Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, zur Eröffnung der Konferenz anlässlich des 15. Jahrestages der Unterzeichnung der Charta von Tallinn über Gesundheitssysteme
12. Dezember 2023
Sehr geehrte Frau Karis, sehr geehrte Frau Ministerin Sikkut, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde!
Es ist mir eine große Freude, heute mit Ihnen diese Tagung zu eröffnen.
Es ist eine weit verbreitete Auffassung, dass die Welt heute weniger sicher, ungleicher, geteilter und stärker von verantwortungslosen Geschäftsinteressen geprägt ist als in der Vergangenheit. Die wachsende Unzufriedenheit mit den traditionellen politischen Systemen und mit den Institutionen, die durch gezielte Desinformation noch verstärkt wird, stellt eine echte Bedrohung für das Gefüge unserer Gesellschaften dar.
Deshalb haben wir diese Konferenz auf eine neue Art und Weise konzipiert, bei der die Beschäftigten im Gesundheits- und Pflegewesen, die politischen Entscheidungsträger und die Patienten in die Erarbeitung der Evidenzbasis einbezogen werden und auch heute hier teilnehmen.
– Patientinnen wie Mira Dzhutankeeva, eine 67-jährige Frau aus dem Bezirk Alamedin in Kirgisistan, die mit Diabetes lebt und die für eine unserer Fallstudien interviewt wurde. Wir werden uns heute Nachmittag noch ausführlicher mit diesen Fallstudien befassen, und ich empfehle Ihnen, sich alle drei begleitenden Videos anzusehen.
Mira hat gesagt: „Das Wichtigste ist, dass du zum Arzt gehst und dich um deine Gesundheit kümmerst. Das sage ich allen.“
So sehen es meiner Meinung nach viele Menschen – vor allem die älteren Generationen –, wenn sie über ihre Gesundheit und die Gesundheitssysteme nachdenken.
Aber diese einfache Aussage setzt mehrere Dinge voraus:
- dass Sie Zugang zu einem Arzt haben;
- dass Sie sich die benötigten Medikamente und Behandlungen besorgen können;
- dass Sie auf das Gesundheitssystem vertrauen;
- dass Sie in partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit ihm mündige Entscheidungen über Ihre Gesundheit treffen können;
- dass Sie an einem Ort leben, der Ihrer Gesundheit zuträglich ist.
Wie wir wissen, können unsere Gesundheitssysteme und unsere Gesellschaften heute solche Bedingungen nicht garantieren.
Und angesichts des langen Schattens, den COVID-19, die Klimakrise und verschiedene Konflikte geworfen haben, werden die Rahmenbedingungen, unter denen die Gesundheitssysteme arbeiten, immer komplexer.
Die Notwendigkeit, mehr Ressourcen für die Gesundheit zu generieren, mehr Gesundheitsleistungen zu erbringen und das effizienter zu tun, ist das Rätsel, das viele von uns nachts wach hält.
Als ich 2020 das Europäische Arbeitsprogramm vorstellte, bestand sein Ausgangspunkt darin, auf die legitimen Erwartungen der Bürger an ihre Gesundheitsbehörden zu reagieren.
Die zentrale Prämisse, unter der wir hier in Tallinn zusammenkommen, geht noch weiter: Wir wollen das Vertrauen stärken, unsere Gesundheitssysteme umgestalten und uns dabei auf die Werte Solidarität, Chancengleichheit und Teilhabe stützen, die in der Charta von Tallinn verankert sind, der vor 15 Jahren alle Mitgliedstaaten zugestimmt haben.
Gestatten Sie mir also, in den nächsten Minuten einen Blick auf die Europäische Region der WHO zu werfen, um zu sehen, wo wir heute in Bezug auf das, was Mira als „das Wichtigste“ bezeichnet hat, stehen und was wir besser machen müssen: es geht sozusagen um eine Bestandsaufnahme und ein Rezept für die Gesundheitssysteme.
