Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa
Kopenhagen, 8. März 2022
Guten Morgen, guten Tag!
Es ist nun dreizehn Tage her, seit die Militäroffensive in der Ukraine begann, und mittlerweile werden wir Zeuge, wie das Gesundheitssystem des Landes unter zunehmenden Druck gerät und sich über die Landesgrenzen hinaus innerhalb kürzester Zeit eine der dramatischsten Flüchtlingskrisen entwickelt, die Europa seit über 75 Jahren erlebt hat.
In diesen schwierigen Tagen verfolgt die WHO drei vorrangige Prioritäten:
Erstens sind wir darum bemüht, die benötigten Gesundheitsgüter in die Ukraine zu bringen und ein nachhaltiges System für eine „sichere Durchfahrt“ zu gewährleisten zur Lieferung humanitärer Gesundheitsgüter in jene Gebiete des Landes, wo sie dringend gebraucht werden. Zur Einrichtung einer solchen Route arbeite ich eng mit Amin Awad, Beigeordnetem Generalsekretär und Krisenkoordinator der Vereinten Nationen für die Ukraine, zusammen.
Lebensrettende unentbehrliche Arzneimittel wie Sauerstoff und Insulin, persönliche Schutzausrüstung, chirurgisches Material, Narkosemittel und sichere Blutprodukte sind derzeit Mangelware. Gegenwärtig befinden sich zwei Lieferungen mit einem Gesamtgewicht von 76 Tonnen (36 + 40 Tonnen) an traumatologischen und notfallmedizinischen Gütern sowie Gefrier- und Kühlschränken, Eispackungen und Kühlboxen auf dem Transportweg in die Ukraine. Weitere Lieferungen mit 500 Sauerstoffkonzentratoren sowie weiteren Gütern sind ebenfalls unterwegs.
Unsere zweite Priorität besteht darin sicherzustellen, dass die Nachbarländer der Ukraine über die nötige Infrastruktur und Expertise verfügen, um auf die dringenden gesundheitlichen Bedürfnisse der ankommenden Flüchtlinge einzugehen. Schätzungen von UNHCR zufolge haben seit dem 24. Februar bereits über 1,7 Mio. Menschen die Ukraine verlassen, wobei die überwiegende Mehrzahl von ihnen Frauen und Kinder sind. All jenen, die Zuflucht suchen, einschließlich Ausländern, die zuvor in der Ukraine lebten, muss in ganz Europa Bewegungsfreiheit gewährt werden.
Wir haben Expertenteams der WHO nach Polen, Rumänien und Ungarn und in die Republik Moldau entsandt, wo sie mit UNHCR zusammenarbeiten und sich eng mit den jeweiligen Regierungen und zuständigen Behörden und Partnern vor Ort abstimmen werden, um die Bedürfnisse der ankommenden Flüchtlinge bei ihrem Eintreffen an den Grenzen zu beurteilen, Kapazitäten in den Gesundheitssystemen aufzubauen, um eine große Anzahl an Flüchtlingen aufnehmen zu können, und den Zugang zu entsprechenden Leistungen zu gewährleisten.
Am letzten Donnerstag habe ich persönlich die Ankunft der ersten Lieferung von Hilfsgütern der WHO beaufsichtigt und hatte dabei Gelegenheit, bei meinem Besuch im Grenzgebiet von Rzeszow in Polen ein paar Menschen zu treffen, die kurz zuvor aus der Ukraine angekommen waren. Dabei habe ich mehr gesehen als nur Erschöpfung und Erleichterung. In den Augen der Kinder und Frauen sah ich auch Unsicherheit und Qual. Ihre gesundheitlichen Bedürfnisse reichen von Angeboten für impfpräventable Krankheiten, über die Versorgung von Müttern, Neugeborenen und Kindern bis hin zur Behandlung von nichtübertragbaren Krankheiten und von HIV und Tuberkulose sowie nicht zuletzt zu Angeboten der psychischen Gesundheitsversorgung und psychosozialen Unterstützung. An dieser Stelle möchte ich hinzufügen, dass der Empfang, der ihnen von den Menschen vor Ort und vom Gesundheitspersonal zuteil wurde, phänomenal war.
