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Carolin Baur, Cancer Youth Ambassador
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Participants of WHO/Europe-ECL summer school for Youth Cancer Ambassadors, Barcelona
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Mashkur Isa, Cancer Prevention Youth Ambassador
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Erforschung kommerzieller Einflüsse auf Gesundheitsfachkräfte und die Krebsbekämpfung

13 November 2023
Pressemitteilung
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„Für Menschen, die zeit Jahrzehnten im öffentlichen Gesundheitswesen arbeiten und versuchen, dafür zu sorgen, dass die Gesundheit der Bevölkerung das oberste Ziel ist, unabhängig davon, was sonst noch geschieht, und dann letzten Endes keine konkreten Ergebnisse sehen ... ist es zunehmend frustrierend, so dass man irgendwann denkt: ,Okay, was können wir sonst noch tun?‘“ 

Mashkur Isa, Jugendbotschafter für die Krebsbekämpfung, Association of European Cancer Leagues

„Ist das nicht paradox: auf der einen Seite keine adäquaten Beschränkungen für die Tabak-, Zucker- oder Alkoholindustrie zu verhängen, aber gleichzeitig so viel Geld in Gesundheitskampagnen zu investieren, um den Menschen zu vermitteln ,Trinkt nicht so viel‘ und ,Fangt nicht mit dem Rauchen an‘?“ 

Carolin Baur, Jugendbotschafterin für die Krebsbekämpfung, Association of European Cancer Leagues 

Vor Kurzem richteten das WHO-Regionalbüro für Europa und die Association of European Cancer Leagues (ECL) gemeinsam ein zweitägiges Sommerseminar für Jugendbotschafter für die Krebsbekämpfung zu den kommerziellen Determinanten der Krebsprävention und -versorgung aus. 

Durch die Bereitstellung von Informationen für Diskussionen mit jungen Aktivisten und die Moderation dieser Diskussionen verfolgt die WHO das Ziel, das Bewusstsein für bestimmte kommerzielle Produkte und Praktiken zu schärfen und zur Ergreifung von Maßnahmen anzuregen, um die von diesen Produkten und Praktiken verursachten gesundheitlichen Schäden zu verringern.

Studien haben gezeigt, dass kommerzielle Produkte und Praktiken, insbesondere jene transnationaler Konzerne, erhebliche Auswirkungen auf die gesundheitlichen Resultate haben, darunter etwa die Inzidenz von Krebserkrankungen und die dadurch bedingte Sterblichkeit.

Ende des Sommers kamen 40 junge Gesundheitsaktivisten in Barcelona zusammen, um mehr über schädliche kommerzielle Praktiken zu erfahren, die die Gesundheitspolitik beeinflussen, zur Krebsinzidenz beitragen und sich auf den Zugang zur sowie die Qualität der Krebsversorgung auswirken. „Kommerzielle Determinanten“ sind ein relativ neues Gebiet der wissenschaftlichen Forschung, das aufgrund des schieren Ausmaßes und der unbestreitbaren Folgen der Einflussnahme der Industrie auf die Bevölkerungsgesundheit an Dynamik gewinnt. Das mit dem Bereich „soziale Determinanten von Gesundheit“ verknüpfte Forschungsgebiet erkennt an, dass die Bevölkerungsgesundheit zu großen Teilen von Einflussfaktoren bestimmt wird, die außerhalb der Kontrolle des Einzelnen liegen. 

Perspektiven der Jugend zu kommerziellen Einflüssen

Mashkur Isa war einer der Teilnehmer des Sommerseminars. Der studierte Arzt stammt aus Nigeria und lebt in Polen, hat einen Master-Abschluss in öffentlicher Gesundheit und ist seit vier Jahren als Jugendbotschafter für die Krebsprävention tätig. Er begrüßte das Thema der Veranstaltung und teilte Einblicke in das, was er als historische Vernachlässigung bei der Vorbereitung von Gesundheitsfachkräften auf den Umgang mit einer Welt voller Interessenkonflikte bezeichnet.

„Das Thema war wirklich sehr aktuell und wichtig. Es verdient mehr Aufmerksamkeit und ist etwas, das wir uns bewusst machen und über das wir mehr lernen müssen. In der Ausbildung von Gesundheitsfachkräften wird den kommerziellen Determinanten allgemein bzw. dem Umgang mit ihnen nur wenig oder gar keine Aufmerksamkeit geschenkt. Das ist ein großes Problem, da wir diejenigen sind, die mit ihnen umgehen müssen. Die von uns getroffenen Entscheidungen wirken sich letztendlich nicht nur auf die Gesundheit der Patienten und der Öffentlichkeit aus, sondern haben auch Folgen für die politischen und sozialen Kontexte, in denen wir alle leben.“

Für ihn kann durch die Erforschung der kommerziellen Determinanten Licht darauf geworfen werden, warum gesundheitspolitische Konzepte nicht schneller Fortschritte erzielen.

