Die Wiederherstellung des Vertrauens in unsere und innerhalb unserer Gesundheitssysteme ist entscheidend für die Verwirklichung einer allgemeinen Gesundheitsversorgung
Tallinn, 12. Dezember 2023
Während führende Gesundheitspolitiker aus der Europäischen Region der WHO in Estland zu einer wegweisenden Konferenz über Gesundheitssysteme anlässlich des 15. Jahrestags der Charta von Tallinn zusammenkommen, in der hervorgehoben wird, dass niemand aufgrund von Gesundheitsproblemen in die Armut abrutschen dürfe, stellt ein neuer Bericht von WHO/Europa über 40 Länder in der Region fest, dass Millionen von Menschen immer noch Schwierigkeiten haben, für ihre Gesundheitsversorgung zu zahlen.
Die starke Abhängigkeit der Gesundheitssysteme von Zahlungen aus eigener Tasche führt dazu, dass viele Menschen bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen finanzielle Härten erleben oder mit Barrieren beim Zugang zu kämpfen haben, wodurch Bedürfnisse unerfüllt bleiben. Zahlungen aus eigener Tasche treiben zudem manche Menschen in die Armut oder machen sie noch ärmer. Weltweit sind 4,5 Mrd. Menschen – mehr als die Hälfte der Menschheit – nicht durch unentbehrliche Gesundheitsleistungen abgedeckt.
Kosten für die Gesundheitsversorgung im Vergleich zu Kosten für Nahrungsmittel
Neue Daten aus der Zeit vor der Pandemie (aus dem Jahr 2019) zeigen einige besorgniserregende Trends. Viele Länder in der Region weisen erhebliche Lücken in der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung auf: nur 23 von 40 Ländern geben an, mehr als 99 % der Bevölkerung zu versorgen. Die Häufigkeit ruinöser Gesundheitsausgaben ist in Ländern mit einer lückenhaften Gesundheitsversorgung dreimal so hoch wie in Ländern, die mehr als 99 % der Bevölkerung abdecken.
Betrachtet man das einkommensschwächste Fünftel der Bevölkerung in einem bestimmten Land, so können ruinöse Gesundheitsausgaben 2 bis 5 Mal so hoch sein wie der nationale Durchschnitt. Mit ruinösen Gesundheitsausgaben zu kämpfen bedeutet, dass ein Haushalt sich aufgrund von Zahlungen aus eigener Tasche für die Gesundheitsversorgung Grundbedürfnisse – wie Nahrungsmittel, Wohnung und Heizmittel – nicht länger leisten kann.
Dies bedeutet, dass die einkommensschwächsten Menschen am ehesten unter finanziellen Härten leiden. In den meisten Ländern (28) ist die Häufigkeit ruinöser Gesundheitsausgaben im Laufe der Zeit gestiegen, und zwar um durchschnittlich 1,7 Prozentpunkte. In den übrigen 12 Ländern ging die Häufigkeit ruinöser Gesundheitsausgaben im Durchschnitt um 1,8 Prozentpunkte zurück.
Zahlungen aus eigener Tasche für ambulante Arzneimittel sind in allen Ländern der Hauptgrund für finanzielle Härten, insbesondere für das einkommensschwächste Fünftel der Bevölkerung, gefolgt von medizinischen Produkten (z. B. Hörgeräte) und Zahnbehandlungen. In den ärmsten 20 % der Haushalte sind die Ausgaben für Arzneimittel in den 40 Ländern im Durchschnitt für 60 % der ruinösen Gesundheitsausgaben verantwortlich.
Die Pandemie hat die Situation für viele verschärft, da sie zu einem enormen Rückstau geführt hat, wodurch die Menschen gezwungen sein können, für private Gesundheitsfürsorge und Medikamente aus eigener Tasche zu zahlen, ebenso wie zu unüberwindbaren Zugangsbarrieren, was zu negativen gesundheitlichen Resultaten führt.
Arzneimittel, Medizinprodukte und zahnärztliche Versorgung sind Dienstleistungen, die in der primären Gesundheitsversorgung erbracht oder verwaltet werden sollten. Die Ergebnisse des Berichts deuten darauf hin, dass es in vielen Ländern der Region eine erhebliche Lücke bei der Kostenübernahme für die primäre Gesundheitsversorgung gibt.
„Unser Bericht zeigt, dass die Menschen schon vor der Pandemie mit einem inakzeptablen Maß an ruinösen Gesundheitsausgaben konfrontiert waren. Anlässlich des Internationalen Tags der allgemeinen Gesundheitsversorgung und nach den verheerenden Folgen der COVID-19-Pandemie ist es an der Zeit, die Gesundheitssysteme wieder auf Kurs zu bringen“, erklärte Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa.
„Für Millionen von Menschen in der Europäischen Region ist eine kostenlose oder erschwingliche Gesundheitsversorgung nur ein Traum. Viele stehen vor der Qual der Wahl, Medikamente oder Behandlungen auf Kosten von Nahrungsmitteln oder Strom zu bezahlen. Wir können einfach nicht zulassen, dass die Kosten für die Gesundheitsversorgung Millionen von Familien in die Armut treiben. Schließlich ist Gesundheit ein grundlegendes Menschenrecht.“
WHO/Europa fordert die Länder nachdrücklich dazu auf, die folgenden fünf politischen Entscheidungen zu treffen, um die finanzielle Absicherung zu verbessern und sich einer allgemeinen Gesundheitsversorgung anzunähern.
