Kopenhagen, 8. November 2024
Der Alkoholkonsum belastet die Volkswirtschaften in der Europäischen Region der WHO jährlich mit Kosten in Milliardenhöhe: im Gesundheitswesen, aber auch in Form von vorzeitigen Todesfällen, Produktivitätsverlusten und sozialen Schäden. Von den Schäden des Alkoholkonsums sind alle Teile der Bevölkerung betroffen, also sowohl Personen, die Alkohol konsumieren, als auch andere. 2019 war Alkoholkonsum für fast ein Drittel aller verletzungsbedingten Todesfälle in der Europäischen Region, und konkret für 42 % aller Tötungsdelikte, 37 % aller Suizide und 35 % aller Straßenverkehrstoten verantwortlich.
Doch trotz dieser enormen sozialen und finanziellen Belastung werden die wahren Kosten des Alkoholkonsums oftmals von durch Gewinnstreben geprägten Darstellungen verschleiert. Heute veröffentlicht WHO/Europa das Handbuch zur Alkoholpolitik (Alcohol Policy Playbook), das politischen Entscheidungsträgern eine Argumentationshilfe in den allgegenwärtigen Debatten über alkoholbedingte Schäden und Alkoholpolitik zum Zwecke der Erhaltung der öffentlichen Gesundheit liefern soll.
Mit durchschnittlich 9,2 Litern reinen Alkohols je Erwachsenem pro Jahr weist die Europäische Region von allen WHO-Regionen den höchsten Alkoholkonsum auf. Dies trägt jährlich zu 800 000 Todesfällen bei, überwiegend aufgrund von nichtübertragbaren Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen (40 % der Fälle) und Krebs (15 % der Fälle).
Auch bei Stürzen, Ertrinken, Verbrennungen, sexuellen Übergriffen, Gewalt durch Intimpartner und Suizid spielt Alkoholkonsum eine erhebliche Rolle. In der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen trägt Alkoholkonsum mit einem Viertel aller verletzungsbedingten Todesfälle (25,3 %) wesentlich zu tödlichen Verletzungen bei.
Das Handbuch zur Alkoholpolitik widerspricht der Darstellung der Industrie und präsentiert wissenschaftliche Ergebnisse, die belegen, dass kein noch so geringer Alkoholkonsum unbedenklich ist, dass Alkohol in allen Schichten der Bevölkerung weitreichende Schäden verursacht und dass staatliche Maßnahmen wirksam zum Schutz von Gesundheit und Sicherheit beitragen.
Wirtschaftliche Kosten weit höher als Einnahmen
Die Länder der Europäischen Region, in denen der Alkoholkonsum zu den führenden Ursachen für nichtübertragbare Krankheiten wie Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen gehört, verlieren mehr, als sie aus dem Verkauf alkoholischer Getränke einnehmen. Alkoholbedingte Schäden stellen weltweit eine erhebliche Belastung für die Volkswirtschaften dar, die sich in den wohlhabenderen Ländern auf 2,6 % Bruttoinlandsprodukts belaufen.
Dennoch wird die Debatte über die immensen wirtschaftlichen und sozialen Kosten des Alkoholkonsums oft von mächtigen kommerziellen Interessen überlagert, bei denen es vor allem um Umsatzmaximierung geht. Die Alkoholindustrie präsentiert sich als wesentlicher Wirtschaftsfaktor in der Europäischen Region, aber die Realität sieht anders aus: Die gesundheitlichen und sozialen Kosten des Alkoholkonsums überwiegen bei Weitem alle finanziellen Vorteile.
„Der Preis, den die Europäer für den Alkoholkonsum zahlen, ist zu hoch. Die wirtschaftlichen Kosten von Todesfällen nur aufgrund alkoholbedingter Krebserkrankungen in der Europäischen Union wurden für 2018 auf knapp 5 Mrd. € geschätzt, was fast 10 % der Gesamtkosten der krebsbedingten Todesfälle in der Europäischen Region entspricht“, betonte Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa.
