Kopenhagen, 13. November 2024
Ein neuer Bericht, der von WHO/Europa und der Studie zum Gesundheitsverhalten von Kindern im schulpflichtigen Alter (HBSC-Studie) veröffentlicht wurde, offenbart eine besorgniserregende Abnahme sozialer Unterstützung für Jugendliche in Europa, Zentralasien und Kanada. Die Ergebnisse sprechen eine deutliche Sprache: Nur 68 % der Jugendlichen berichten von einem hohen Maß an familiärer Unterstützung – ein deutlicher Rückgang im Vergleich zur vorherigen Umfrage aus dem Jahr 2018. Gleichzeitig hat der Druck in der Schule stark zugenommen, insbesondere für weibliche Jugendliche. Diese Trends wirken sich auf die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden von Millionen junger Menschen aus, insbesondere von älteren Jugendlichen und solchen aus weniger wohlhabenden Familien.
Der Bericht stützt sich auf Daten von insgesamt 279 117 Jugendlichen im Alter von 11, 13 und 15 Jahren aus 44 Ländern und Regionen, die an der HBSC-Studie 2021/2022 teilgenommen haben. Die Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit, die sozialen Determinanten von Gesundheit – die nicht-medizinischen Faktoren, die die Gesundheit beeinflussen – im Rahmen eines umfassenden Ansatzes zur Unterstützung junger Menschen ins Visier zu nehmen. Um diese Probleme wirksam anzugehen, fordert der Bericht koordinierte Maßnahmen auf allen Ebenen – national, regional und kommunal –, um ein stärker unterstützendes Umfeld zu schaffen, Ungleichheiten abzubauen und die verschiedenen Systeme zu stärken, auf die junge Menschen angewiesen sind.
Das Wichtigste im Überblick
- Abnehmende Unterstützung durch Familien und Gleichaltrige: Die für die psychische Gesundheit von Jugendlichen entscheidenden unterstützenden Systeme haben sich seit 2018 verschlechtert. So ist der Anteil der Jugendlichen, die von einem hohen Maß an Unterstützung durch die Familie berichten, von 73 % auf 67 % gesunken; für die Unterstützung durch Gleichaltrige sank der Anteil von 61 % auf 58 %. Der Rückgang war bei Mädchen besonders ausgeprägt (Unterstützung durch die Familie: von 72 % auf 64 %; Unterstützung durch Gleichaltrige: von 67 % auf 62 %).
- Steigender schulischer Druck: Gegenüber 2018 gaben mehr Schüler an, sich durch Schularbeiten unter Druck gesetzt zu fühlen, insbesondere ältere Jugendliche, allerdings mit deutlichen Unterschieden zwischen den Geschlechtern. So gaben unter den 15-Jährigen fast zwei Drittel der Mädchen (63 %) an, sich unter Druck zu fühlen – ein Anstieg gegenüber 54 % im Jahr 2018 –, bei Jungen betrug der Anteil 43 % (2018: 40 %).
- Soziale Ungleichheiten: Jugendliche aus weniger wohlhabenden Familien berichten im Vergleich zu ihren wohlhabenderen Altersgenossen durchweg von weniger Unterstützung. So berichten 62 % der Jugendlichen aus einkommensschwachen Familien von einem hohen Maß an familiärer Unterstützung, verglichen mit 71 % der Jugendlichen aus einkommensstarken Familien. Ähnliche Muster zeigen sich bei der Unterstützung durch Gleichaltrige (53 % bzw. 62 %) und durch Klassenkameraden (52 % bzw. 58 %).
- Unterschiede zwischen den Geschlechtern: Deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen sich in einer Vielzahl von Lebensbereichen junger Menschen. So fällt es Mädchen im Vergleich zu Jungen häufiger schwer, mit einem Elternteil über Dinge zu sprechen, die sie wirklich beschäftigen, wobei die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Kommunikation mit Vätern (62 % bzw. 78 %) eine größere Rolle spielen als mit Müttern (81 % bzw. 86 %). Mädchen berichten außerdem von geringerer familiärer Unterstützung (65 % gegenüber 71 %) und stehen unter wesentlich höherem schulischem Druck (62 % gegenüber 43 % bei den 15-Jährigen). Die einzige Ausnahme bilden die Beziehungen zu Gleichaltrigen, bei denen Mädchen mehr Unterstützung erhalten als Jungen (62 % bzw. 55 %).
