Erklärung – Erste Tagung des Bündnisses für psychische Gesundheit von WHO/Europa – Von der Diskussion zum Handeln

4 May 2022
Aussage
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Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

4. Mai 2022

Sehr geehrte Frau Kommissarin Kyriakides, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde! 

Herzlich willkommen zu dieser lange erwarteten Tagung, die seit dem Startschuss für das Europäische Bündnis für psychische Gesundheit im vergangenen September noch an Bedeutung gewonnen hat.

Unsere Region erlebt derzeit wahrhaft umwälzende Veränderungen. 

Eine Pandemie hat in beispiellosem Maße die Bedeutung der psychischen Gesundheit in den Vordergrund gerückt. Nun hat auch ein bewaffneter Konflikt gravierende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Millionen Menschen. 

Der nun schon zehn Wochen dauernde Krieg in der Ukraine hat in ungeheurem Ausmaß Ungewissheit und Unsicherheit, Trauer und Verlust gebracht. Durch mittlerweile fast 190 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen in dem Land wurden zahllose Menschen der Hoffnung und des Zugangs zur Gesundheitsversorgung beraubt. Ernährungsunsicherheit und Sicherheitsbedenken greifen in der Ukraine und ihren Nachbarländern rapide um sich. Die Kampfhandlungen führen in unermesslichem Umfang zum Verlust von Menschenleben und Existenzen, zu Zwangsvertreibung und zur Trennung von Familien. 

Das Psychiatriesystem der Ukraine, das über mehrere Jahre durch die Sonderinitiative der WHO für psychische Gesundheit gestärkt wurde, hat bereits reagiert – mit einer groß angelegten Schulung von Freiwilligen, der Förderung von Instrumenten zur Selbsthilfe und der Unterstützung der Schutzbedürftigsten in Einrichtungen in dem vom Krieg zerrissenen Land. 

Auch die Nachbarländer der Ukraine sind aufgrund des starken Zustroms von Flüchtlingen mit einem enormen Anstieg der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen – auch im Bereich der psychischen Gesundheit – konfrontiert. Auf der Hochrangigen Tagung über Migration und Gesundheit im März in Istanbul wurde hervorgehoben, dass die psychische Gesundheitsversorgung von Migranten und Flüchtlingen im Rahmen des regulären Psychiatriewesens eines Landes erfolgen sollte, wie dies nun in den Nachbarländern der Ukraine geschieht. 

WHO/Europa hat Experten für psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung entsandt, um zusammen mit den zuständigen nationalen Behörden auf die seelischen Bedürfnisse der aus der Ukraine Geflüchteten zu reagieren. 

Gleichzeitig haben sich manche Dinge in unserer Region leider nicht verändert. 

  1. Psychische Gesundheitsprobleme sind nach wie vor weit verbreitet. Depressionen und Angstzustände gehören weiterhin zu den größten Einflussfaktoren für die Krankheitslast. COVID-19 hat die Situation weiter verschärft. 
  2. Jährlich sterben in unserer Region fast 130 000 Menschen aufgrund von Suizid – eine unerträglich hohe Zahl. 
  3. Nur ein Bruchteil der Hilfebedürftigen erhält eine ausreichende Behandlung oder Versorgung ihrer psychischen Probleme. Es fehlt an Präventionsangeboten, und Stigmatisierung ist ein weit verbreitetes Problem.
Das Europäische Bündnis für psychische Gesundheit wurde gegründet, um dies zu ändern – um in unserer Region auf allen Ebenen tätig zu werden und den ungedeckten Bedarf in der psychischen Gesundheitsversorgung zu decken. 

Eine allgemeine Gesundheitsversorgung mit der psychischen Gesundheit im Mittelpunkt ist der Schlüssel zu besseren Resultaten im Bereich der öffentlichen Gesundheit. Deshalb ist das Bündnis für psychische Gesundheit eine der vier Flaggschiff-Initiativen des Europäischen Arbeitsprogramms, unserer übergeordneten Strategie für Gesundheit und Wohlbefinden in der Europäischen Region der WHO, der alle Mitgliedstaaten zugestimmt haben. 

Doch die psychische Gesundheit ist ein alles durchdringender, komplexer Themenbereich, der nicht von den Gesundheitssystemen allein bewältigt werden kann. Um Fortschritte zu erreichen, brauchen wir: 

  1. Bildungsorganisationen, wissenschaftliche Einrichtungen, Arbeitsorganisationen sowie lokale und internationale nichtstaatliche Organisationen, um konzeptionelle und systemische Strukturen zu schaffen und durchzusetzen, und zwar gemeinsam;
  2. Personen mit Sachkenntnis und Personen mit gelebten Erfahrungen mit psychischen Gesundheitsproblemen, die als Vorkämpfer, Leitfiguren und Gestalter von Reformen in allen Bereichen der Gesellschaft agieren; 
  3. auf gemeinsame Indikatoren gestützte Daten zur Messung des Ausmaßes jedes einzelnen Themas und der zu seiner Inangriffnahme erforderlichen Anstrengungen.
Das Arbeitspensum des Bündnisses und die von ihm anzuwendenden Verfahren, mit deren Gestaltung wir heute beginnen, werden dafür sorgen, dass alle unsere Mitgliedstaaten, von den am besten bis zu den am schlechtesten ausgestatteten, die Bedürfnisse ihrer Bevölkerung möglichst gut erfüllen und allen eine Chance auf eine gedeihliche Entwicklung eröffnen können.

An dieser Stelle möchte ich Ihnen nochmals die treffenden Worte von Aimee-Louise Carton in Erinnerung rufen, einer jungen Vorkämpferin für psychische Gesundheit, die im vergangenen Jahr anlässlich der Einweihung des Bündnisses für psychische Gesundheit sagte: „Jede und jeder von Ihnen, muss heute eine Entscheidung treffen: Wie weit sind Sie bereit zu gehen, um die nächste Generation zu schützen? Ihre Entscheidungen in den kommenden Jahren sind es, worauf es ankommt. Sie könnten der Grund sein, warum ein junger Mensch, der allein auf einer Brücke steht, überlebt und wieder lernt, das Leben zu lieben.“

Ich werde Ihre Diskussionen heute aufmerksam verfolgen – sie sind für uns alle so immens wichtig. 

Ich danke Ihnen.