Sören Talu
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Die psychische Gesundheit neu denken: Investieren in eine resilientere Europäische Region mit besseren Systemen

10 October 2023
Medienmitteilung
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Kopenhagen, 10. Oktober 2023 

Die Systeme der psychischen Gesundheit in der Europäischen Region sind nicht für die Bedingungen geeignet, wie sie gegenwärtig auf der Welt herrschen. 

In einer Region, in der jeder Siebte an einer psychischen Erkrankung leidet, erhalten zu wenige Menschen überhaupt Unterstützung und Betreuung. So werden viele Menschen nach wie vor diskriminiert, weil sie psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen – dies kann zum Verlust des Arbeitsplatzes oder der Wohnung führen; gleichzeitig werden körperliche Gesundheitsprobleme manchmal fälschlicherweise auf eine vorliegende psychiatrische Diagnose zurückgeführt.  

Obwohl die psychische Gesundheit in den letzten Jahren einen höheren Stellenwert in der Gesundheitspolitik erlangt hat, wird der Zugang zur psychischen Gesundheitsversorgung immer schwieriger, was zum Teil auf den besorgniserregenden Fachkräftemangel zurückzuführen ist. So ging ihre Zahl zwischen 2017 und 2020 von 50 auf 45 je 100 000 Einwohner zurück. Dies hat sowohl längere Wartezeiten als auch ein größeres Burnoutrisiko für das Personal zur Folge. 

Eine ständige Abfolge von Krisen in den vergangenen drei Jahren – COVID-19, Krieg in der Ukraine, steigende Lebenshaltungskosten, vielfältige Naturkatastrophen und extreme Wetterereignisse – hat weiter verdeutlicht, dass die derzeitigen Ansätze zum Schutz der psychischen Gesundheit nicht den Bedürfnissen und Präferenzen der Menschen gerecht werden. Allzu viele schutzbedürftige Menschen fallen durch die Maschen.  

Es ist es an der Zeit, dass die Europäische Region der WHO in dieser Zeit der Permakrise in bessere Systeme der psychischen Gesundheit investiert und diese sinnvoller gestaltet.   

Das WHO-Regionalbüro für Europa appelliert an die 53 Mitgliedstaaten in der Europäischen Region:

  • zu überdenken, wie die Systeme der psychischen Gesundheit aussehen sollen;
  • den Menschen zuzuhören, die diese Systeme am Laufen halten – insbesondere dem Gesundheitspersonal und den Menschen mit eigenen Erfahrungen –, wenn es um die Umsetzung von Konzepten für psychische Gesundheit geht; 
  • die Etats für psychische Gesundheit sinnvoller zu investieren, und zwar in eine Vielzahl verschiedener Angebote. 

Überdenken

Psychische Gesundheitssysteme umfassen sowohl die Gesundheitsversorgung als auch eine gemeindenahe Unterstützung. Die WHO setzt sich seit Langem für einen Übergang zu einer gemeindenahen Versorgung ein, aber es ist wichtig zu erkennen, dass sich die Vorstellungen von „Gemeinde“ oder „Gemeinschaft“ verändert haben. 

Die rapide Verstädterung hat in vielen Ländern traditionelle Gemeinschaftsräume verwischt oder gar ausgelöscht. Für viele Menschen ist der öffentliche Raum zunehmend digital, losgelöst von physischen Räumen, aber verbunden durch gemeinsame Interessen oder gemeinsames Wissen.

Die digitalen Technologien haben zwar ein großes Potential für die Verbesserung des Zugangs zu psychosozialer Unterstützung, doch bringen sie auch neue Herausforderungen mit sich, indem sie sich direkt auf unsere psychische Gesundheit auswirken (z. B. durch die Zunahme von Suchtverhalten) und gleichzeitig neue potenzielle Zugangslücken schaffen (die sog. „digitale Kluft“).  

Die Europäische Region der WHO muss sich diese veränderte Definition von Gemeinschaft zu eigen machen, auch indem sie anerkennt, dass psychische Gesundheit weit über das Gesundheitswesen hinausreicht. Bildung, Wohnen, Recht, Industrie, Beschäftigung, Verkehr, Kunst und Kultur, Sport – diese und viele andere Bereiche haben zwangsläufig Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und das seelische Wohlbefinden der Bevölkerung. Aus diesem Grund kann es schwierig sein, dauerhafte Veränderungen in den psychischen Gesundheitssystemen herbeizuführen, da die Initiativen ein Flickenteppich und oft auf das Gesundheitswesen beschränkt sind, anstatt alle maßgeblichen Bereiche einzubeziehen. 

