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„Niemand hat mich jemals gefragt, ob es mir gut geht“

8 May 2023
Pressemitteilung
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Jane Lasonder wurde als Kind in sehr jungem Alter für sexuelle Dienste angeboten und ausgebeutet. „Ich wusste nicht einmal, dass man das Menschenhandel nennt, denn dieses Wort war damals, vor vielen Jahren, noch nicht gebräuchlich.“ 

„Ich kann den Schrecken eigentlich gar nicht in Worte fassen. Es war so entsetzlich und traumatisch. Aber noch schlimmer war, dass ich oft Verletzungen erlitt, wie einen Schädelbruch oder einen gebrochenen Arm, und ich war auch unterernährt.“


In dieser Zeit musste sie oft ins Krankenhaus. Wie so viele andere Opfer von Menschenhandel erhielt sie nicht die notwendige Betreuung, da sie nie als Betroffene identifiziert wurde. Zurückblickend beschreibt sie, dass sie sich allein gelassen und unsichtbar fühlte: „Kein Arzt und keine Krankenschwester kam je zu mir und fragte: Warum bist du so verängstigt? Warum bist du schon wieder verletzt?“

In ihrer völligen Isolierung bekam Jane Angst vor Krankenhäusern: „Ich erinnere mich, dass ich so viel Angst hatte, dass ich kaum atmen konnte. Ich hatte fürchterliche Angst vor Ärzten und Krankenhäusern und all diesen Verletzungen, die nicht normal waren, und dann musste ich auch noch mit 13 eine Abtreibung ertragen. Kein Arzt und keine Krankenschwester, mit denen ich damals zu tun hatte, fragten überhaupt, warum da ein verängstigtes schwangeres Mädchen mit Verletzungen sitzt – und dabei sah ich wie zehn aus.“

Jane hätte sich von den Ärzten und Krankenschwestern, mit denen sie als Kind zu tun hatte, mehr Unterstützung erhofft. Doch jedes Mal, wenn sie ins Krankenhaus kam, war das eine verpasste Gelegenheit. 

Kein Einzelschicksal

Leider ist Janes Geschichte kein Einzelfall. Aus den neuesten Zahlen des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) geht hervor, dass allein 2020 mindestens 20 000 Personen in Europa und Zentralasien Opfer von Menschenhandel wurden. Diese Zahlen zeigen für die Europäische Region der WHO eine steigende Tendenz und sind aller Wahrscheinlichkeit nach zu niedrig angesetzt, da viele Opfer von Menschenhandel bis zum heutigen Tag unentdeckt bleiben. 

Unter Menschenhandel wird die Anwerbung, Beförderung, Unterbringung oder Aufnahme von Menschen durch Gewalt, Betrug oder Täuschung zum Zwecke der kommerziellen Ausbeutung verstanden. Es ist ein lukrativer Verbrechenszweig, bei dem Männer, Frauen und Kinder ausgebeutet werden und jede und jeder zum Opfer werden kann. Bei derartigen Verbrechen muss nicht unbedingt eine Grenze überquert werden, sondern sie können auch innerhalb der jeweiligen Landesgrenzen stattfinden.

Eine neue Übersichtsstudie von WHO/Europa kam zu dem Ergebnis, dass Mitarbeiter des Gesundheitswesens oft die einzigen öffentlichen Bediensteten sind, mit denen Opfer von Menschenhandel während ihres Leidensweges in Kontakt kommen. Doch viele Opfer des Menschenhandels bleiben unerkannt. 

„Das Hauptproblem besteht darin herauszufinden, dass es um Menschenhandel geht, denn wenn jemand mit einer akuten Erkrankung kommt, z. B. einem gebrochenen Arm, dann behandelt man den gebrochenen Arm, und wenn man nicht darüber nachdenkt, dann sieht man das Problem der Person hinter dem gebrochenen Arm nicht“, sagt Charlotte Møller, Oberärztin am Universitätskrankenhaus Aarhus in Dänemark, die seit Jahren Opfer von Menschenhandel behandelt.

Menschenhandel findet überall statt

Vom Menschenhandel sind alle Mitgliedstaaten der WHO betroffen, unabhängig von der Volkswirtschaft, den Migrationsquoten oder den Gleichstellungsgesetzen in den einzelnen Ländern. WHO/Europa hat Überlebende von Menschenhandel gebeten, ihre Geschichte zu erzählen.

