Erklärung – Wissenschaft, Surveillance, Verantwortung: das Wesentliche zum Umgang mit der anhaltenden von COVID-19 ausgehenden Herausforderung

10 January 2023
Aussage
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Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

10. Januar 2023

Vielen Dank, dass Sie an dieser Veranstaltung teilnehmen.

Wissenschaft, Surveillance, Verantwortung: drei Worte, die meine drei wesentlichen Botschaften an die Europäische Region der WHO am heutigen Tag angesichts der jüngsten Entwicklungen in Zusammenhang mit COVID-19 zusammenfassen.

Sprechen wir zunächst über die Wissenschaft.

Aus den der WHO vorliegenden Informationen geht hervor, dass es sich bei den derzeit in China zirkulierenden Virusvarianten von SARS-CoV-2 um jene handelt, die auch bereits in Europa und anderswo nachgewiesen wurden.

Wir teilen die gegenwärtige Ansicht des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC), dass nicht davon auszugehen ist, dass sich der derzeitige rasche Anstieg der Fallzahlen in China zum gegenwärtigen Zeitpunkt wesentlich auf die epidemiologische Situation in Zusammenhang mit COVID-19 in der Europäischen Region der WHO auswirken wird.

Doch wir dürfen jetzt nicht selbstgefällig sein.

Auch wenn wir anerkennen, dass wir von China Informationen zur Sequenzierung des Virus erhalten haben, bedarf es detaillierter und regelmäßiger Informationen, insbesondere zur lokalen Epidemiologie und zu lokalen Varianten, um die Weiterentwicklung der Situation besser beurteilen zu können.

Es ist nur vernünftig, wenn Länder Vorsorgemaßnahmen ergreifen, um ihre Bevölkerung zu schützen, während wir auf detailliertere Informationen warten, die über öffentlich zugängliche Datenbanken geteilt werden.

Jene Länder in unserer Region, die gegenwärtig vorsorglich reisebezogene Maßnahmen ergreifen, möchten wir darauf hinweisen, dass diese auf den verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen gründen und sie verhältnismäßig und diskriminierungsfrei sein sollten.

Dies führt mich zu meiner zweiten Botschaft – dem Thema Surveillance.

Im vergangenen Jahr haben viele Länder in unserer Region ihre Surveillance-Kapazitäten im Hinblick auf COVID-19 erheblich zurückgefahren.

In den ersten fünf Wochen des Jahres 2022 wurden der WHO und unserer Partnerorganisation, dem ECDC, im Rahmen der wöchentlichen Surveillance-Daten Informationen zu Virusvarianten für 1,2 Millionen Fälle übermittelt. Diese Zahl war jedoch in den letzten fünf Wochen des Jahres auf rund 90  000 Fälle gesunken.

Wir erkennen würdigend an, dass einige europäische Länder eine starke genomische Surveillance aufrechterhalten haben – darunter Dänemark, Deutschland, Frankreich und das Vereinigte Königreich.

Tatsächlich deuten die jüngsten Daten aus einigen dieser Länder langsam auf eine wachsende Prävalenz der neuen rekombinanten Virusvariante XBB.1.5 hin, die sich bereits rapide in den USA ausbreitet. Die Anzahl der Fälle der Virusvariante XBB.1.5 sind in unserer Region derzeit noch gering, wächst aber stetig, und wir sind darum bemüht, mögliche Auswirkungen zu beurteilen.

Nach drei langen Pandemiejahren, in denen viele Länder mit überlasteten Gesundheitssystemen, einem Mangel an unentbehrlichen Arzneimitteln und erschöpftem Gesundheitspersonal zu kämpfen hatten, können wir uns eine zusätzliche Belastung unserer Gesundheitssysteme nicht leisten.

Eine derartige Bedrohung könnte jederzeit und überall von einer neuen besorgniserregenden Variante ausgehen – auch hier in Europa und Zentralasien. Aufbauend auf den aus der Pandemie gezogenen Lehren müssen wir in der Lage sein, zu antizipieren, frühzeitig zu erkennen und rechtzeitig zu reagieren. Das gilt nicht nur für SARS-CoV-2, sondern für jede neu auftretende gesundheitliche Bedrohung.

Aus diesem Grund lautet meine dritte Botschaft am heutigen Tag: Verantwortung – aufseiten von Regierungen wie auch der Allgemeinheit.

Mit Beginn des neuen Jahres müssen die Länder in allen Teilen Europas und Zentralasiens ihre Anstrengungen zur Umsetzung bewährter wirkungsvoller Strategien nochmals verdoppeln und dürfen nicht selbstgefällig werden.

Das bedeutet eine dringende Investition in und Verpflichtung zu verstärkter virologischer und genomischer Surveillance – einschließlich sofern möglich der Surveillance von Abwasser.

Es bedeutet auch die Investition in das Gesundheitspersonal und dessen Schutz, denn dessen prekäre Lage könnte vielerorts die wirksame Bereitstellung von Gesundheitsleistungen untergraben.

Und es bedeutet auch die Fortsetzung der fünf Maßnahmen zur Stabilisierung der Pandemie, die sich als so wirkungsvoll erwiesen haben:

  1. die Erhöhung der Impfquote in der Allgemeinbevölkerung;
  2. die Verabreichung von zusätzlichen Impfdosen an vorrangige Gruppen;
  3. die Förderung des Maskentragens in Innenräumen und in öffentlichen Verkehrsmitteln;
  4. die Belüftung von überfüllten und öffentlichen Räumen wie Schulen, Gaststätten, Großraumbüros und öffentlichen Verkehrsmitteln; und
  5. die frühzeitige und angemessene Verabreichung von Therapeutika an Patienten, die besonders gefährdet sind, ernsthaft zu erkranken.

Darüber hinaus haben wir gesehen, dass diese Maßnahmen auch die Auswirkungen anderer Atemwegsinfektionen eindämmen können – insbesondere der Influenza –, mit denen unsere Gesundheitsdienste derzeit besonders zu kämpfen haben.

Wissenschaft, Surveillance, Verantwortung: sie alle müssen gerade jetzt, wo wir dem vierten Jahr der Pandemie entgegensehen, perfekt zusammenspielen, um die Zukunft für alle Menschen zu sichern.

Ich danke Ihnen.