Erklärung zu den Erdbeben in Türkei/Syrien

Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

14 February 2023
Aussage
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Guten Morgen. 

Zunächst einmal möchte ich im Namen von uns allen hier beim WHO-Regionalbüro für Europa und unserem WHO-Länderbüro in der Türkei den Menschen in der Türkei und in Syrien unser tief empfundenes Mitgefühl aussprechen. 

Ihr Leid ist immens. Ihre Trauer ist unermesslich. Die WHO steht Ihnen in der Stunde Ihrer Not – und allezeit – zur Seite. 

Nach jetzigem Stand haben bereits über 31 000 Menschen infolge der Erdbeben in der Türkei ihr Leben verloren. Die Zahl der Verletzten liegt bei fast 100 000 Menschen. 

Über die Grenze im Nordwesten Syriens liegt die Zahl der Toten bei fast 5000. 

All diese Zahlen werden wahrscheinlich noch weiter steigen. 

Gleichzeitig sind wir Zeugen wundersamer Rettungseinsätze von heldenhaften türkischen Notfallhelfern geworden, die rund um die Uhr in einem verzweifelten Rennen gegen die Zeit arbeiten. Sie sollten uns als Inspiration dienen, und aus ihren Bemühungen sollten wir Kraft schöpfen. Gestern retteten sie Miray, ein junges Mädchen aus Adıyaman, aus den Trümmern eines Wohnblocks. Sie war 178 Stunden lang eingeschlossen.

Bei der WHO haben wir alle Parteien – Regierung und Zivilgesellschaft gleichermaßen – eindringlich dazu aufgefordert, eng zusammenzuarbeiten, um grenzübergreifend zwischen der Türkei und Syrien und innerhalb Syriens humanitäre Hilfe zu leisten. 

Der Bedarf ist immens und steigt mit jeder Stunde. Rund 26 Mio. Menschen in beiden Ländern sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. 

Wir unterstützen – gemeinsam mit zahlreichen Partnern – die enormen humanitären Maßnahmen, um Menschenleben zu retten, Verletzte zu behandeln und – was entscheidend ist – dabei zu helfen, das Gesundheitssystem – insbesondere die primäre Gesundheitsversorgung – schnellstmöglich wieder in Gang zu bringen, wie einschüchternd das derzeit auch erscheinen mag. 

Im Laufe der vergangenen Woche haben wir: 

  1. drei Charterflüge abgefertigt, ausgestattet mit Notfall-Kits und medizinischen Hilfsgütern sowohl für die Türkei als auch für Syrien – genug, um 400 000 Menschen zu behandeln und 120 000 dringende Operationen durchzuführen –, und weitere Hilfsgüter sind auf dem Weg; 
  2. fachliche Entlastungsteams in das Katastrophengebiet entsandt, um dringende Bewertungen der Bedürfnisse im Bereich der öffentlichen Gesundheit durchzuführen und unsere Außenstellen in dem Gebiet zu unterstützen; 
  3. die Entsendung medizinischer Notfallteams eingeleitet;
  4. 16 Mio. Dollar aus dem Notfallfonds für gesundheitliche Notlagen freigegeben, um Menschen in Not zu helfen. 

Gerade eine gute Woche ist seit dieser schrecklichen Tragödie vergangen und es gibt nun zunehmende Besorgnis bezüglich sich abzeichnender Gesundheitsprobleme in Verbindung mit dem kalten Wetter, Hygiene und der Sanitärversorgung sowie bezüglich der Ausbreitung von Infektionskrankheiten – wobei hilfsbedürftige Menschen besonders gefährdet sind. 

Wir stehen dem Gesundheitsminister Dr. Fahrettin Koca und dem türkischen Gesundheitsministerium zur Seite, die berichten, dass wichtige Impfstoffvorräte – u. a. gegen Tetanus und Tollwut – in das Erdbebengebiet geschickt und mobile Apotheken eingerichtet wurden. 

In der Türkei haben schätzungsweise 1 Mio. Menschen ihr Zuhause verloren und leben in Notunterkünften. Den türkischen Behörden zufolge wurden schätzungsweise 80 000 Menschen in Krankenhäuser eingeliefert, was für das Gesundheitssystem, das durch die Katastrophe selbst erheblich geschädigt wurde, eine starke Belastung darstellt. 

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat um 43 Mio. US-$ gebeten, um die Reaktion auf die Erdbeben in Syrien und in der Türkei zu unterstützen, doch ich gehe davon aus, dass sich diese Summe in den kommenden Tagen mindestens verdoppeln wird, wenn wir das massive Ausmaß dieser Krise und die sich daraus ergebenden Bedürfnisse besser einschätzen können. 

Dieses Geld soll dafür genutzt werden: 

  1. den Zugang zu den am stärksten hilfsbedürftigen und schwer zu erreichenden Menschen sicherzustellen; 
  2. Traumaversorgung und Traumarehabilitation bereitzustellen; 
  3. unentbehrliche Arzneimittel und Notfall-Kits bereitzustellen, um dringende Lücken in der Gesundheitsversorgung zu schließen; 
  4. entscheidende mentale und psychosoziale Unterstützung für die betroffene Bevölkerung zu leisten; und 
  5. die Kontinuität der Routineversorgung, insbesondere für Frauen, Kinder, ältere Menschen und Menschen mit nichtübertragbaren Krankheiten, zu gewährleisten. 

Wir haben den größten Einsatz medizinischer Notfallteams in der Europäischen Region der WHO in unserer 75-jährigen Geschichte eingeleitet. 

22 medizinische Notfallteams sind in der Türkei eingetroffen. Diese Spezialteams aus 19 Ländern werden sich in die anhaltenden Gesundheitsschutzmaßnahmen in der Türkei eingliedern und eine wichtige Notfallversorgung bereitstellen.

Ihre unmittelbare Priorität wird die Unterstützung der zahlreichen Krankenhäuser und medizinischen Einrichtungen sein, die beschädigt wurden, und sie werden sich insbesondere um die hohe Anzahl an Traumapatienten und katastrophalen Verletzungen kümmern. 

Es ist an der Zeit, dass die internationale Gemeinschaft die gleiche Großzügigkeit an den Tag legt, wie sie die Türkei im Laufe der Jahre anderen Nationen weltweit gegenüber gezeigt hat. Das Land hat weltweit die größte Anzahl an Flüchtlingen aufgenommen: im Land leben 4,2 Mio. Menschen aus dem benachbarten Syrien, von denen viele erneut alles verloren haben. 

Wir sind Zeugen der schlimmsten Naturkatastrophe in der Europäischen Region der WHO seit einem Jahrhundert geworden. Wir sind noch dabei, ihr ganzes Ausmaß zu begreifen. Die wahren Kosten sind uns derzeit noch nicht bekannt. Der Wiederaufbau und der Heilungsprozess werden Zeit in Anspruch nehmen und unglaubliche Anstrengungen erfordern. Doch ich kann Ihnen versichern, dass die WHO standhaft bleiben und den Menschen in der Türkei und in Syrien so lange wie nötig zur Seite stehen wird. 

Ich danke Ihnen.