„Das Rahmenübereinkommen zur Eindämmung des Tabakgebrauchs ist seit 20 Jahren in Kraft, doch die Tabakindustrie übt nach wie vor immense Macht aus, und das wirft die Frage auf: Was genau geht eigentlich vor, was bedeutet das? Etwas Ähnliches erleben wir auch in Bezug auf Alkohol, Big Pharma, zuckerhaltige Getränke und andere Bereiche. Welche Rolle spielen wir, die Gesundheitsfachkräfte, genau? Wir müssen wissen, wie wir damit umgehen sollten. Ansonsten endet es damit, dass wir den falschen Ansatz fördern und mehr Schaden anrichten als Gutes zu tun.“

Eine Gemeinschaft aufbauen

Carolin Baur, die aus Deutschland stammt und in der Schweiz lebt, nahm ebenfalls an dem Sommerseminar teil. Sie ist ausgebildete Apothekerin und arbeitete zunächst in einer lokalen Apotheke, bevor sie einen Job bei einem Pharmaunternehmen annahm. Sie schloss sich in diesem Jahr dem Jugendbotschafter-Programm der ECL an. Die Tätigkeit in der Apotheke öffnete ihr die Augen bezüglich bestimmter kommerzieller Determinanten, u. a. dem Druck, Produkte zu verkaufen, der Abhängigkeit von Pharmareferenten im Hinblick auf Informationen zu neuen Arzneimitteln und der weit verbreiteten Nutzung von Medikamenten in Ermangelung starker präventiver Konzepte für die öffentliche Gesundheit und den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, wie etwa angemessenen Krankheitsurlaub. Für sie stellte das Sommerseminar sowohl eine Lernmöglichkeit als auch eine wertvolle Einführung in ein Netzwerk junger, energischer Fürsprecher dar, mit denen sie in Zukunft zusammenarbeiten kann.

„Es war wirklich toll, diese Leute zu treffen und Teil eines Kreises von Leuten zu sein, die sich aktiv für die öffentliche Gesundheit einsetzen und entsprechende Überzeugungsarbeit leisten. Ich war so inspiriert von all diesen Ideen und Gesprächen über die bestehenden Herausforderungen und darüber, was ich in Zukunft selbst unternehmen kann. Ich fühle mich als Teil einer Gemeinschaft. Es war der perfekte Start auf diesem neuen Weg für mich.“ 

Mashkur engagiert sich auch in der Klimabewegung, die er sowohl als aufschlussreich als auch als eine Quelle der Hoffnung für jene Menschen ansieht, die gegen kommerzielle Praktiken in anderen Bereichen der öffentlichen Gesundheit vorgehen wollen (wie etwa Beschäftigte der Fossilbrennstoffindustrie).

„Letztendlich ist es doch so, dass, wenn du das Richtige tust, es nicht wirklich darauf ankommt, wie die Chancen stehen. Worauf es ankommt, ist, dass du Menschen hast, die sich engagieren, die aufrichtig leidenschaftlich bei der Sache sind und die Veränderungen bewirken wollen. Das erleben wir auch in der Klimabewegung. Mittlerweile gibt es eine Menge Jugendaktivisten und Kinder, die Forderungen stellen und ihre Regierungen zur Verantwortung ziehen, und das Bewusstsein und entsprechende Maßnahmen wurden wirklich gestärkt.“

Wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung kommerzieller Einflussfaktoren

Mashkur und Carolin sind sich darin einig, wie dringend notwendig es ist, das Bewusstsein für kommerzielle Determinanten von Gesundheit zu schärfen und die Menschen über dieses Thema aufzuklären. 

„Es ist wichtig, dass jeder mit an Bord ist und jeder genau weiß, für was wir kämpfen“, erklärt Mashkur. „Wir zeigen den Menschen, dass es nicht nur etwas ist, das sie allein oder ihre Familie allein betrifft, sondern dass es Folgen für die gesamte Gemeinschaft und für die Länder hat. Kommerzielle Praktiken können sich auf bestimmte Menschen besonders stark auswirken. Besonders anfällig sind immer diejenigen, die am stärksten exponiert und am stärksten gefährdet sind. Dessen müssen wir uns bewusst sein.“

Carolin freut sich darauf, ihr neu erlerntes Wissen im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Sensibilisierungsmaßnahmen in Schulen mit anderen jungen Menschen zu teilen.

