Tiefsitzende Stigmata und verkrustete Denkweisen in Bezug auf den Umgang mit Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen gehören zu den größten Herausforderungen für die Reformierung der psychischen Gesundheitsversorgung in der Europäischen Region der WHO. Doch inzwischen erleben immer mehr Länder Veränderungen an der Basis, die die Leistungserbringung und Versorgung im Bereich der psychischen Gesundheit von Grund auf verändern.
Eines dieser Länder ist Estland. Seit 2020 bemüht sich das Land, mit Hilfe des Toolkits der Initiative QualityRights der WHO seine psychiatrischen Dienste und sein Sozialwesen grundlegend umzugestalten. Bisher hat die Staatliche Sozialversicherungsbehörde (ENSIB) mehr als 30 Einrichtungen bewertet, die von betreutem Wohnen bis zu Pflegeheimen für Menschen mit schweren psychosozialen und geistigen Behinderungen reichen.
„Bei der Umgestaltung der Versorgung geht es um die Umgestaltung von Beziehungen“, erklärt Cláudia Braga, die bei QualityRights als Trainerin tätig ist und über mehr als zehn Jahre Erfahrung mit der Umgestaltung von Leistungsangeboten in ihrer Heimat Brasilien verfügt. „Sie müssen Menschen mit einer psychosozialen Behinderung als Bürger betrachten, und deshalb müssen wir bei unseren Angeboten ihr Recht auf Freiheit als Ausgangspunkt nehmen.“
Braga ist eine von drei Trainern, die auf einer Veranstaltung im September in Tallinn das Wissen nationaler Experten über das QualityRights-Toolkit der WHO wieder auffrischten, einer Sammlung von der WHO entwickelter Instrumente zur Bewertung und Verbesserung der Versorgungsqualität in Einrichtungen der psychischen Gesundheitsversorgung und des Sozialwesens.
Mit diesen Bewertungen soll bestimmt werden, ob die Einrichtungen die Genesung von Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen ausreichend fördern und gleichzeitig ihre Menschenrechte schützen – etwa das Recht, Entscheidungen über ihr eigenes Leben zu treffen, berufstätig zu sein oder zu heiraten und eine Familie zu gründen. Diese Rechte werden aufgrund von Stigmatisierung nur allzu oft verletzt.
Cärolyn-Angelika Liblik, die bei der ENSIB als Leistungskoordinatorin tätig ist, meint, dass psychische Gesundheitsversorgung und Sozialwesen historisch nach dem Motto „aus den Augen, aus dem Sinn“ aufgebaut wurden. Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen werden häufig ein Leben lang in Einrichtungen abgeschoben, die oft nicht gemeindenah sind und wo sie in Vergessenheit geraten.
Durch Gespräche, Prüfung von Dokumenten und Beobachtung bestimmen die Trainer in der Regel, in welchem Grad eine Einrichtung den Nutzern einen guten Lebensstandard, eine gute körperliche und psychische Gesundheitsversorgung sowie Entscheidungen über ihre Versorgung und insgesamt ein selbständiges Leben ermöglicht.
Sie untersuchen auch, ob die Nutzer nicht Gewalt, Folter oder Missbrauch (einschließlich Isolation und Zwangsmitteln) ausgesetzt sind, die allesamt gegen das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verstoßen, das 2012 von Estland ratifiziert wurde. Dann geben sie Empfehlungen ab, wie die Einrichtung die Situation der Nutzer verbessern kann.
Psychische Gesundheitsversorgung und Schutz der Menschenrechte
Wie in vielen Ländern der Europäischen Region sind auch in Estland Langzeiteinrichtungen die verbreitetste Form der Betreuung von Menschen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen.
2018 führte die WHO Bewertungen an 75 Langzeiteinrichtungen in 25 Ländern (darunter Estland) durch und kam zu dem Ergebnis, dass diese „weit unter den Anforderungen“ bleiben. Die Rechte der untergebrachten Menschen würden häufig verletzt. So informiere das Personal manchmal die Nutzer nicht über den Zweck bestimmter Behandlungen und fixiere sie sogar bei der Verabreichung von Medikamenten.