- Kostenerstattungskonzepte sollten angemessen durch öffentliche Ausgaben finanziert werden, um sicherzustellen, dass es keine größeren Personalengpässe, keine langen Wartezeiten für Behandlungen und keine informellen Zahlungen gibt.
- Der Anspruch auf eine öffentlich finanzierte Gesundheitsversorgung sollte von der Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge abgekoppelt werden. Die zuständige Steuerbehörde sollte sich mit der Nichtzahlung von Krankenversicherungsbeiträgen befassen, nicht das Gesundheitssystem.
- Benutzungsgebühren (Zuzahlungen) im Gesundheitswesen sollten sparsam eingesetzt und so gestaltet werden, dass Menschen mit geringem Einkommen oder chronischen Erkrankungen automatisch von allen Gebühren befreit sind.
- Die Kostenübernahme für die primäre Gesundheitsversorgung sollte die Behandlung und nicht nur die Beratung und Diagnose umfassen. Dies wird dazu beitragen, Zahlungen aus eigener Tasche für Medikamente, medizinische Produkte und zahnärztliche Versorgung zu verringern.
- Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten ohne Papiere sollten Anspruch auf die gleichen Leistungen haben wie andere Einwohner, ohne administrative Hürden beim Zugang zu Ansprüchen.
Vertrauen und Wandel
Mit der Unterzeichnung der Charta von Tallinn im Jahr 2008 verpflichteten sich alle Länder in der Region, die Last der Finanzierung des Gesundheitssystems gerecht und entsprechend der Zahlungsfähigkeit der Bevölkerung zu verteilen, damit die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen nicht zur Verarmung führt. Fünfzehn Jahre später ist die Verwirklichung einer allgemeinen Gesundheitsversorgung in vielen Ländern der Region noch weit von der Realität entfernt.
Verschiedene Studien und Umfragen haben auf einen wachsenden Mangel an Vertrauen in Institutionen und Politiker hingewiesen, was sich wiederum auf unsere Gesundheitssysteme auswirkt.
- Die Menschen vertrauen zunehmend nicht mehr darauf, dass die Gesundheitsdienste im Bedarfsfall für sie da sein werden.
- Die Beschäftigten im Gesundheits- und Pflegebereich verlieren das Vertrauen, dass das System sie wertschätzt, was zu zahlreichen Streiks und Arbeitskampfmaßnahmen in der gesamten Region geführt hat.
- Politiker haben kein Vertrauen in die Fähigkeit des Gesundheitssystems, sich angesichts neuer Herausforderungen zu reformieren (z. B. durch die Nutzung digitaler Innovationen) oder Probleme anzugehen (z. B. eine rasch alternde Bevölkerung oder das Anwerben und Halten von Gesundheitspersonal).
„Vertrauen steht im Mittelpunkt eines gut funktionierenden Gesundheitssystems“, fuhr Dr. Kluge fort. „Es spielt eine entscheidende Rolle bei der Erbringung wirksamer und hochwertiger Gesundheitsleistungen. Darüber hinaus ist Vertrauen unerlässlich, wenn die Länder die erforderlichen finanziellen Mittel zur Finanzierung der Gesundheitssysteme aufbringen wollen, insbesondere wenn die Bevölkerung aufgefordert wird, diese Mittel mit ihren Steuern und sonstigen Beiträgen bereitzustellen.“
Die Umgestaltung unserer Gesundheitssysteme erfordert die Wiederherstellung des Vertrauens zwischen dem Gesundheitssystem und drei verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die alle unterschiedliche Ansätze erfordern:
- Patienten – Wiederherstellung des Vertrauens durch aktive Einbeziehung der Patienten in ihre Versorgung, Transparenz und Förderung des gesellschaftlichen Engagements, z. B. durch Bürgerversammlungen;
- Gesundheitspersonal – Wiederherstellung des Vertrauens durch die richtige Einstellung, Bindung und Motivation von Gesundheitspersonal sowie durch Sensibilität für seine Bedürfnisse im Bereich der psychischen Gesundheit; und
- Politiker/politische Entscheidungsträger – Wiederherstellung des Vertrauens durch Investitionen in die Führung und Steuerung des Gesundheitswesens und die Gestaltung einer integrativen Gesundheitspolitik in Partnerschaft mit dem Gesundheitswesen.
„Vertrauen ist der Kitt, der unsere Gesellschaften – einschließlich unserer Gesundheitssysteme – zusammenhält. Ohne es bricht alles zusammen“, schloss Dr. Kluge.
„Wir müssen unsere Gesundheitssysteme grundlegend umgestalten, um sicherzustellen, dass die Menschen überall die richtige Versorgung zur richtigen Zeit am richtigen Ort durch das richtige Gesundheits- und Pflegepersonal erhalten können. Ich rufe die Länder dazu auf, mit Mut und Überzeugung zu handeln und das wachsende Vertrauensdefizit in unsere Gesundheitssysteme dringend zu beseitigen.“