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WHO staff armwrestling, symbolizing the battle against stigma and discrimination
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„Es ist machbar“ – Bekämpfung von Stigmatisierung und Diskriminierung für eine bessere psychische Gesundheitsversorgung in Kasachstan

10 October 2022
Pressemitteilung
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Überall in der Europäischen Region der WHO werden Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen aufgrund von Stigmatisierung und Diskriminierung bei nahezu allen Aspekten ihres Lebens vor Hindernisse gestellt. Diese Hindernisse halten viele davon ab, eine Arbeitsstelle zu finden und zu halten, eine Ausbildung zu machen oder sich auch nur Zugang zur Gesundheitsversorgung zu verschaffen, und wirken sich oft negativ auf die Selbstwahrnehmung der Betroffenen aus. 

In Kasachstan tragen innovative Konzepte zur Bekämpfung von und Sensibilisierung für Stigmatisierung und Diskriminierung erste Früchte, was vor allem den hartnäckigen Bemühungen des Nationalen Wissenschaftszentrums mit seinen beiden speziellen Zentren für psychische Gesundheit zu verdanken ist, die vom Gesundheitsministerium Kasachstans in Zusammenarbeit mit der WHO eingerichtet wurden.

„In unserem Land geht es nicht nur um Stigmatisierung in der Öffentlichkeit“, erklärt Dr. Nikolay Negay, Berater für psychische Gesundheit beim WHO-Länderbüro in Kasachstan und früherer Leiter des Forschungszentrums für psychische Gesundheit, „sondern Menschen mit psychischen Erkrankungen neigen auch dazu, sich selbst zu stigmatisieren und so die Barrieren für sich zu verdoppeln. Aber glücklicherweise gelingt es uns allmählich, diesen Trend umzukehren.“ 

„Eine Diagnose, die schlimmer ist als die Erkrankung“

2014 kam das erste nationale Programm für Suizidprävention, das vom Forschungszentrum für psychische Gesundheit, dem Gesundheitsministerium und dem Bildungsministerium mit fachlicher Unterstützung durch das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) durchgeführt wurde, zu dem Ergebnis, dass sogar Familienmitglieder zögern würden, psychisch kranken Menschen und selbst suizidgefährdeten Personen zu helfen – aus purer Angst vor Stigmatisierung. Oft hätten die Menschen mehr Angst vor der Diagnose als vor der Krankheit selbst.

„Die Familien rieten den Betroffenen oft zu Selbstisolierung und zum Abbruch sozialer Beziehungen“, erzählt Nikolay. „Stark suizidgefährdete Personen und ihre Betreuer lehnten oft jegliche Hilfe von qualifizierten Fachkräften kategorisch ab. Außerdem passierte es manchmal, dass Betreuer sich beschwerten, dass Psychiater die Menschen psychisch krank machen wollten.“ 

In solchen Fällen kann die Angst vor Stigmatisierung lebensbedrohliche Züge annehmen. „Wir hatten mehrere Fälle, in denen wir nicht die Erlaubnis zur Behandlung erhielten, und einmal beging ein Patient dann Suizid“, erzählt Nikolay. „Für mich als Facharzt und einen der damaligen Leiter des psychiatrischen Dienstes war das eine einschneidende Erkenntnis, was für schwerwiegende Probleme wir hatten, und eine Tragödie. Wir waren uns einig, dass wir unbedingt etwas gegen die Stigmatisierung tun mussten. Die Verbesserung der psychischen Gesundheit und die Bekämpfung von Stigmatisierung wurden zu meinen zentralen Anliegen.“

Veränderung von Einstellungen und Bewusstseinsbildung

Mit fachlicher Unterstützung durch das UNICEF wurde die Entstigmatisierung zu einer der wichtigsten Komponenten des Programms zur Suizidprävention. Zu Beginn des Projektes im Jahr 2015 lehnten mehr als 11% der stark suizidgefährdeten Patienten jegliche professionelle Hilfe ab. Ein Jahr später war der Anteil auf 5% gesunken, und 2017 lag er nur noch bei 1%.

