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Erklärung – Vor dem dritten Winter in einem ausgewachsenen Krieg kommt es für die Ukraine wieder entscheidend auf die Gesundheit an

Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

12 September 2024
Aussage
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Zum Abschluss meines sechsten Besuchs in der Ukraine seit Anfang 2022 ist meine wichtigste Botschaft heute ebenso einfach wie dringend: Die Ukraine nähert sich dem dritten Winter eines ausgewachsenen Krieges, der wohl der schwierigste werden dürfte. Ein erneutes besonderes Augenmerk auf Gesundheit ist dringender denn je, und zwar seitens der Regierung, der WHO und der Geber – und dabei muss in den Kategorien Reaktion, Wiederaufbau und nicht zuletzt Reform gedacht werden. 

Nach aktuellem Stand hat die WHO insgesamt fast 2000 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen in der Ukraine bestätigt, also auf Krankenhäuser, Gesundheitspersonal und Patienten. 

In den letzten sechs Monaten wurde die Energieinfrastruktur der Ukraine durch gezielte Angriffe beschädigt. Die häufigen Stromausfälle im Sommer fordern bereits ihren Tribut, und für den Winter stehen die Zeichen auf Sturm: so ist beispielsweise die Lagerung und Verteilung von Impfstoffen gefährdet. Wenn aber die Impfstoffvorräte nicht verwendet werden können, könnte es zu einer Zunahme impfpräventabler Krankheiten kommen. 

Darüber hinaus könnte die Wasserversorgung beeinträchtigt werden, da Wasserwerke auf eine ununterbrochene Stromversorgung angewiesen sind. Dies könnte zu einer Zunahme wasser- und lebensmittelbedingter Krankheiten führen. Das Fehlen von Heiz- und Belüftungssystemen im Winter könnte zu einem Anstieg von Atemwegsinfektionen – von Influenza bis COVID-19 – beitragen. 

Außerdem – und das ist entscheidend – ist die Bedrohung durch antimikrobielle Resistenz (AMR) vor dem Hintergrund von Kriegen und humanitären Katastrophen sehr real. Während sich der Krieg in der Ukraine hinzieht und die Verletzten dringend behandelt werden müssen, wächst die Besorgnis über die Entstehung von Arzneimittelresistenzen durch Antibiotikamissbrauch. Wir haben Geschichten von Wunden gehört, die aufgrund von AMR einfach nicht heilen – eine Situation, die weit über die Ukraine hinaus Folgen haben kann, wenn Medikamente unbrauchbar werden. 

Aufgrund der Besorgnis über die Stromversorgung forcieren die WHO und die Gesundheitsbehörden ihre Bemühungen, landesweit in Gesundheitseinrichtungen Generatoren und andere wichtige Geräte zu installieren. So haben wir vor Kurzem in der Region Charkiw eine Heizungsanlage im Zentralkrankenhaus von Tschuhujiw in Betrieb genommen, einer Einrichtung in der Nähe der Front, die im Jahr 2022 schwer beschädigt wurde und die ich in dieser Woche besucht habe. Sie ist nur eine von insgesamt 15 solchen Heizanlagen, die die WHO in acht Regionen installieren lässt.

Um die Gefahr durch AMR kurzfristig zu bekämpfen, gibt es in der Ukraine inzwischen 100 Labore, die arzneimittelresistente Bakterien überwachen; noch im Jahr 2017 waren es nur drei. Doch es kommt auf konsequente Kontrollen an. Dieses Thema werde ich auf der in weniger als zwei Wochen in New York stattfindenden Tagung der Vereinten Nationen auf hoher Ebene zum Thema AMR zur Sprache bringen. 

Ein weiteres Problem in der Ukraine mit Blick auf den Winter ist das Risiko, dass die psychische Gesundheit der Menschen leidet. Schon jetzt sind geschätzt 10 Millionen Menschen von psychischen Gesundheitsproblemen bedroht, die von milder bis zu schwerer Symptomatik reichen können. Nun, da der Krieg schon fast drei Jahre dauert, nehmen solche Probleme nur zu, und aufgrund der winterlichen Jahreszeit könnte sich die Situation noch verschärfen. Das nationale Programm für psychiatrische und psychosoziale Versorgung, das unter der Schirmherrschaft der ukrainischen Präsidentengattin Olena Selenska steht, wurde zügig ausgeweitet, aber immer noch übersteigt die Nachfrage bei Weitem das Angebot.