Erstens: Haben die Menschen Zugang zu einem Arzt? Die Antwort lautet: Das hängt von Ihrem Wohnort und Ihrem Status ab. Es wird erwartet, dass bis zum Jahr 2030 aufgrund des akuten Arbeitskräftemangels weltweit 10 Mio. Arbeitskräfte im Gesundheits- und Pflegewesen fehlen werden. Ich habe schon oft über diese tickende Zeitbombe gesprochen. Obwohl die Europäische Region von allen Regionen der WHO über die höchste Dichte an Gesundheitspersonal verfügt, ist diese Dichte doch ungleich verteilt, und es fehlen uns Fachkräfte in ländlichen und unterversorgten Gebieten.
Dank der Unterstützung durch die Mitgliedstaaten haben wir nun einen Handlungsrahmen für das Gesundheits- und Pflegepersonal. Darin wird umrissen, was wir dringend tun müssen, um nicht nur die Zahl der Pflegekräfte, Ärzte und sonstigen Gesundheitsberufe zu erhöhen, sondern auch diese zu schützen und dafür zu sorgen, dass sie über die notwendigen Qualifikationen verfügen, um künftige Anforderungen zu erfüllen.
Zweitens: Können die Menschen sich die benötigten Medikamente und Behandlungen beschaffen? Heute stellen wir einen neuen Bericht vor, den unser Büro Barcelona zur Finanzierung der Gesundheitssysteme verfasst hat und in dem Erkenntnisse über finanzielle Absicherung aus insgesamt 40 Ländern aus der gesamten Europäischen Region zusammengetragen werden. Die einfache Antwort lautet „nein“; viel zu viele Menschen können sich heute ihre Gesundheitsversorgung nicht leisten.
Im Mittel sind 6 % der Haushalte von ruinösen Gesundheitsausgaben – meist für Arzneimittel – betroffen und können sich oft die Befriedigung anderer grundlegender Bedürfnisse wie Lebensmittel und Wohnen nicht mehr leisten. Bei dem ärmsten Fünftel der Bevölkerung sind es sogar 20 %. In über zwei Dritteln der untersuchten Länder hat sich die finanzielle Absicherung in letzter Zeit verschlechtert.
Liebe Freunde, das ist nicht die Botschaft, die ich heute, am Welttag der allgemeinen Gesundheitsversorgung, mit Ihnen teilen möchte. Aber Fortschritte sind möglich, und der Bericht enthält eine Checkliste bewährter Verfahren, wie etwa die Gewährleistung, dass die primäre Gesundheitsversorgung sowohl die Behandlung als auch die Beratung und Diagnose umfasst. Hier möchte ich Estland zu seinen Bemühungen beglückwünschen, die Zuzahlungen für ambulant verschriebene Medikamente zu senken und zur Beseitigung administrativer Hindernisse eine digitale Lösung einzuführen.
Drittens: Vertrauen die Menschen ihrem Gesundheitssystem und den Gesundheitsberufen? Als Teil der Faktengrundlage für diese Konferenz hat das Europäische Observatorium für Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik eine Serie von fünf Kurzdossiers erstellt. Eines davon befasst sich mit Vertrauen; auf Vertrauen kommt es an.
Es ist ein komplexes Konzept, und wir haben kein vollständiges Bild vom Vertrauen in die Gesundheitssysteme. Aber eine 2020 durchgeführte Umfrage des Wellcome Global Monitor ergab, dass der Anteil der Menschen, die die Frage „Wie sehr vertrauen Sie Ärzten und Pflegekräften in diesem Land?“ mit „sehr“ beantworteten, in den 40 untersuchten Ländern der Europäischen Region zwischen 14 % und 77 % lag.
Und wir wissen, dass Vertrauensverlust durch unsichere Lebensverhältnisse bedingt ist. Das Vertrauen in andere Menschen ist bei einkommensschwachen Personen um 40 % geringer als bei Menschen mit hohem Einkommen.
Um das Vertrauen der Patienten zu stärken, müssen unbedingt Maßnahmen gegen weit verbreitete Praktiken ergriffen werden, die das Vertrauen untergraben, etwa gegen informelle Zahlungen für Gesundheitsleistungen. Wir müssen Vertrauen zu schätzen wissen und es fördern.