„Ich möchte Jugendlichen zeigen, inwiefern wir tagtäglich durch Lobbyarbeit manipuliert werden. Ich möchte ihnen Einblick in die kommerziellen Taktiken der Tabak-, Zucker- und Alkoholindustrie geben. Ich hoffe, dass junge Menschen mit diesem Wissen in der Lage sein werden, sich von diesen allgegenwärtigen und oft subtilen kommerziellen Einflüssen zu distanzieren.“

Mashkur verweist auf die Notwendigkeit von Weiterbildungsmöglichkeiten für Gesundheitsfachkräfte, insbesondere zu den Gefahren einer Zusammenarbeit mit der Industrie.

„Man kann ein Problem nicht wirklich lösen, wenn man nicht weiß, wo das Problem liegt. Es gibt noch immer viel zu viele Menschen, die dies nicht als Problem erkennen, da sie nicht über das nötige Bewusstsein oder Wissen verfügen, und somit tragen sie möglicherweise mit zum Problem bei. Es würde wirklich helfen, wenn wir über Plattformen verfügen würden, die Schulungen für junge Fachkräfte anbieten und das Bewusstsein junger Fachkräfte für dieses Problem schärfen oder wenn Schulungsprogramme für Ausbilder angeboten würden, die auch auf Ethikfragen eingehen. Als eine Organisation, die Wissen verbreitet und Glaubwürdigkeit ausstrahlt, spielt die WHO bei diesem Thema eine wichtige Rolle.“

Um den Mangel an Informationen rund um medizinische Produkte zu bekämpfen, der schon seit langer Zeit von der Pharmaindustrie und der Industrie für medizinische Geräte ausgenutzt wird, und um Gesundheitsfachkräfte weniger anfällig für den Einfluss der Industrie zu machen, bedarf es zuverlässiger Informationen und Validierungssysteme.
 
„Praktisch gesehen brauchen wir vor Ort ein System, das den Menschen rasch korrekte Informationen bereitstellt. Wir müssen Gesundheitsfachkräfte mit den Daten versorgen, die sie brauchen“, erklärt Mashkur. „Sobald man mit all diesen Botschaften der Industrie bombardiert wird, folgt man bei seinen Entscheidungen dem, was man bereits gewohnt ist, zu sehen. Es ist ein harter Kampf, in dem ungleiche Bedingungen herrschen, und zwar in jeglicher Hinsicht.“

Überzeugungs- und Lobbyarbeit

Mashkur macht auf einen weiteren Bereich aufmerksam, in dem das öffentliche Gesundheitswesen seine Kapazitäten ausweiten muss, um schädliche kommerzielle Einflüsse zu bekämpfen.

„Das öffentliche Gesundheitswesen investiert viel Geld in Überzeugungsarbeit. Die Industrie schert sich nicht wirklich um Überzeugungsarbeit; sie investiert stattdessen in Lobbyarbeit. Sie sind dort, wo es drauf ankommt, sprechen direkt mit Entscheidungsverantwortlichen und nutzen all ihre Macht, um ihre Ziele voranzubringen. Das öffentliche Gesundheitswesen hat natürlich die Pflicht, die Öffentlichkeit zu informieren und Wissen zu verbreiten, doch wir müssen auch einen Teil unserer Energie darauf verwenden, sicherzustellen, dass Entscheidungsträger die tiefgreifenden langfristigen Folgen ihrer Entscheidungen für die Bevölkerung verstehen.“

Kommerzielle Einflüsse auf die Gesundheit gehen über das unmittelbar Sichtbare hinaus: etwa die weit verbreitete Vermarktung und Verfügbarkeit ungesunder Lebensmittel, die bekanntermaßen mit steigenden Fallzahlen bei Adipositas und ernährungsbedingten Krebserkrankungen in Verbindung stehen. Kommerzielle Akteure, wie etwa der Pharmabereich und Medizintechnik-Unternehmen, betreiben hinter den Kulissen Lobbyarbeit für Konzepte, die ihrem Gewinn und ihren Anteilseignern zugutekommen, und zu häufig geht das zu Lasten der öffentlichen Gesundheit. Es gibt Belege für die Einflussnahme der Industrie auf klinische Leitlinien, die Förderung unnötiger Vorsorgeuntersuchungen und Arzneimittel sowie Prohibitivpreise für bestimmte Therapien. 

Die jungen Teilnehmer dieses Sommerseminars haben verstanden und sehr deutlich artikuliert, dass die Bekämpfung kommerzieller Einflüsse auf sämtliche politischen Bereiche mit Bezug zu nichtübertragbaren Krankheiten, einschließlich Krebs, unerlässlich ist, um die Krankheitslast in der Europäischen Region zu senken.