„Körperlich aktiv zu sein, war immer ungeheuer wichtig für mich. Es ist ein wesentlicher Teil meines Wohlbefindens und meines Selbstverständnisses.“
In jüngeren Jahren radelte der mittlerweile 46-jährige Chris Allan von London nach Kathmandu. Er ist Marathons gelaufen und hat kurz vor seiner Erkrankung an COVID-19 im Jahr 2020 einen 7000 Meter hohen Berg in Zentralasien bestiegen.
Im März 2020 steckte er sich mit COVID-19 an, vermutlich in einem Pendlerzug nach London, wo er als Beamter arbeitet. Er hatte einen relativ milden Verlauf mit phasenweise Atemlosigkeit und Husten, und nach ein paar Wochen fühlte er sich wieder
gut genug, um seine Arbeit online wieder aufzunehmen. Doch kurz darauf wurde er manchmal von anfallartiger Erschöpfung befallen, sodass er in solchen Augenblicken nicht arbeiten konnte.
„Es war eine körperliche und geistige Müdigkeit, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte“, erinnert er sich.
Etwa 10% bis 20% der Menschen, die an COVID-19 erkranken, erleben nach ihrer Genesung von der ursprünglichen Erkrankung eine Vielzahl mittel- bis langfristiger Wirkungen. Erschöpfung ist nur eines aus einer ganzen Reihe von Symptomen, zu denen
auch Übelkeit, Bewusstseinstrübung sowie dermatologische und neurologische Erkrankungen zählen.
Chris arbeitete weiter online und versuchte, seine Aktivitäten zu reduzieren, doch er hustete immer noch viel und bekam eine Pleuritis – eine schmerzhafte Entzündung des Gewebes zwischen Lunge und Innenseite der Rippen.
„Sogar ein kurzer Spaziergang ließ manchmal meinen Puls hochschnellen, und sobald ich es auch nur ein wenig übertrieb, bekam ich die Quittung in Form von tagelanger niederschmetternder Erschöpfung.“
Röntgenaufnahmen des Brustkorbs und Herzuntersuchungen zeigten keinerlei Auffälligkeiten. Long COVID war erst gerade dabei, anerkannt zu werden, und seine Ärzte konnten ihm nicht viel Rat geben, außer sich zu schonen. Um sich zu erholen,
hörte er ganz mit der Arbeit auf, aber obwohl die von seinem Allgemeinarzt empfohlenen Bewältigungstechniken dazu beitrugen, ihm größere Rückfälle zu ersparen, bewirkten sie doch keine Verbesserung der zugrunde liegenden
Symptome.
„Es war eine Zeit enormer Ungewissheit. Es war hart für meine Familie. Ich konnte nicht arbeiten oder Sport treiben und musste sogar jeden Nachmittag schlafen. Ich konnte nicht mit meinen Kindern spielen wie sonst, und das machte mich wirklich
traurig. Um meine Stimmung und meine Energielosigkeit in den Griff zu bekommen, musste ich alle möglichen Techniken und Verhaltensweisen erlernen, die mir überhaupt nicht vertraut waren, zum Beispiel Achtsamkeit und Atemübungen.“
Ein Jahr nach seiner Infektion mit COVID-19 kehrte Chris in Teilzeit an seinen Arbeitsplatz zurück, ohne sich jedoch besser zu fühlen.
„Ich war total frustriert. Glücklicherweise gelang es mir dank der Unterstützung durch Arbeitskollegen und Familie, das Abrutschen in eine schwere Depression zu vermeiden, aber ich kann voll verstehen, warum das in einer solchen Situation
passieren kann, wenn man keine Prognose und kein klares Verständnis hat, was die Krankheit verursacht, und dann die Angst, nicht zu wissen, ob man sich je erholen wird. Rückblickend war das wohl die schlimmste Zeit meines Lebens.“
Glücklicherweise erfuhr er im Sommer 2021 durch einen Freund von einem Webinar eines privaten Kardiologen, der Erfolge bei der Behandlung von Menschen mit ähnlichen Symptomen erzielt hatte. Chris nahm Kontakt zu ihm auf und erhielt eine kardiologische
MRT, die eine zuvor nicht diagnostizierte Myokarditis – eine Entzündung des Herzmuskels – ans Licht brachte.