Von der unmittelbaren Hilfe zur längerfristigen Erholung – unsere jüngste Bewertung des Gesundheitsbedarfs in der Ukraine zeigt, dass 8 % der Haushalte derzeit keinen Zugang zu einer Einrichtung der primären Gesundheitsversorgung haben.

Eine weitere Herausforderung ist der Zugang zu Arzneimitteln. So berichten mehr als 80 % der Haushalte, dass sie Probleme bei der Beschaffung der benötigten Arzneimittel haben, und 6 % geben an, dass sie keinen Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln haben. Ein Drittel der Befragten gibt an, nicht genug Geld für den Kauf von Medikamenten zu haben.

Nun, vor dem Winter, wird der primären Gesundheitsversorgung Vorrang eingeräumt, um die Menschen dort zu versorgen, wo sie leben, auch in Gemeinden in Nähe der Frontlinie. In dieser Woche hat die WHO in Tschohodariwka, einem ländlichen Gebiet in der Region Odessa, eine modulare Klinik für die primäre Gesundheitsversorgung in Betrieb genommen, um die Grundversorgung von fast 2000 Menschen zu gewährleisten und die Arzneimittelversorgung trotz anhaltender Probleme zu verbessern.

Bis zum Jahresende werden wir rund 40 solcher Kliniken in sechs Regionen eingerichtet haben. Dies ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass unmittelbare Hilfe und Wiederaufbau Hand in Hand gehen, denn diese Einrichtungen stellen sicher, dass die primäre Gesundheitsversorgung auch in den kommenden Jahren funktioniert.

Ich habe auch eine von der WHO unterstützte Rehabilitationseinrichtung in Poltawa besucht, in der gut ausgebildete Therapeuten Patienten aller Altersgruppen lebensverändernde Hilfe anbieten. Das nationale Rehabilitationsprogramm der Ukraine hat in relativ kurzer Zeit beeindruckende Fortschritte erzielt. Doch je länger der Krieg andauert, desto größer wird leider der Bedarf an Prothesen und Physiotherapieangeboten. 

Ein weiteres Beispiel habe ich diese Woche in der Frontstadt Charkiw erlebt, wo die Regionalregierung den Wiederaufbau des Gesundheitssystems beschleunigt. Die durch den Krieg schwer beschädigten Gesundheitseinrichtungen werden renoviert, u. a. mit verstärkten Sicherheitsmaßnahmen, die der Anpassung an den ständigen Artilleriebeschuss dienen. Außerdem kommen neue Leistungsangebote für eine Reihe von nichtübertragbaren Krankheiten hinzu, von Herz-Kreislauf- bis zu Krebserkrankungen. Dies ist wahrlich ein Beispiel für einen Wiederaufbau zum Besseren. 

Die unmittelbare Reaktion auf die Erfordernisse des Winters und die längerfristige Erholung des Gesundheitssystems hängen letztlich von den laufenden Gesundheitsreformen in der Ukraine ab. Dieser Prozess begann lange vor dem Februar 2022, und bemerkenswerterweise ist es dem Land gelungen, ihn trotz des Krieges fortzuführen. 

Die Gesundheitsreformen dienen dem erklärten Ziel der Ukraine, der Europäischen Union beizutreten. In diesem Rahmen müssen eine Reihe von Indikatoren verbessert werden, darunter auch die Indikatoren zur Eindämmung des Tabakkonsums und zur Bekämpfung antimikrobieller Resistenzen; dies sind nur zwei vorrangige Bereiche, in denen das Gesundheitsministerium entschlossen voranschreitet.  

Abschließend möchte ich noch einmal betonen, wie wichtig es ist, dass das ukrainische Gesundheitssystem die Herausforderungen des bevorstehenden Winters, einschließlich der Angriffe auf das Gesundheitswesen, die einen klaren Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht darstellen, übersteht und bewältigt.

Die Ukraine braucht Gesundheit und Sicherheit – nämlich Sicherheit vor Angriffen, vor impfpräventablen Krankheiten, vor AMR, vor einem breiten Spektrum von Problemen, die Gesundheit und Wohlbefinden beeinträchtigen. Gesundheit ist wirklich der Kitt, der Gesellschaften und Länder zusammenhält.

Ich möchte mit einem herzlichen Dank an alle Geber und Partnerorganisationen schließen, die das Streben der Ukraine nach Gesundheit für alle – und unter allen Umständen – unterstützen. Letztendlich gilt unser Dank den heldenhaften Mitarbeitern des ukrainischen Gesundheitswesens – und dem Gesundheitsministerium unter Minister Viktor Liashko – , denn sie haben gezeigt, wie Entschlossenheit und Mut aussehen.