Der Grenzübergang in der polnischen Stadt Korczowa wirkt aus der Entfernung sehr ruhig, doch der Schein trügt. Denn auf der ukrainischen Seite wartet ein einen Kilometer langer Convoy von Krankenwagen darauf, die Grenze nach Polen überqueren zu dürfen.
Der Convoy wird von einem Team polnischer Ärzte und Sanitäter angeführt, die für HUMANOSH, eine als Durchführungspartnerin der WHO gegründete Stiftung für die Flüchtlingshilfe, arbeiten. Ihr Auftrag lautet heute, die medizinische Evakuierung von 24 kranken oder verletzten Patienten aus einem Krankenhaus in Lviv (Ukraine) zu organisieren; der Transport ist seit Tagesanbruch unterwegs.
Jakub Bałaban, ein Sanitäter und medizinischer Leiter von HUMANOSH, springt aus seinem Fahrzeug und erzählt uns von den Schwierigkeiten seiner Mission: „Der Transport von Patienten durch die Ukraine und über die Grenze ist ziemlich problematisch, nicht nur wegen der Sicherheitsrisiken, sondern auch wegen der großen Entfernungen, der erforderlichen Zeit und des Zustands der Patienten, die wir evakuieren – denn viele von ihnen sind schwer krank.“
Nach Überquerung der Grenze werden er und die anderen Sanitäter mehr als eine Stunde zu der neuen Sammelstelle für medizinische Evakuierungen fahren, die strategisch günstig nahe dem Flughafen der polnischen Stadt Rzeszów liegt.
Diese am 1. September 2022 eröffnete Sammelstelle wird von einem medizinischen Notfallteam des Polnischen Zentrums für internationale Hilfe (PCPM) mit Unterstützung der WHO, der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und der Europäischen Union betrieben. Sie soll aus der Ukraine eintreffenden Patienten einen sicheren Raum bieten, bevor sie zur Behandlung in andere europäische Länder ausgeflogen werden. Zu den rund um die Uhr angebotenen Leistungen gehören eine pflegerische Versorgung, Vorsorgeuntersuchungen auf verschiedene Krankheiten und psychologische Betreuung.
Adam Szyszka, ein medizinischer Koordinator für das PCPM, erklärt, wie die Sammelstelle funktioniert: „An der Sammelstelle können wir 20 Patienten gleichzeitig versorgen und bis zu 30 Familienangehörige oder Freunde unserer Patienten unterbringen. Auch wenn wir keine Behandlungseinrichtung sind, so ist es doch unser Ziel, während des Transports aus der Ukraine nach Polen zu medizinischen Einrichtungen in der Europäischen Union eine bestmögliche Versorgung zu leisten.“
Zu den Patienten, die uns in der Sammelstelle begegnen, gehört auch der 12-jährige Jaroslav aus der Provinz Poltava in der zentralen Ukraine. Er kam zusammen mit seiner Mutter Natalia in einem Convoy an, und beide sollen morgen nach Schweden ausgeflogen werden. Jaroslav braucht dringend eine Lebertransplantation, wie Natalia uns erzählt: „Jaroslavs Gesundheit hat sehr gelitten. Vor drei Jahren bekam er seine erste Transplantation, aber das transplantierte Organ funktioniert nicht mehr richtig. Zur Zeit ist es wegen des Krieges in der Ukraine unmöglich, dort eine andere Transplantation zu erhalten.
Glücklicherweise haben wir von unseren Ärzten von dem Programm für medizinische Evakuierung erfahren, und mit ihrer Hilfe und mit Unterstützung durch das ukrainische Gesundheitsministerium konnten wir die Reise durchführen.“
Für Jakub Bałaban und sein Team von Ärzten und Sanitätern ist das Erreichen der Sammelstelle noch lange nicht das Ende der Reise: „Wenn wir unsere Patienten abgeliefert haben, fahren wir nach Südpolen, zu einem Krankenhaus in Czeladź, wo wir 15 Patienten abholen sollen, deren Behandlung abgeschlossen ist und die wir wieder in die Ukraine bringen sollen. Wenn wir Glück haben, sind wir um ein Uhr morgens wieder in Lviv.“
Seit der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar hat die Europäische Kommission medizinische Evakuierungen aus Polen in 18 europäische Länder unterstützt, bei denen bisher über 1000 ukrainische Patienten zur Behandlung ins Ausland gebracht wurden.
Dr. Paloma Cuchί, Repräsentantin der WHO in Polen, bringt auf den Punkt, warum medizinische Evakuierungen so wichtig sind: „Die Sicherung von Gesundheit und Wohlbefinden aller Menschen steht im Mittelpunkt des Auftrags der WHO. Sieben Monate Krieg haben sich verheerend auf Gesundheit und Leben der Menschen in der Ukraine ausgewirkt und auch Polen erheblich belastet, wo viele der Flüchtlinge Sicherheit suchen. Die Zahl der Verletzten in der Ukraine wächst von Tag zu Tag und droht das dortige Gesundheitssystem – und die Gesundheitssysteme in den Aufnahmeländern – zu überlasten. Unsere Aufgabe heute besteht darin, bei schwer kranken Patienten lebensrettende Behandlungen durchzuführen und das vom Krieg geschüttelte Gesundheitssystem ihres Landes zu entlasten. Daher die europäische Solidarität und unsere gemeinsamen Anstrengungen mit nationalen und internationalen Partnern zur Organisation medizinischer Evakuierungen.“