Menschen mit Behinderungen sind während gesundheitlicher Notlagen wie Pandemien, extremen Wettereignissen und Konflikten mit zusätzlichen Herausforderungen konfrontiert. Gehörlose in der Ukraine, die den anhaltenden Krieg miterleben, bilden da keine Ausnahme. Während die ukrainische Bevölkerung mit häufigen Luftschutzsirenen leben muss, sind schätzungsweise 36 000 Bürger, die nicht hören können, auf Alarmbenachrichtigungen per SMS angewiesen. Da mobile Alarmbenachrichtigungen nicht durchgehen, sofern die Netzwerke nicht stabil sind, kommen Bomben und Raketen allzu oft ohne Vorwarnung.
Schätzungen des Weltverbandes der Gehörlosen zufolge waren bis Juni 2022 über 5000 Gehörlose aus dem Land geflohen. Tetiana Kryvko und ihre Kollegen von der Ukrainischen Gesellschaft der Gehörlosen zählen zu den vielen anderen, die bislang geblieben sind.
Tetiana wurde im Westen der Ukraine in eine gehörlose Familie geboren. Trotz Versuchen, ihr Hörvermögen zu erhalten, verschlechterte es sich als sie fünf Jahre alt war. Tetianas Großmutter brachte ihr Lesen und Schreiben bei. Mittlerweile führt sie ihren umfassenden und differenzierten Wortschatz auf die vielen Stunden zurück, die sie während ihrer Kindheit mit dem Lesen ihrer Lieblingsbücher verbrachte.
Mithilfe einer Kombination aus der Ukrainischen Gebärdensprache und einem Hörgerät kann Tetiana effektiv sowohl mit Hörenden als auch mit Gemeinschaften der Gehörlosen kommunizieren. Als Erste Stellvertretende Vorsitzende der Ukrainischen Gesellschaft der Gehörlosen agiert sie als Vermittlerin zwischen diesen beiden Welten. Die Gesellschaft widmet sich der Verbesserung des Lebens von gehörlosen und schwerhörigen Bürgern im ganzen Land und bietet ein breites Spektrum an Leistungen, von der Verdolmetschung in Gebärdensprache bis hin zu Arbeitshilfen. „Es ginge schneller, aufzulisten, was die Gesellschaft nicht anbietet“, erklärt Tetiana. „Wir vertreten die Ansicht, dass alle Gehörlosen die Hilfe erhalten sollten, die sie brauchen.“
In Stille mit dem Krieg umgehen
Der Krieg in der Ukraine hatte verheerende Auswirkungen auf das Wohlbefinden und die Menschenrechte von Gehörlosen. Es ist schwieriger geworden, Zugang zu zuverlässigen Informationen zu erhalten, und, wie Tetiana erzählt, sind praktisch alle Erfolge, die in den Jahren zuvor erzielt wurden, ins Stocken geraten. „Gehörlose hatten mit prekären Bedingungen zu kämpfen“, erinnert sie sich an die Tage kurz nach der groß angelegten Invasion der Ukraine durch die Russische Föderation am 24. Februar 2022. „Sie wussten nicht, was sie tun sollten. Es gab Aufnahmen von Explosionen, der Präsident sprach im Fernsehen, aber es war schwer zu verstehen, was genau los war.“
Die Gesellschaft übersetzt die Ansprachen von Präsident Wolodymyr Selenskyj in Gebärdensprache und betreibt eine Video-Hotline für Konsultationen, über die sie dringend benötigte Informationen für Gehörlose und Schwerhörige bereitstellt. Doch angesichts einer begrenzten Mittelausstattung und stark beanspruchten Mitarbeitern arbeiten die Teams an der Belastungsgrenze. „Unsere Dolmetscher befanden sich unter Beschuss, genau wie jeder andere. Und dennoch haben sie in diesen ersten Wochen Tag und Nacht gearbeitet“, erzählt Tetiana.
Über ein Jahr nach Beginn des Krieges gibt es noch immer keine Protokolle für eine sichere Evakuierung von Gehörlosen in Notlagen. Am 14. Januar 2023 traf eine Rakete einen Wohnblock in der Stadt Dnipropetrowsk im Osten des Landes. Am nächsten Tag retteten Rettungsdienste eine junge Gehörlose aus den Trümmern. Sie konnte nicht um Hilfe rufen, aber schaffte es, über ihre Smartwatch an ihrem Handgelenk ihrer Mutter mitzuteilen, dass sie am Leben war.