„Die Diagnose war eine enorme Erleichterung. Und erst das Gefühl, dass es da vielleicht Behandlungen gibt, die helfen.“
In den nächsten Monaten nahm er zwei ihm verschriebene allgemein verfügbare Medikamente ein, und bis zum Herbst verbesserte sich sein Zustand dramatisch. Nach einer ärztlichen Untersuchung, einer weiteren MRT und der langsamen Einführung
von sportlicher Aktivität unter Überwachung der Herzfrequenz geht er inzwischen wieder zum Laufen, Radfahren und Fußballspielen.
Doch Chris gehört noch zu den Glücklichen. Denn viele Menschen mit Long COVID haben immer noch Schwierigkeiten, eine klare Diagnose ihrer Gesundheitsprobleme zu bekommen, und nur wenige finden eine Behandlung, die ihre Symptome verschwinden
lässt.
„Ich habe großes Mitgefühl mit den Millionen Menschen, die immer noch an Long COVID leiden. Ich hoffe wirklich, dass das Bewusstsein für die Schwere und Häufigkeit dieser Erkrankung einen Weckruf auslöst, der zu deutlich
mehr Forschung im Bereich der Behandlung postviraler Erkrankungen führt.“
Chris appelliert dringend an die Menschen, bei Schutzmaßnahmen gegen COVID-19 nicht nachzulassen.
„Ich trage meine Maske in der Bahn und wenn ich Husten oder eine Erkältung habe, gehe ich lieber mal nicht ins Büro. 18 Monate lang habe ich erlebt, was sogar ein milder Verlauf von COVID-19 anrichten kann. Ich wünsche es niemandem,
dass er dasselbe durchmachen muss wie ich.“
Das Post-COVID-19-Syndrom: Mehr Anerkennung, Forschung und Rehabilitation
Das Ausmaß des Post-COVID-19-Syndroms (Long COVID) und die langfristige Belastung, die es wohl für die Gesundheitssysteme darstellen wird, werden erst jetzt allmählich erkannt. Studien zufolge haben rund 10% bis 20% der mit COVID-19 Infizierten,
also Millionen von Menschen weltweit, möglicherweise noch Wochen, Monate oder sogar Jahre nach ihrer ursprünglichen Infektion mit anhaltenden Symptomen zu kämpfen.
WHO/Europa ist derzeit dabei, eine Partnerschaft mit Long COVID Europe einzugehen, ein Netzwerk aus patientengeführten Verbänden, das seit seiner Gründung im letzten Jahr Informationen zu der Erkrankung sammelt und sie mit interessierten
Akteuren und Betroffenen teilt.
Darüber hinaus arbeitet WHO/Europa mit Patientengruppen zusammen, um vorrangige Bereiche zu ermitteln, in denen Handlungsbedarf besteht. Aktuell fordert WHO/Europa Regierungen und Behörden auf, ihre Aufmerksamkeit auf Long COVID und die von
dieser Erkrankung Betroffenen zu richten, und zwar durch mehr:
- Anerkennung: sämtliche Dienste müssen angemessen ausgestattet werden, und kein Patient sollte allein gelassen werden oder sich in einem System zurechtfinden müssen, das nicht darauf vorbereitet oder nicht in der Lage ist, diese stark beeinträchtigende Erkrankung anzuerkennen;
- Forschung und Berichterstattung: es bedarf der Datensammlung und Fallmeldung sowie einer gut koordinierten Erforschung unter vollständiger Einbindung von Patienten, um ein besseres Verständnis der Prävalenz, Ursachen und Kosten von Long COVID zu entwickeln; und
- Rehabilitation: diese kostenwirksame Intervention stellt eine Investition in den Wiederaufbau gesunder und produktiver Gesellschaften dar.