In der nächsten Woche werden wir auf Ebene der Europäischen Region eine seit langem geplante Tagung zur Gesundheit von Flüchtlingen und Migranten abhalten. Dabei werden Gesundheitsminister sowie Vertreter von Flüchtlings- und Migrantengruppen, Partnerorganisationen und anderen WHO Regionen zusammenkommen, um den gegenwärtigen Bedürfnissen in einem längerfristigen Kontext Rechnung zu tragen. Durch politische Entschlossenheit und Partnerschaften möchten wir in diesem Zusammenhang eine neue Vision für die Gesundheit von Flüchtlingen und Migranten schaffen, in allen Teilen der Europäischen Region und darüber hinaus.
Unser dritter gegenwärtiger Fokus liegt auf der Unterstützung bei unmittelbaren gesundheitsbezogenen Anforderungen innerhalb der Ukraine durch ein voll funktionsfähiges Operationszentrum der WHO im Westen des Landes. Wir reagieren damit auf den dringenden Bedarf an Unterstützung in den Bereichen Traumatologie und Verletzungen mit Hilfe von raschen Auffrischungsschulungen, Hilfsgütern und Personal durch die Mobilisierung entsprechender medizinischer Teams.
Die Kontinuität der Versorgung für Menschen mit langfristigen gesundheitlichen Bedürfnissen stellt eine enorme Herausforderung dar, da die unterbrochenen Versorgungswege die Behandlung von Krankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck sowie Krebserkrankungen beeinträchtigen.
Schätzungen des UNFPA zufolge werden rund 80 000 Frauen in den nächsten drei Monaten ohne Zugang zur wesentlichen Gesundheitsversorgung von Müttern Kinder zur Welt bringen.
Die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung von Impfprogrammen und die kontinuierliche Behandlung von Menschen mit Tuberkulose und HIV sind ebenso wichtige Prioritäten wie die Bereitstellung von Angeboten der psychischen Gesundheitsversorgung.
Wir sind darum bemüht, diese grundlegenden medizinischen Bedürfnisse durch feste Einrichtungen und Feldlazarette sowie mobile Gesundheitsangebote zu unterstützen und gleichzeitig wichtige Diagnostika, Arzneimittel und medizinische Güter bereitzustellen.
Es sollte nicht erwähnt werden müssen, dass Gesundheitspersonal, Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen niemals zu Angriffszielen werden dürfen, auch nicht während einer Krise oder in einem Konflikt. Gegenwärtig wurden bereits 16 bestätigte Fälle gemeldet, in denen Gesundheitseinrichtungen in der Ukraine angegriffen wurden, und weitere werden derzeit verifiziert. Die WHO verurteilt solche Angriffe auf das Gesundheitswesen auf das Schärfste.
Am heutigen Tag begehen wir den Internationalen Frauentag, einen Tag, an dem wir feiern sollten, auf welch vielfältige Weise Frauen unsere Welt zu einer besseren machen – etwa als ökologische Unternehmerinnen, Gesundheitspioniere, Vorreiterinnen in ihren Gemeinschaften und politische Vorbilder. Doch angesichts der aktuellen Ereignisse im Osten Europas muss ich insbesondere ihre Führungskompetenz anerkennen und auf die Notwendigkeit hinweisen, ihrer Stimme in dieser Krise Gehör zu verschaffen.
Frauen sind die wichtigsten Hilfeleistenden in dieser humanitären Notlage.
Vor dem 24. Februar standen in 71% der Haushalte in den Konfliktgebieten der Ukraine Frauen an der Spitze, und gegenwärtig erhöht sich diese Zahl Tag um Tag. Sie machen 83% des Gesundheitspersonals im Land aus. Frauen sind Ernährer und sorgen zugleich für Kinder und gebrechliche Menschen. Sie organisieren und leisten Hilfe und Unterstützung. Und sie riskieren ihr Leben, um lebensrettende Gesundheitsleistungen zu erbringen.
