WHO / Khaled Mostafa
Jan Verbakel und Hannelore Dillen von der KU Leuven waren an der Entwicklung der nationalen Leitlinien und des Versorgungspfades für Long COVID-Patienten beteiligt.
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Was ist der beste Ansatz, um das Post-COVID-Syndrom (Long COVID) zu behandeln? Forscher in Belgien sind darum bemüht, eine Antwort auf diese Frage zu finden

14 March 2023
Pressemitteilung
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In der gesamten Europäischen Region der WHO litten in den Jahren 2020/2021 schätzungsweise 17 Mio. Menschen unter Langzeitfolgen von COVID-19. Selbst jetzt, wo die schlimmste Zeit der Pandemie überwunden zu sein scheint, ist das Risiko, nach einer COVID-19-Infektion Long COVID-Symptome zu entwickeln, mit einem Anteil von 10 %–20 % der Infizierten nach wie vor hoch. 

Da Long COVID eine neue Erkrankung ist, bestand unter Ärzten leider oft Unsicherheit darüber, welches der wirkungsvollste Ansatz ist, um diese Patienten zu behandeln. Mit über 200 gemeldeten Symptomen gibt es kein Patentrezept, das für alle Betroffenen gleichermaßen funktioniert.

Auf der Suche nach einer Lösung für dieses Problem haben Forscher der KU Leuven, einer Forschungsuniversität in Belgien, an der Entwicklung evidenzbasierter Leitlinien gearbeitet, um Gesundheitsfachkräften bei der Behandlung von Patienten zu helfen. Darüber hinaus haben sie einen Versorgungspfad erprobt, der für den individuellen Patienten und die individuellen Symptome entworfen wird. 

Die KU Leuven ist nur eine von zahlreichen Forschungszentren weltweit, die darum bemüht sind, die besten Ansätze für die Rehabilitation von Patienten mit Long COVID zu identifizieren.

Entwicklung von Versorgungsleitlinien für Long COVID 

Die im November 2022 veröffentlichten neuen nationalen Leitlinien sollen Allgemeinärzten, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Psychologen und Ernährungsberatern in Belgien als Orientierungshilfe dienen, wie man Patienten, die auch vier Wochen nach ihrer COVID-19-Diagnose noch unter Symptomen leiden, am besten versorgt.  

Die Leitlinien wurden im Dialog mit Experten für Gesundheitsversorgung, Patientenvertretern und Patienten und durch Prüfung veröffentlichter Studien unter Beachtung von Empfehlungen der WHO ausgearbeitet. Sie enthalten Tipps für eine eingehende Diagnose sowie praktische Schritte für die Behandlung sowohl physischer Symptome als auch der psychischen Folgen der Erkrankung. 

Wir sprachen mit Prof. Jan Verbakel und Hannelore Dillen vom Akademischen Zentrum für Allgemeinmedizin des Fachbereichs für öffentliche Gesundheit und primäre Gesundheitsversorgung der KU Leuven, die die Entwicklung der Versorgungsleitlinien leiteten. Prof. Verbakel gab uns ein Beispiel aus der Praxis, inwiefern die Leitlinien behilflich sein können.

Dr. Jan Verbakel vom Akademischen Zentrum für Allgemeinmedizin des Fachbereichs für öffentliche Gesundheit und primäre Gesundheitsversorgung der KU Leuven leitete die Entwicklung der Versorgungsleitlinien. Er gab uns ein Beispiel aus der Praxis, inwiefern die Leitlinien behilflich sein können.

„Unsere Forschungsergebnisse zeigten, dass körperliche Betätigung als frühzeitiges Element der Behandlung ein entscheidender Aspekt des Rehabilitationsprozesses ist, sowohl um die Ausdauer wieder aufzubauen als auch als ein Mittel gegen Depressionen. Hier das richtige Gleichgewicht zu finden, also ein nutzbringendes Maß an körperlicher Betätigung zu verschreiben, ohne einen Rückfall befürchten zu müssen, ist nur eines der nützlichen Dinge, bei denen die Leitlinien Gesundheitsfachkräften behilflich sein können.“ 

Weitere erprobte Empfehlungen aus den Leitlinien helfen Patienten, ihre eigene Genesung selbst zu unterstützen, etwa durch eine eigenständige Linderung der Symptome mithilfe von Atemtechniken und einer effizienten Nutzung der eigenen Energie. 