Shandra Woworuntu, Vorsitzende des Internationalen Beirats für Überlebende von Menschenhandel, appelliert an die Gesundheitsberufe, „unter die Oberfläche zu schauen“. Sie beschreibt eine Situation, in der sie dem Gesundheitspersonal in aller Offenheit ihre schlimme Lage schilderte und sich im Stich gelassen fühlte: „Die Krankenschwestern redeten hinter dem Vorhang über mich ... Der Psychiater lachte und sagte mir aufs Gesicht zu, dass ich nicht die Wahrheit sage. Bist du sicher, dass dir das passiert ist, fragte er.“

Umfassende Auswirkungen auf die körperliche und psychische Gesundheit

Menschenhandel hat aufgrund der weitreichenden körperlichen und psychischen Schäden erhebliche Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit. Um diese Probleme anzugehen, benötigen die Opfer des Menschenhandels eine Vielzahl von Angeboten im Bereich der körperlichen und psychischen Gesundheit, einschließlich der Bereiche Sexualmedizin, Zahnmedizin und Psychologie. Beim Menschenhandel erleiden die Betroffenen oft Traumata, die zu psychischen Gesundheitsproblemen wie posttraumatischen Belastungsstörungen oder Depressionen führen.

Regina Lee Jones, eine Überlebende von Menschenhandel, erzählt: „Wenn ich zurückdenke, glaube ich, dass ein Arzt, der sich die Zeit genommen hätte, mich zu fragen, wie es mir geht, gemerkt hätte, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich wünschte, Ärzte würden mehr über Traumata und psychische Gesundheit sprechen. Das in letzter Zeit gewonnene Wissen darüber hat mir sehr geholfen. Es kann wirklich helfen, wenn man weiß, was nicht in Ordnung ist und warum.“

Gesundheitssysteme können eine wesentliche Rolle bei der Bekämpfung des Menschenhandels spielen

Die Gesundheitssysteme und das Gesundheitspersonal verfügen über einzigartige Voraussetzungen, um von Menschenhandel betroffene oder bedrohte Personen zu identifizieren, zu behandeln und zu schützen. Ein in Belgien lebender männlicher Überlebender berichtet aus eigener Erfahrung, wie schwierig der Zugang zur Gesundheitsversorgung ohne regulären Migrationsstatus war: „Als Illegaler hatte ich nie eine Verbindung zu einem Arzt. Ich hatte Angst vor Ärzten, weil ich befürchtete, dass sie mich an die Polizei melden. Das hat mir mein Chef gesagt.“ Er betont, wie wichtig es ist, dass jeder unabhängig von seinem Migrationsstatus über seine Rechte und den Zugang zum Gesundheitswesen Bescheid weiß.

In der Studie werden folgende Grundsatzüberlegungen angestellt:
  • Opfer von Menschenhandel brauchen eine allgemein zugängliche und bezahlbare Gesundheitsversorgung – unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus oder ihren Mitteln. 
  • Zur Bekämpfung des Menschenhandels ist eine Beteiligung verschiedener Ressorts erforderlich. Kein Land und kein Politikbereich kann es allein schaffen, doch die Gesundheitssysteme spielen eine entscheidende Rolle. 
  • Die Gesundheitsberufe müssen für eine an den Überlebenden und ihren Traumata orientierte Betreuung geschult werden. Wenn sie keine Schulungen zum Thema Menschenhandel erhalten, sind die Gesundheitssysteme, in denen sie arbeiten, unvorbereitet. 
  • Standardisierte Protokolle sowie Screening- und Meldesysteme, die bei Anzeichen für Menschenhandel angewandt werden, helfen dem Gesundheitspersonal bei der Bereitstellung einer angemessenen Versorgung. 
  • Trauma und Traumabewältigung müssen in den Mittelpunkt der Normen für die Betreuung von Betroffenen und Überlebenden des Menschenhandels gestellt werden.
  • Bei Maßnahmen zur Schadensminderung sollten individuell vorhandene Risikofaktoren abgeschwächt werden, z. B. Hindernisse für die Meldung von Missbrauch.
  • Das Ziel der Identifizierung von Opfern des Menschenhandels ist die Qualität der Betreuung, die Stärkung der Handlungsfähigkeit und ein sicherer Raum, nicht die Offenlegung.

Darüber sprechen und Bewusstsein schaffen 

Heute nutzt Jane ihre Stimme, um den Menschenhandel anzuprangern. Sie schafft Bewusstsein und wirkt an Schulungen für Medizinstudenten mit. „Ich kann nicht losziehen und die Welt retten, aber ich kann losziehen und jemands Tochter oder Sohn retten. Und wenn es meine Tochter oder mein Sohn wäre, würde ich alles tun, um dieser einen Person zu helfen.“