Eine gute Möglichkeit, dies zu tun, besteht darin, über formelle Beratungen hinauszugehen und stattdessen bei der Entwicklung politischer Konzepte auf Bürgerversammlungen zu setzen. Auf solchen Versammlungen treffen vielfältige Sichtweisen aufeinander, wobei hier offene, sachkundige Diskussionen geführt werden und so die Akzeptanz der von den Entscheidungen Betroffenen erhöht wird.
Viertens: Arbeiten die Gesundheitssysteme partnerschaftlich mit den Patienten zusammen? Die Umgestaltung unserer Gesundheitssysteme ist nicht nur notwendig, um die Leistungserbringung im Gesundheitswesen zu verbessern und gleichzeitig die Kosten einzudämmen, sondern auch, um das Potenzial der Menschen zur Mitgestaltung von Gesundheit voll auszuschöpfen.
Die primäre Gesundheitsversorgung kommt einem Allheilmittel am nächsten: sie legt den Schwerpunkt auf Prävention, reduziert den Bedarf an teuren und intensiven Behandlungen, stellt die Gesundheitsversorgung fest in den Mittelpunkt der Gesellschaft, reagiert direkt auf Fehlinformationen und ermöglicht es den Menschen, Beziehungen zu multidisziplinären Gesundheitsteams aufzubauen.
Als langjähriger Vorreiter im Bereich der primären Gesundheitsversorgung ist Kasachstan dazu übergegangen, für die Erbringung gemeindenaher Gesundheitsleistungen multidisziplinäre Teams einzusetzen. Dabei haben die Hausärzte ihre nicht-klinischen Kompetenzen in Bereichen wie der Kommunikation mit Patienten erweitert, und die Autonomie der Pflegekräfte in diesen Teams hat sich auf die Präventionsarbeit auf individueller und auf Bevölkerungsebene ausgeweitet, einschließlich der Beratung von Patienten mit nichtübertragbaren Krankheiten. Auch Sozialarbeiter und Psychologen werden einbezogen, um die Bedürfnisse von Gruppen in der Gesellschaft zu ermitteln, die sich in einer prekären Situation befinden. Dies hat dazu geführt, dass die primäre Gesundheitsversorgung inzwischen näher an den Ursachen von Krankheit ansetzt und dazu beiträgt, die psychosozialen Aspekte von Gesundheitsproblemen anzugehen.
Wir müssen jede Entscheidung, die wir im Gesundheitssystem treffen, aus Sicht der primären Gesundheitsversorgung betrachten. Und wir müssen sie zum Anker widerstandsfähiger Gesundheitssysteme machen, der mit zwecktauglichen Krankenhäusern und effektiver Führung verknüpft ist.
Hier ist auch die Einbindung digitaler Gesundheitslösungen am unmittelbarsten spürbar – bei der Bekämpfung der Risikofaktoren für nichtübertragbare Krankheiten, bei Angeboten der Telemedizin und fernmedizinischen Betreuung, bei der Bereitstellung einer reaktionsschnellen psychiatrischen Versorgung und gleich um die Ecke bei der Implementierung einer KI-gestützten personalisierten Versorgung.
Die Pandemie hat in Griechenland die Umstellung auf die Digitalisierung und die vollständige Einführung eines papierlosen elektronischen Verschreibungssystems erleichtert, bei dem die physische Anwesenheit des Patienten nicht erforderlich ist. Sie hat es der primären Gesundheitsversorgung ermöglicht, unter extrem schwierigen Bedingungen wirksam zu reagieren, Zugangsbarrieren für Menschen mit chronischen oder akuten Erkrankungen zu beseitigen und den Aufwand für die Bearbeitung von Rezepten durch das medizinische Personal zu verringern.
Die Möglichkeiten, die uns die KI eröffnet, bringen mich zurück zu der Feststellung, dass es bei der Umgestaltung unserer Gesundheitssysteme auf Vertrauen ankommt. Bürger, Patienten und Gesundheitspersonal müssen sich absolut darauf verlassen können, dass ihre Daten geschützt und sicher sind und dass das System in ihrem Interesse arbeitet.