1. Eine Krise schwindender Unterstützung
Als ein klares Muster zeichnet sich die abnehmende Unterstützung für Jugendliche durch Familie und Gleichaltrige ab. So sank zwischen 2018 und 2022 der Anteil junger Menschen, die von einem hohen Maß an familiärer Unterstützung berichteten (5,5 oder höher auf einer 7-Punkte-Skala, die familiäre Hilfe, emotionale Unterstützung und Kommunikation misst), von 73 % auf 67 %, wobei der Rückgang bei Mädchen besonders deutlich ausfiel (von 72 % auf 64 %). Ebenso ging in diesem Zeitraum die starke Unterstützung durch Gleichaltrige (gemessen anhand desselben Schwellenwerts für Fragen zur Hilfe und emotionalen Unterstützung durch Freunde) zurück (von 61 % auf 58 %), insbesondere bei Mädchen im Alter von 13 und 15 Jahren. Ein wesentlicher Befund war auch, dass Jugendliche, die sowohl von der Familie als auch von Gleichaltrigen starke Unterstützung erhalten, die eigene psychische Gesundheit positiver bewerteten als Jugendliche mit wenig oder ohne Unterstützung.
2. Steigender schulischer Druck
Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen den wachsenden schulischen Druck, dem sich insbesondere ältere Mädchen ausgesetzt fühlen. So ist unter den 15-Jährigen der Anteil der Mädchen, die sich unter Druck fühlen, seit 2018 von 54 % auf 63 % gestiegen, während bei den Jungen nur ein moderater Anstieg von 40 % auf 43 % zu verzeichnen ist. Diese wachsende Diskrepanz zwischen den Geschlechtern wird durch die abnehmende Unterstützung in der Schule noch verstärkt: Nur etwas mehr als ein Drittel der 15-jährigen Mädchen (36 %) gibt an, von den Lehrern wirksam unterstützt zu werden (d. h. starke Übereinstimmung mit der Aussage, dass die Lehrer sie akzeptieren, sich um sie kümmern und man ihnen vertrauen kann), verglichen mit fast der Hälfte der Jungen (47 %).
Dr. Irene García-Moya, eine der Autorinnen der Studie, kommentiert: „Der zunehmende Druck auf Jugendliche ist ein vielschichtiges Problem. Mädchen stehen oft zwischen konkurrierenden Erwartungen an hohe schulische Leistungen und traditionellen sozialen Rollen, während Jungen oftmals unter Druck stehen, stark und selbständig zu wirken, was sie davon abhält, die nötige Unterstützung zu suchen. Wir müssen in unseren Schulen Räume schaffen, in denen sich jede Schülerin und jeder Schüler wahrgenommen, gehört und unterstützt fühlt. Schulische Gesundheitsprogramme müssen auf die Förderung emotionalen Wohlbefindens abzielen, um zukünftige Generationen widerstandsfähig zu machen.“
3. Soziale Ungleichheiten bei der Unterstützung durch Familien und Gleichaltrige
Jugendliche aus einkommensschwächeren Familien erfahren eher weniger Unterstützung durch Familie und Gleichaltrige, haben weniger Möglichkeiten für tägliche gemeinsame Mahlzeiten und größere Schwierigkeiten, mit ihren Eltern zu kommunizieren. Diese sozioökonomischen Unterschiede beeinträchtigen den Zugang zu unterstützenden sozialen Umfeldern und wirken sich letztlich auf die Gesundheit von Jugendlichen aus. In dem Bericht werden politische Maßnahmen gefordert, um diese Ungleichheiten zu beseitigen und sicherzustellen, dass alle jungen Menschen unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status die Möglichkeit haben, sich zu entfalten.
4. Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Bezug auf soziale Unterstützung und Wohlbefinden
Unterschiede zwischen den Geschlechtern lassen sich an einer Vielzahl verschiedener Indikatoren festmachen. Auf die Frage, ob sie Hilfe und emotionale Unterstützung von Familienmitgliedern erhalten, berichteten Jungen generell im Vergleich zu Mädchen von mehr familiärer Unterstützung, einer einfacheren Kommunikation mit den Eltern und häufigeren Mahlzeiten mit der Familie. Umgekehrt berichteten Mädchen von mehr Unterstützung durch Gleichaltrige (gemessen an ihrer Fähigkeit, über Probleme zu sprechen und Hilfe von Freunden zu erhalten), aber auch von mehr Schulstress und weniger Unterstützung durch die Lehrer.