Solche Vorfälle ereignen sich oft, wenn ein Patient eine psychische Krise erlebt, aber manchmal auch, wenn das Personal in einem spezifischen Fall (z. B. ein Patient versucht während einer solchen Krise die Flucht) eine allgemeine Lösung (z. B. Verschließen aller Zimmertüren bei Nacht) anwendet.
„Aber die Leute stecken nicht ständig mitten in einer Krise“, sagt Simon Vasseur-Bacle, ein klinischer Psychologe, der am WHO-Kooperationszentrum für Forschung und Schulung im Bereich der psychischen Gesundheit in Lille (Frankreich) als Trainer für die Initiative QualityRights tätig ist. Er rät dem Personal, kreativ zu überlegen, wie bestimmte Lösungen in bestimmten Fällen anzuwenden sind, und auch die Nutzer selbst – und ihre Familien sowie andere Fachkräfte – in die Entscheidung, was sie wollen, einzubeziehen, und zwar während einer Krise wie auch im normalen Leben.
Personenorientierte statt krankheitsorientierter Versorgung
Ein Problem besteht darin, dass die Mitarbeiter solcher Einrichtungen oft Bewertungen durch Gutachterinnen wie Liblik als störende Präsenz empfinden, die möglicherweise Mehrarbeit in einer ohnehin schon personell unterbesetzten Umgebung verursacht. In ihrer QualityRights-Schulung in Estland betonten deshalb sowohl Vasseur-Bacle als auch Braga, dass es bei der Umgestaltung nicht um Mehrarbeit, sondern vielmehr um einen kreativen Umgang mit vorhandenen personellen und sonstigen Ressourcen geht – mit dem Ziel, von einer krankheitsorientierten zu einer personenorientierten Versorgung zu gelangen.
Sie glauben auch, dass das Personal in den meisten Fällen gern bereit ist, Dinge zu ändern, wenn dazu die Möglichkeit besteht. „Meiner Erfahrung nach wollen die Leute die Versorgung grundlegend ändern“, sagt Braga. „Sie wollen Teil eines gut funktionierenden Systems sein. Wir alle wollen am Ende des Tages den Leuten erzählen können, dass wir einem Patienten helfen konnten, z. B. beim Einkaufen in einem bestimmten Supermarkt. Mit dem Toolkit von QualityRights können wir die Menschen motivieren, so zu denken.“
In vielen Fällen wird dieser Gesinnungswandel schon durch das Bewertungsverfahren selbst ausgelöst, oder durch die zahlreichen Folgetermine, die den untersuchten Teams bei der Umsetzung der Empfehlungen helfen sollen.
Letztendlich hofft Liblik, dass die Leistungserbringer verstehen, dass sie und ihr Team dazu da sind, das Leben der Patienten zu verbessern. „Ich würde nicht für die Sozialversicherungsbehörde arbeiten, wenn ich nicht die Welt verändern wollte“, sagt sie.
Auch wenn die ENSIB bisher die einzige Institution in Estland ist, die Bewertungen nach dem Muster von QualityRights durchführt, so hofft sie doch, dass sich dies ändern wird. Ein Grund, aus dem sie die WHO um die im September abgehaltene Schulung in Tallinn gebeten hatte, war, dass sie auch andere Akteure, wie Familienangehörige von Patienten und die Leistungserbringer selbst, für die Mitwirkung in solchen Bewertungen gewinnen wollte.
Viele der Teilnehmer verpflichteten sich zur Verbesserung ihres Wissens über das Toolkit und zur künftigen Mitwirkung in solchen Bewertungen. Eine Teilnehmerin sagte: „Diese zwei Tage haben mir die Augen geöffnet. Ich habe das deutliche Gefühl, dass Veränderungen und Fortschritte möglich sind. Ich bin gespannt, wie sich die Situation in Estland entwickeln wird.“