Kurz: Die Länder müssen die Systeme der psychischen Gesundheit als Netze neu denken, die alle Arten von Unterstützung umfassen. Sie müssen die anderen Bereiche in die Lage versetzen, ihre Rolle und ihre Fähigkeiten im Hinblick auf den Schutz und die Förderung der psychischen Gesundheit und des seelischen Wohlbefindens zu vermitteln, und die Umsetzung dieser Bemühungen unterstützen. 

Zuhören

Ist eine psychische Gesundheitspolitik eine Garantie für Veränderungen? Obwohl es in der Europäischen Region mehr Strategien und Pläne zur Förderung der psychischen Gesundheit gibt als je zuvor, wird ihre Umsetzung im Hinblick auf Verfahren, Ergebnisse und Auswirkungen leider nach wie vor nur unzureichend bewertet. Viele politische Maßnahmen enthalten keine Indikatoren für eine Evaluation oder werden nicht gemeinsam mit den Menschen entwickelt, auf die sie sich letztlich auswirken werden. 

Obwohl die meisten Staaten berichten, dass sie Menschen mit psychischen Erkrankungen sowie ihre Familien und Betreuer in die Gestaltung oder Aktualisierung von Konzepten einbeziehen, stellt die begrenzte Mitwirkung seitens dieser Personen weiterhin ein Hindernis für die Umsetzung solcher Maßnahmen dar. Dies deutet darauf hin, dass es sich bei deren Beteiligung im Allgemeinen nicht um eine sinnvolle Mitwirkung oder echte Mitgestaltung handelt. Regierungen und politische Entscheidungsträger müssen sich ernsthaft bemühen, das vielfältige Fachwissen von Menschen mit gelebter Erfahrung zu nutzen, damit die Maßnahmen mit Blick auf ihre Leistungsempfänger konzipiert und umgesetzt werden können.

Die einfache Wahrheit lautet: Wenn die Regierungen mit ihren Konzepten Wirkung erzielen wollen, müssen sie den Menschen vor Ort zuhören – und zwar kontinuierlich.

Investieren

Es ist ermutigend, dass die Länder mehr als in der Vergangenheit in psychische Gesundheitssysteme investieren. Doch in den meisten Ländern der Europäischen Region beträgt der Anteil des gesamten Gesundheitsetats, der für psychische Gesundheit aufgewendet wird, durchschnittlich immer noch nur etwa 3,6 %. Schlimmer noch: Weltweit erhalten große psychiatrische Kliniken weiterhin den Löwenanteil der Mittel, obwohl sie nicht als wirksam für die Genesung gelten.

Dieser historische Ansatz bei der Haushaltsplanung im Bereich der psychischen Gesundheit darf nicht fortgesetzt werden. Anstatt die Mittel auf der Grundlage vergangener Haushaltspläne zuzuweisen, wie es derzeit in vielen Ländern geschieht, müssen wir die Mittel flexibel anhand der aktuellen Bedürfnisse der Menschen zuweisen. Es reicht nicht aus, mehr zu investieren, sondern es muss auch sinnvoller investiert werden.

Bei einer besseren Finanzierung würde der Schwerpunkt statt auf Krankheit auf Genesung liegen. Sie würde präventiven und fördernden Maßnahmen den gleichen Stellenwert einräumen wie Behandlung, Pflege und Rehabilitation. So würde auch der Teufelskreis von Stigmatisierung und Vorurteilen durchbrochen, der durch jahrzehntelange Unterfinanzierung, veraltete Leistungsangebote, ungünstige therapeutische Resultate und die unvermindert verbreitete Auffassung, dass psychische Erkrankungen unbesiegbar sind, fortbesteht. 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Länder sinnvoller investieren müssen, wenn wir wollen, dass die Systeme der psychischen Gesundheit so funktionieren, wie sie sollen, sodass sie eine langfristige Genesung und Wohlbefinden ermöglichen.

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Die Permakrise der letzten Jahre und die jahrzehntelangen Defizite bei den Investitionen haben uns viel darüber gelehrt, was psychische Gesundheitssysteme sind und was sie leisten könnten und sollten. Wir dürfen nicht darauf warten, dass die nächste Krise uns wieder vor Augen führt, was wir bereits wissen: dass psychische Gesundheit über den gesamten Lebenszyklus hinweg von entscheidender Bedeutung ist und dass unsere Systeme zum Schutz und zur Förderung dieser Gesundheit besser sein können und auch sollten.

Bei unseren strategischen Investitionen in den Schutz der psychischen Gesundheit als Grundlage für individuelles Wohlbefinden und gesellschaftliches Wohlergehen haben wir keine Zeit zu verlieren.