Die sich vergrößernde Kluft zwischen den Geschlechtern bei der Unterstützung durch die Familie deutet in Verbindung mit der wachsenden Kluft in Bezug auf schulischen Druck (wonach Mädchen sowohl weniger Unterstützung als auch mehr Druck erfahren als Jungen) auf einen besorgniserregenden Trend hin, der bei heranwachsenden Mädchen zu höheren Risiken für die psychische Gesundheit führt. Der Bericht fordert geschlechtersensible Maßnahmen, die an diesen besonderen Herausforderungen ansetzen und heranwachsenden Mädchen die notwendige Unterstützung bieten, insbesondere in kritischen Entwicklungsphasen.
„Diese Ergebnisse deuten auf eine kritische und sich vergrößernde Lücke in den unterstützenden Strukturen für heranwachsende Mädchen hin, die nicht nur einem größeren schulischen Druck ausgesetzt sind, sondern auch im Vergleich zu Jungen weniger Unterstützung von Familie und Lehrern erfahren“, warnt Dr. Natasha Azzopardi-Muscat, Direktorin der Abteilung Gesundheitspolitik und Gesundheitssysteme der Länder bei WHO/Europa. „Dies ist nicht das erste Mal, dass unsere HBSC-Studien auf unterschiedliche gesundheitliche Auswirkungen bei Jungen und Mädchen hinweisen. Das bedeutet, dass wir diese geschlechtsspezifische Dimension sorgfältig berücksichtigen müssen, wenn wir uns mit Maßnahmen von Schulen und Gesundheitsbehörden sowie in anderen sozialen Umfeldern befassen, damit wir Umfelder schaffen können, in denen Mädchen wie Jungen die gleichen Chancen auf ein emotionales und seelisches Wohlbefinden haben.“
Die Folgen der COVID-19-Pandemie
Die COVID-19-Pandemie hatte tiefgreifende Auswirkungen auf das soziale Umfeld von Jugendlichen – mit anhaltenden Folgen, die ihr Wohlbefinden weiterhin beeinflussen. Abstandsgebote, Schulschließungen und Unterbrechungen im normalen Alltagsleben fielen mit Veränderungen bei der wahrgenommenen Unterstützung durch Familie und Gleichaltrige und weniger positiven Erfahrungen in der Schule zusammen, was die Herausforderungen für junge Menschen in einer ohnehin schon schwierigen Lebensphase noch verschärfte. In dem Bericht wird die Notwendigkeit kontinuierlicher Bemühungen zur Unterstützung von Jugendlichen bei der Bewältigung der anhaltenden Auswirkungen der Pandemie auf ihr soziales und emotionales Wohlbefinden hervorgehoben.
Ein Fahrplan mit Maßnahmen
„Jugendliche stehen heute in ihrem sozialen Umfeld vor beispiellosen Herausforderungen, von nachlassender Unterstützung zu Hause bis hin zu zunehmendem Druck in der Schule, mit potenziell langfristigen Folgen für ihre Gesundheit und ihre Zukunftsaussichten. Diese Ergebnisse sollten für uns alle ein Weckruf sein, jetzt zu handeln, um die Bedingungen zu verbessern, unter denen unsere jungen Menschen aufwachsen“, erklärte Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa. „Unsere Ergebnisse zeigen deutlich, dass kein Bereich von Politik oder Wirtschaft diese Herausforderungen allein bewältigen kann. Die Schaffung eines sichereren und inklusiveren schulischen Umfelds, die Bereitstellung wirtschaftlicher Unterstützung, wo sie benötigt wird, und die Umsetzung geschlechtersensibler Maßnahmen erfordern allesamt die Einbeziehung verschiedener Bereiche, von Bildung über Gesundheit bis hin zur staatlichen Politik.“
WHO/Europa fordert dringend koordinierte Maßnahmen zur Lösung der in der HBSC-Studie aufgezeigten Probleme. Um das Wohlbefinden von Jugendlichen zu verbessern, werden folgende Maßnahmen empfohlen:
- Stärkung familienorientierter Konzepte und wirtschaftlicher Unterstützung: Regierungen sollten einkommensschwache Familien gezielt finanziell unterstützen und in evidenzbasierte Elternprogramme investieren. Zu den spezifischen Maßnahmen könnten Kindergeld, familienorientierte Subventionen und Programme gehören, die die Fähigkeiten der Eltern fördern, ihre Kinder – und insbesondere heranwachsende Mädchen – hinsichtlich ihrer Entwicklungsbedürfnisse zu unterstützen.