„Für Gehörlose müsste es eine Art Leitlinien für Notfälle geben“, erklärt Tetiana. „Selbst wenn jemand versucht zu helfen, kann es schwer sein zu wissen, ob man dieser Person vertrauen kann.“ Nach 20 Stunden unter den Trümmern wurde die gehörlose Frau mit einer schweren Unterkühlung ins Krankenhaus gebracht, wo sie sich vollständig erholte. Traurigerweise verlor sie durch den Raketenangriff ihren Ehemann und ihren einjährigen Sohn.
Inklusion
„Die Inklusion von Gehörlosen ist ein langsamer und manchmal frustrierender Prozess“, sagt Tetiana. Dank der unermüdlichen Anstrengungen der Ukrainischen Gesellschaft der Gehörlosen und inspirierender Akteure wie der Aktivistin für Behindertenrechte Tetiana Barantsova, entwickelt das Büro des Präsidenten der Ukraine derzeit eine Initiative im Rahmen der Nationalen Strategie für Barrierefreiheit, derzufolge Gesundheitseinrichtungen eine Verdolmetschung in Gebärdensprache für jeden anbieten müssen, der darum bittet, statt dass Gehörlose sich selbst um die Organisation dieser Leistung kümmern müssen.
Tetiana erklärt, dass die Regel, nach der Menschen mit einer Hörschädigung nicht berechtigt sind, in der Ukraine einen Führerschein zu machen, ihrer Ansicht nach veraltet und diskriminierend ist. „Gehörlose waren immer schon in der Lage Auto zu fahren. In anderen Ländern dürfen sie nicht nur hinter dem Steuer sitzen, sondern können sogar Jobs ausüben, die mit Fahren verbunden sind; so können sie etwa als LKW-Fahrer tätig sein. Warum also dürfen wir in der Ukraine nicht Autofahren?“ Aufgrund dieser Regel sind viele Gehörlose mit Blick auf eine sichere Evakuierung mit zusätzlichen Barrieren konfrontiert.
„Gehörlose müssen in der Lage sein, ihre Rechte auf unabhängige Weise auszuüben, ohne auf andere angewiesen zu sein“, bekräftigt Tetiana. „Allzu oft sehen nicht wir nicht den Menschen hinter dem Dolmetscher oder der Hilfskraft. Wir kennen seine Bedürfnisse nicht und stellen nur über Dritte eine Beziehung zu diesem Menschen her.“
Nicht ohne uns über uns
Die Inklusion von Menschen mit Behinderungen steht im Zentrum des Handlungsrahmens der WHO zur Verwirklichung eines Höchstmaßes an Gesundheit für Menschen mit Behinderungen in der Europäischen Region (2022–2030). Der Handlungsrahmen fordert die Mitgliedstaaten dazu auf, routinemäßig Informationen in leicht zugänglichem Format bei Gesundheitsdienstleistern und über Beiträge in Rundfunk und Fernsehen zu Aspekten der öffentlichen Gesundheit bereitzustellen, und zielt zudem darauf ab, zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen während gesundheitlicher Notlagen vollständig geschützt sind.
Vor allen Dingen hofft Tetiana, dass Gehörlose in die Entscheidungsprozesse von Initiativen einbezogen werden, die sie betreffen, insbesondere im Hinblick auf den Zugang zu einer hochwertigen, zeitnahen und bezahlbaren Gesundheitsversorgung. Der Ukrainischen Gesellschaft der Gehörlosen zufolge erhalten Gehörlose derzeit keine ausreichenden Informationen, um wichtige gesundheitliche Entscheidungen treffen zu können.
Auch Rehabilitationsmaßnahmen müssten einen integralen Bestandteil der Leistungserbringung darstellen, fordern Fürsprecher. Als Tetiana zum ersten Mal ein Hörgerät eingesetzt wurde, verstärkte es den Schall sämtlicher Geräusche: lautes Knallen, Bohrmaschinen, die Motoren von Motorrädern. Mit der Zeit gewöhnte sie sich daran. Tetiana hebt hervor, dass Gehörlose und ihre Familien die wichtige Rolle von Rehabilitationsmaßnahmen und assistiver Technologie verstehen müssen.
„Unzureichende Rehabilitation kann etwa für ein Kind mit Gehörverlust ungerechtfertigtes Trauma nach sich ziehen“, sagt sie abschließend. „Natürlich sollten Cochlea-Implantate und Hörgeräte zur Verfügung stehen. Doch was noch wichtiger ist, ist, dass jede(r) Gehörlose seine bzw. ihre eigenen Entscheidungen über die benötigten Gesundheitsleistungen treffen sollte, und dafür bedarf es zuverlässiger und zugänglicher Informationen.“