Darüber hinaus wurden 2017 noch mehrere neue Initiativen zur Verbesserung der psychischen Gesundheitsversorgung in Kasachstan ins Leben gerufen. 
  • Die Psychiatriedienste wurden in eine psychische Gesundheitsversorgung überführt, die teilweise auch im Rahmen der primären Gesundheitsversorgung angeboten wurde. Dadurch können die Menschen nun alle Leistungen an einem Ort in Anspruch nehmen. 
  • Das Land führte auch neue Gesetze im Bereich der psychischen Gesundheit ein, namentlich eine Aktualisierung des nationalen Gesundheitskodex. Dieser neue Kodex bewirkte, dass niemand sein Recht auf Entscheidungsfreiheit verlor, nur weil er mit einem psychischen Gesundheitsproblem lebt. Allein 2021 erhielten so 18 Patienten ihre rechtliche Selbstbestimmung zurück. 
  • Es wurden Programme zur Bekämpfung der Selbststigmatisierung sowie der Stigmatisierung von Patienten und ihren Angehörigen geschaffen.
  • Ferner entstanden neue Initiativen, oft außerhalb des Gesundheitssystems, wie etwa Schutzhäuser – Orte, an denen Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen Rechtsberatung, Befähigungstraining und Hilfe bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft erhalten.

Die Bewertung dieser Maßnahmen ist eine komplexe Herausforderung 

„Die Ergebnisse dieser Maßnahmen werden erst in Zukunft sichtbar werden“, sagt Nikolay. „Wir sind in Kasachstan noch nicht am Ziel angelangt, aber ich glaube, wir haben schon viel erreicht. Als Teil des Europäischen Bündnisses für psychische Gesundheit der WHO haben wir eine aktive Arbeitsgruppe zur Verbesserung der psychischen Gesundheit und zur Bekämpfung von Stigmatisierung und Diskriminierung, die über alle Ebenen hinweg tätig ist. Das ist ein großer Schritt nach vorne.“ 

Nikolay erinnert sich an zwei Nutzer, die in einer geschlossenen, geschützten Einrichtung unter Aufsicht eines Vormunds lebten, nachdem sie ihre Rechtsfähigkeit verloren hatten. Durch eine umfassende Versorgung, einschließlich der richtigen Behandlung, haben beide inzwischen eine Wiederherstellung ihrer Rechte und eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft erreicht. 

„Das war wirklich ein bahnbrechender Erfolg, der gezeigt hat, wie ein in den Augen der Gesellschaft unfähiger Mensch Hilfe und Behandlung erhalten kann“, sagt Nikolay. „Einer von ihnen arbeitet jetzt als Kellner und der andere in einem Computerladen. Beide haben die geschlossene Einrichtung verlassen, in der sie davor untergebracht waren. Jeder hat seine eigene Wohnung und sein eigenes Leben, und für mich ist das ein unvergesslicher Erfolg, der beweist, dass es machbar ist.“

Im Europäischen Arbeitsprogramm 2020–2025 der WHO wird großer Wert auf psychische Gesundheit gelegt, und zwar durch das Europäische Bündnis für psychische Gesundheit, ein Netzwerk von Personen und Organisationen, dem Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen, nichtstaatliche Organisationen, Regierungsvertreter und Wissenschaftler angehören. Das Bündnis, zu dessen Mitgliedern auch Nikolay zählt, strebt als ein vorrangiges Ziel die Intensivierung der Entstigmatisierung in der gesamten Europäischen Region der WHO an.

Der Welttag für psychische Gesundheit wird weltweit jährlich am 10. Oktober begangen und soll das Bewusstsein für das Recht eines jeden Menschen auf psychische Gesundheit und seelisches Wohlbefinden schärfen.