- Schaffung inklusiver schulischer Umfelder: Schulen müssen das Wohlergehen der Schüler durch konkrete Maßnahmen in den Vordergrund stellen: durch Verkleinerung von Klassen, Einführung von Betreuungsprogrammen und die Integration von sozial-emotionalem Lernen in den Lehrplan. Bei der Lehrerausbildung sollte Wert auf die Förderung der psychischen Gesundheit der Schüler gelegt werden, mit einem Schwerpunkt auf der Schaffung sicherer Räume, in denen sich die Schüler wahrgenommen und gehört fühlen.
- Maßnahmen gegen den schulischen Druck: Schulen müssen der steigenden Stressbelastung durch systematische Ansätze begegnen, indem sie ausgewogene Hausaufgabenregelungen einführen, Lernfähigkeiten fördern, regelmäßige Sprechstunden für Schüler bei Lehrern einplanen und außerdem sicherstellen, dass Lehrer darin geschult werden, Anzeichen von schulischem Stress zu erkennen, insbesondere bei Mädchen, und darauf zu reagieren.
- Abbau sozioökonomischer Ungleichheiten durch kommunale Maßnahmen: Die Politik sollte vor allem in unterversorgten Gebieten einen gleichberechtigten Zugang zu kommunalen Leistungen wie außerschulischen Aktivitäten und Angeboten der psychologischen und gesundheitlichen Versorgung fördern.
- Förderung von geschlechtersensiblen Maßnahmen und von Programmen zur Selbstbefähigung: Bei allen Maßnahmen muss speziell auf die besonderen Bedürfnisse heranwachsender Mädchen eingegangen werden, namentlich auf den Druck, dem sie in der Schule und in ihrem sozialen Umfeld ausgesetzt sind. Es kommt entscheidend darauf an, sichere Räume zu schaffen, in denen Mädchen offen über ihre Probleme sprechen können und Zugang zu psychosozialen Angeboten erhalten.
- Einführung von Genesungsprogrammen für Jugendliche nach der Pandemie: Um die sozialen und emotionalen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie anzugehen, sollten Staat und Schulwesen gezielte Genesungsprogramme entwickeln. Dies kann die Bereitstellung von psychologischer Beratung in Schulen und die Einrichtung von Selbsthilfegruppen umfassen.
Eine bessere Zukunft für unsere Jugendlichen
„Die Ergebnisse sind eine ernüchternde Erinnerung daran, wie wichtig das soziale Umfeld für die Gesundheit und das Wohlbefinden von Jugendlichen ist“, sagte Dr. Kluge abschließend. „Junge Menschen sind zu Hause, in der Schule und in ihrem weiteren sozialen Umfeld mit immer größeren Herausforderungen konfrontiert; deshalb kommt es entscheidend darauf an, dass sie bei der Gestaltung von Investitionen oder Konzepten zur Bewältigung dieser Herausforderungen in jeder Phase des Prozesses als Mitgestalter einbezogen werden. Dies ist eine Schlüsselfunktion der Flaggschiff-Initiative Youth4Health von WHO/Europa, die dafür sorgen soll, dass junge Menschen ein weitaus größeres Mitspracherecht bei Entscheidungen erhalten, die ihr Leben beeinflussen.“
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Die HBSC-Studie
Die HBSC-Studie ist ein länderübergreifendes Forschungsprojekt, das in Zusammenarbeit mit WHO/Europa durchgeführt wird. Sie erfasst Eigenangaben von Jugendlichen im Alter von 11, 13 und 15 Jahren über ihr Gesundheitsverhalten, ihr Wohlbefinden und ihr soziales Umfeld.