitsministerium, die Chirurgen und die Krankenhäuser zu unterstützen, aber auf respektvolle Art und Weise.  Wir bemühen uns, die Lücken zu schließen, zusätzliches Wissen beizusteuern und unseren Sachverstand in Bezug auf die Bewältigung hoher Opferzahlen einzusetzen.

Warum ist die Schulung des örtlichen Personals so wichtig?


Wie gesagt, das Gesundheitspersonal ist nicht an den Umgang mit den Arten und Zahlen von Verletzungen gewöhnt, wie sie in Kriegssituationen anfallen. In kriegerischen Konflikten erlittene Verletzungen führen oft zu starken Blutungen, sodass Zeit der entscheidende Faktor ist. Alle, die entlang des sog. „Traumapfades“ beteiligt sind, müssen wissen, was sie tun, damit der Patient so schnell wie möglich stabilisiert werden kann. Diejenigen, die in der Nähe der verletzten Person sind, müssen sofort versuchen, die Blutung zu stoppen, indem sie Druck ausüben oder verletzte Gliedmaßen abbinden. Dann muss der Patient vor allem möglichst schnell ins Krankenhaus gebracht werden, wo man die Blutung chirurgisch stoppen kann; ansonsten stirbt der Patient wahrscheinlich.

Worin besteht die Schulung für die Bewältigung eines Massenanfalls von Verletzten?


Wir simulieren ein breites Spektrum von Verletzungen an ca. 60 künstlichen Patienten und besprechen dann mit den Teilnehmern, wie sie den Patientenfluss effektiv bewältigen können. Dies beginnt mit der ersten Patientenbeurteilung – Untersuchung von Atemwegen, Atmung, Kreislauf, Behinderung und Expositionszeit – die die meisten Notfallmediziner schon kennen. Doch dies in einer Notfallsituation mit vielen Patienten gleichzeitig zu tun, kann zu einer echten Herausforderung werden. 

Wir prüfen auch, wie die Notaufnahme auf das Eintreffen einer großen Zahl von Patienten vorbereitet werden muss, und schulen die Teilnehmer für die Triage bzw. die Sortierung der Patienten nach einem Farbensystem je nach Schweregrad der Verletzungen und ihrer Priorität im Hinblick auf eine Operation. Natürlich werden Personen, die wiederbelebt werden müssen oder lebensgefährlich verletzt sind, in der roten Kategorie eingestuft und so bald wie möglich in die Notaufnahme gebracht, wo sie umgehend die nötige Versorgung erhalten und hoffentlich ihr Leben gerettet werden kann. 

Wie trägt die WHO zu der Schulung und zur Bewältigung von Situationen mit einem Massenanfall von Verletzten bei?


Die Medizinischen Notfallteams der WHO gibt es seit über zehn Jahren, in denen wir aus einem breiten Spektrum von Notlagen viel Wissen und Erfahrung gewinnen konnten. Wir haben in unseren Reihen auch Wissenschaftler, die zusammen mit der WHO Artikel veröffentlichen und Protokolle aktualisieren, damit wir mit unseren Kursinhalten auch immer auf dem neuesten Stand sind. Dank dieses gesammelten Erfahrungsschatzes und Sachverstands kann die WHO sinnvolle Leitlinien und Mindestnormen entwickeln und systematisch umsetzen und dabei das Personal in den betroffenen Ländern einbeziehen. 

Wie sehen die Rahmenbedingungen in der Ukraine aus, und wie haben sie Ihre Schulungsinhalte beeinflusst?


Hier muss ich hervorheben, dass unsere Schulungen jeweils auf die besonderen Gegebenheiten zugeschnitten sein müssen – Sie können in der Ukraine nicht dieselbe Art von Schulung durchführen wie beispielsweise in Somalia, Südsudan oder Afghanistan. Vor Ausbruch des Konflikts hatte die Ukraine ein leistungsfähiges Gesundheitssystem mit vielen gut ausgebildeten Ärzten und Pflegekräften und einer Vielzahl von Krankenhäusern. Leider sind inzwischen manche Gesundheitseinrichtungen bombardiert und sogar zerstört worden.  

Im Augenblick ist es oft sehr schwierig, in die Nähe der Verletzten zu kommen, da sie sich meist in unsicheren Gebieten mit aktiven Kampfhandlungen befinden, die nur schwer zugänglich sind. Trotzdem schlägt sich das ukrainische Gesundheitssystem beim Umgang mit den Verletzten gut, entweder direkt am Ort der Verletzung oder durch Abtransport zur Operation. 

Doch es bleiben Lücken bei Wissen und Ressourcen, die wir zu schließen versuchen. So erleben wir sehr komplizierte Verletzungen wie offene Brüche und schlimme Wunden von Granatsplittern, die sehr schwierig zu versorgen sind. Deshalb nehmen wir neben den örtlichen Chirurgen auch orthoplastische Chirurgen mit. Wir sehen auch viele Kinder mit gebrochenen Gliedmaßen und haben daher eine Art Metallsystem eingeführt, mit dem die Chirurgen Brüche von außen stabilisieren können. 

Ein besonders wichtiger Teil dieser ergänzenden Arbeit bestand darin, für eine funktionierende Blutbank zu sorgen, weil man bei stark blutenden Patienten ungefähr zehnmal so viel Blut braucht wie bei normalen Traumapatienten. 

Obwohl also einige Lücken geschlossen werden müssen, trägt doch die Schulung von Chirurgen und anderem medizinischem Personal aus der Ukraine für die Fortsetzung dieser Arbeit dazu bei, ihre Fähigkeiten in Bereichen zu erweitern, wie man sie nur bei Ereignissen mit einem Massenanfall von Verletzten bekommt. 

Wie viele Personen haben schon an der Schulung in der Ukraine teilgenommen?


Neben der praktischen Schulung, an der bisher 200 Personen teilgenommen haben, führen wir auch ein zweimal wöchentlich stattfindendes Webinar über Operationen zur Schadensminderung durch, an dem jeweils über 450 Personen aus allen Teilen der Ukraine teilnehmen.

Die Teilnehmer aller unserer Kurse waren in hohem Maße interessiert und motiviert, da sie wissen, dass die von uns simulierten MANV-Situationen für sie im wirklichen Leben durchaus realistisch sein könnten. Gestern führten wir in einem Krankenhaus, das vor drei Wochen nach einem Bombenangriff 100 Verletzte versorgen musste, einen Workshop über die Bewältigung hoher Opferzahlen durch. Für viele Teilnehmer ist also der Umgang mit hohen Opferzahlen bereits eine traurige und bedrückende Realität.

Welchen langfristigen Nutzen könnten diese Schulungen haben?


Heutzutage spezialisieren sich Chirurgen meist auf ein Fachgebiet. Mit dieser Schulung erweitern sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse für die Bewältigung eines breiten Spektrums von Verletzungen, was für das nationale Gesundheitssystem von Nutzen ist, wenn es einmal zu Spitzenbelastungen kommt. Außerdem können die Teilnehmer auch in internationalen medizinischen Notfallteams tätig werden, die weltweit in anderen Situationen mit hohen Opferzahlen eingesetzt werden, und so gewissermaßen die nächste Generation von Chirurgen heranziehen.