Dies bringt mich zu meiner fünften und letzten Frage in Verbindung mit der Bestandsaufnahme unserer Gesundheitssysteme: Was tun wir dafür, dass andere Politikbereiche und unsere Gesellschaft insgesamt tatsächlich Gesundheit fördern?
Die Verschärfung der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Kluft hat erwiesenermaßen schwerwiegende Folgen: In den Mitgliedstaaten, die am wenigsten für die Gesundheitssysteme und die menschliche Entwicklung ausgeben, war die Sterblichkeitsrate während der Pandemie höher, was schätzungsweise 600 000 vermeidbare Todesfälle in der Europäischen Region zur Folge hatte.
Seit die Paneuropäische Kommission für Gesundheit und nachhaltige Entwicklung vor über zwei Jahren ihre Schlussfolgerungen veröffentlichte, haben wir unsere Bemühungen zur Herbeiführung einer Ökonomie des Wohlergehens intensiviert.
Ich habe mich dafür eingesetzt, das Gesundheits- und Pflegewesen, auf das 10 % der Gesamtbeschäftigung in den Ländern der Europäischen Region entfallen, als Hebel für eine chancengerechte, partizipative und umweltfreundliche Entwicklung zu nutzen. Ein zentraler Aspekt der Erklärung von Budapest über Umwelt und Gesundheit ist, dass das Gesundheitswesen umweltpolitisch mit gutem Beispiel vorangehen und die Kohlendioxidemissionen senken, die Umweltverschmutzung reduzieren und die eigene Klimaresilienz stärken muss.
Die Zusammenführung von Gesundheits-, Finanz- und Wirtschaftspolitik mit dem Ziel, in gesunde, wohlhabende und widerstandsfähige Gesellschaften für alle zu investieren, ist ein Rezept für mehr Gesundheit, einen stärkeren sozialen Zusammenhalt, inklusives Wirtschaftswachstum, mehr Stabilität und Frieden.
Doch wo stehen wir jetzt?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir befinden uns an einem Scheideweg. 2024 werden 4 Milliarden Menschen auf der Welt zur Wahl gehen. Allein in der Europäischen Region wird es im kommenden Jahr neun Parlamentswahlen und bis zu fünf Präsidentschaftswahlen geben.
Wir müssen unter Beweis stellen, dass die Gesundheitssysteme sowohl für die Menschen, die ihre Dienste in Anspruch nehmen, als auch für die Fachkräfte, die sie erbringen, funktionieren.
Wir müssen auch gezielt digitale Lösungen nutzen, um das Gesundheitswesen und die Innovationen im Gesundheitsbereich, auch nicht-digitale Ansätze, zu verändern, um die Effizienz, Zugänglichkeit und Qualität der Gesundheitsversorgung zu verbessern. Zu diesem Zweck entwickeln wir eine regionsweite Innovationsstrategie, die darauf abzielt, Gesundheitsinnovationen und neue Technologien, die sich nachhaltig und langfristig auf die Gesundheitssysteme auswirken, voranzutreiben und auszuweiten.
Dort, wo Miras Auffassung einst die Norm war, kann dies nicht mehr als sichere Annahme gelten.
Ich bin entschlossen, auch in Zukunft für eine breite Beteiligung zu sorgen. Eine der Sitzungen auf der morgigen Tagesordnung befasst sich beispielsweise mit der Frage, wie die Zivilgesellschaft und die Jugend eingebunden werden können, um Vertrauen zu fördern und die Umgestaltung der Gesundheitssysteme voranzutreiben.
Nutzen wir die nächsten zwei Tage, um umfassend zu erforschen, zu verstehen und zu planen, wie wir die Umsetzung der Charta von Tallinn in den nächsten fünf Jahren vorantreiben und damit den Grundstein für eine neue Vision für die Gesundheitssysteme legen können, die unseren Kindern und Enkelkindern zugute kommt.
Ich bedanke mich herzlich bei Ihnen, Frau Karis, und Ihnen, Frau Ministerin Sikkut, und bei Estland für Ihr anhaltendes Engagement für die Stärkung der Gesundheitssysteme in der gesamten Europäischen Region.
Wie man in Estland sagt: „Tasa sõuad, kaugele jõuad“ – mit einem steten Ruderschlag kommt man weit.