„Wir wissen, dass es in Bezug auf Krebs keine unbedenkliche Menge an Alkoholkonsum gibt. Gleichzeitig sind sich weniger als 50 % der Europäer der Zusammenhänge zwischen Alkohol und Krebs bewusst. Das liegt vor allem daran, dass die Alkoholindustrie irreführende Darstellungen fördert, die von den erheblichen Schäden des Alkoholkonsums für die öffentliche Gesundheit ablenken.“
Entlarvung von Mythen, Entkräftung von Argumenten
Das Handbuch zur Alkoholpolitik tritt direkt einer der hartnäckigsten Behauptungen der Alkoholindustrie entgegen: dass die mit Alkohol verbundenen Gesundheitsrisiken auf eine kleine Minderheit von Problemtrinkern beschränkt sind.
„Tatsächlich ist es so, dass schon ,mäßiger Alkoholkonsum‘ das Risiko in Bezug auf Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöht“, sagte Dr. Gauden Galea, Strategischer Berater des Regionaldirektors und Leiter der Sonderinitiative für nichtübertragbare Krankheiten und Innovation bei WHO/Europa „Keine Form von Alkoholkonsum ist frei von Risiken. Schon ein geringer Alkoholkonsum birgt Risiken und kann zu Schäden führen.“
Die Industrie stellt die Schäden durch Alkohol oft als komplex dar und setzt sich für gezielte Lösungen wie Programme für sicheres Fahren und die Verwendung von Zündschlosssperren für wegen Trunkenheit am Steuer verurteilte Wiederholungstäter ein und behauptet, dass die Allgemeinbevölkerung nur einem minimalen Risiko ausgesetzt sei.
Dr. Galeas Fazit lautet: „Das Handbuch zur Alkoholpolitik liefert Regierungen und Gesundheitsaktivisten ein wichtiges Hilfsmittel für eine kritische Bewertung der Evidenz zum Thema Alkoholkonsum und für die Widerlegung von Behauptungen der Industrie. Dies versetzt sie in die Lage, mündige Entscheidungen zu treffen und wirksame evidenzbasierte Konzepte einzuführen, bei denen das Wohlergehen der Gesellschaft Vorrang vor den Gewinnen der Wirtschaft hat.“
Verlagerung der Debatte und Aufruf zum Handeln
Dr. Carina Ferreira-Borges, Regionalbeauftragte für Alkohol, illegale Drogen und Gesundheit im Strafvollzug bei WHO/Europa, erläuterte: „Fragen zum Thema Alkohol werden unterschiedlich beantwortet, je nachdem, ob die Sichtweise vom Gemeinwohl oder vom Profit bestimmt wird. So wollen Gesundheitsschützer alkoholbedingte Schäden verhindern, während die Alkoholindustrie eine Gewinnmaximierung anstrebt.“
Dr. Ferreira-Borges fügte hinzu: „Indem wir den Einfluss der Alkoholindustrie auf die Politik bekämpfen, können wir Ressourcen von der Behandlung vermeidbarer Schäden auf Investitionen in gesündere, produktivere Gesellschaften verlagern.“
Das Handbuch zur Alkoholpolitik ist ein wichtiges Hilfsmittel im Hinblick auf die Verwirklichung der Ziele des Handlungsrahmens für die Alkoholpolitik in der Europäischen Region der WHO (2022–2025) und des Globalen Alkohol-Aktionsplans der WHO (2022–2030), indem es dafür sorgt, dass die öffentliche Gesundheit Vorrang gegenüber kommerziellen Interessen erhält.
Mit Blick auf die Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung in Bezug auf nichtübertragbare Krankheiten vor Ablauf der Frist im Jahr 2030 sowie die Vorbereitungen auf die vierte Tagung der Generalversammlung der Vereinten Nationen auf hoher Ebene über die Prävention und Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten im Jahr 2025 wächst die Dringlichkeit, beschleunigte Maßnahmen zu ergreifen.
WHO/Europa fordert die Regierungen der Länder der Europäischen Region und die Akteure im Bereich der öffentlichen Gesundheit eindringlich auf, die Umsetzung von Maßnahmen zu beschleunigen, die das Potenzial haben, möglichst viele Menschenleben zu retten, namentlich Maßnahmen zur wirksamen Bekämpfung alkoholbedingter Schäden.