In Konfliktsituationen und auf der Flucht sind Frauen besonderen Risiken ausgesetzt und haben besondere gesundheitliche Bedürfnisse.
Vergangene Konflikte haben uns gezeigt, dass jugendliche Mädchen, Frauen mit Behinderungen und ältere Frauen am stärksten gefährdet sind. Sie sind einem besonders hohen Risiko ausgesetzt, von Menschen außerhalb ihres häuslichen Umfeldes und von bewaffneten Gruppen angegriffen zu werden, Gewalt durch Intimpartner zu erleben oder Opfer von sexuellem Missbrauch und Ausbeutung zu werden.
Den gesundheitlichen Bedürfnissen von Frauen und Mädchen, einschließlich geburtshilflicher Notversorgung, der Gesundheitsversorgung von Müttern, reproduktiver Gesundheit und der Reaktion auf sexuelle und geschlechtsbedingte Gewalt, muss Priorität eingeräumt werden.
Frauen spielen beim Abbau von Konflikten und der Förderung von Stabilität eine zentrale Rolle, denn durch ihre Beteiligung erhöht sich die Chance auf dauerhafte Konfliktlösung und Frieden. Und dennoch sind sie fast immer bei entsprechenden Verhandlungen unterrepräsentiert.
Zum diesjährigen Internationalen Frauentag möchte ich den Frauen meine tiefste Wertschätzung für ihren wertvollen Beitrag zu Gesundheit und Wohlbefinden aussprechen, am heutigen Tag wie auch an jedem anderen Tag. Und ich werde mich darum bemühen sicherzustellen, dass die besonderen gesundheitlichen Bedürfnisse von Frauen und Mädchen bei der Reaktion auf diese humanitäre Krise berücksichtigt werden.
Nun möchte ich noch einen kurzen Überblick über die COVID-19-Situation in der Ukraine und in der gesamten Europäischen Region geben.
Bemerkenswerterweise hat die Ukraine bislang ihre COVID-19-Surveillance und ihr Reaktionssystem aufrechterhalten. Ich möchte daher meinen ukrainischen Kollegen in dieser Hinsicht ein großes Lob aussprechen und sie dazu ermutigen, ihre Arbeit fortzusetzen. In der letzten Woche wurden der WHO aus der Ukraine 731 durch COVID-19 bedingte Todesfälle gemeldet, und bedauerlicherweise wird diese Zahl wohl aufgrund des anhaltenden Mangels an Sauerstoff im Land weiter steigen. Ältere Menschen werden unverhältnismäßig stark betroffen sein, da ihr Zugang zur Gesundheitsversorgung beeinträchtigt ist und nur ein Drittel der Über-60-Jährigen vollständig geimpft sind.
In der gesamten Europäischen Region der WHO gehen die COVID-19-Fälle von Woche zu Woche zurück und auch die Zahl der Todesfälle ist bislang in jeder Woche seit dem 10. Februar weiter gesunken. Auch wenn dies natürlich gute Nachrichten sind, möchte ich doch die Länder dazu auffordern, ein Gleichgewicht zwischen angemessenem Optimismus, der Aufrechterhaltung der Impfmaßnahmen und hoher Wachsamkeit zu finden und sicherzustellen, dass aufgehobene Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und der Gesellschaft, einschließlich Testangeboten, bei Bedarf schnell wiedereingeführt werden können.
Zum Abschluss möchte ich meine tiefe Bestürzung darüber zum Ausdruck bringen, dass unsere Region nach zwei schrecklichen Jahren der Pandemie nun mit den verheerenden Auswirkungen militärischer Feindseligkeiten gegenüber Dutzenden Millionen von Menschen in der Ukraine und darüber hinaus konfrontiert wird. Durch persönliche Erfahrungen mit anderen Konflikten glaube ich fest daran, dass gesundheitsbezogene und humanitäre Grundsätze die wichtigsten treibenden Kräfte für Frieden bleiben, und ich werde daher alle mir als gewählter Führungspersönlichkeit der WHO zur Verfügung stehenden diplomatischen Mittel nutzen, um die Folgen dieser menschlichen Katastrophe zu lindern.
Vielen Dank.