Beabsichtigt wird, die Leitlinien laufend zu aktualisieren und an den neuesten Stand der Forschung zum Post-COVID-Syndrom und zu dessen Behandlung anzupassen. 

Entwicklung eines Pilotpfades für die Versorgung 

Im Juli 2022 wurde in Belgien ein zweigleisiger Pilotpfad für die Versorgung von Patienten eingeführt, die auch zwölf oder mehr Wochen nach ihrer COVID-19-Diagnose bzw. nach dem Einsetzen der ersten COVID-19-Symptome noch unter Symptomen leiden. Patienten können unmittelbar über ihre Hausärzte oder im Fall von Krankenhauspatienten über Fachärzte an den Versorgungspfad überwiesen werden. Die Behandlungskosten werden von der gesetzlichen Krankenkasse Belgiens erstattet.   

Nach der Überweisung werden die Patienten entweder einem monodisziplinären Pfad (bei dem sie nur von einem einzigen Spezialisten betreut werden) oder einem multidisziplinären Pfad (bei dem sie von einer Reihe von Spezialisten betreut werden) zugewiesen, je nach Komplexität und Schwere ihrer Symptome. 

Die am Versorgungspfad teilnehmenden Spezialisten umfassen Physiotherapeuten, Sprachtherapeuten, Ernährungsberater, Ergotherapeuten, Psychologen und Neuropsychologen. Das Erstattungssystem über die nationale Krankenversicherung ermöglicht es ihnen, pro Jahr eine vorgeschriebene Anzahl an Behandlungssitzungen anzubieten. 

Über den multidisziplinären Ansatz wird dem Patienten ein Versorgungskoordinator zugewiesen (üblicherweise der Hausarzt oder eine hiermit beauftragte Pflegekraft im Gesundheitszentrum des Patienten), der ein Teammeeting mit allen erforderlichen Spezialisten und dem Patienten organisiert. Gemeinsam einigen sie sich auf eine Reihe von Gesundheitszielen, anhand derer der Versorgungskoordinator einen maßgeschneiderten Behandlungsplan ausarbeitet, in dem die Reihenfolge und Anzahl der notwendigen Behandlungssitzungen bei jedem einzelnen Gesundheitsspezialisten dargelegt wird. Diese gemeinsamen Besprechungen werden zwei- bis dreimal alle sechs Monate abgehalten, um die Fortschritte des Patienten zu besprechen und möglicherweise Veränderungen am Behandlungsplan vorzunehmen. 

Dr. Stefan Teughels ist ein Allgemeinarzt und Medizinischer Direktor bei Domus Medica, dem Verband der flämischen Hausärzte in Belgien. Er war an der Ausgestaltung und Einführung des multidisziplinären Versorgungspfades beteiligt und legt die Vorteile dieses Pfadansatzes dar:

„Vor der Einführung des Versorgungspfades wurden die Behandlungskosten nicht erstattet, sodass die Patienten selbst für alles aufkommen mussten. Die Einbeziehung von Fachkräften aus der primären Gesundheitsversorgung in die Behandlungspläne im direkten Gespräch mit dem betreffenden Patienten bedeutet, dass der Patient besser informiert ist und die Behandlungen auf die konkreten Bedürfnisse des Patienten zugeschnitten und bei Bedarf angepasst werden können.“ 

Tinneke Claes ist Ergotherapeutin und arbeitet in der Region Antwerpen. Sie infizierte sich im März 2020 mit COVID-19 und entwickelte selbst Long COVID-Symptome. Sie begann im September 2022, die ersten über den Versorgungspfad überwiesenen Patienten zu behandeln, und beschreibt einige der praktischen Strategien, die sie vermittelt, um den Patienten zu helfen, einige ihrer Gesundheitsziele zu erreichen: 

„Ein Verlust des Kurzzeitgedächtnisses, Brain Fog und Müdigkeit sind bei den von mir betreuten Patienten gängige Symptome. Ich spreche mit ihnen über Techniken, die sie anwenden können, um die Folgen der Symptome zu lindern und um Stress und Frustration aufgrund der Erkrankung zu verhindern. Einfache Dinge, wie etwa einen festen Platz für den Schlüssel zu haben, mehrmals die nächste anstehende Aufgabe laut vor sich hin zu sagen, die Einrichtung von Erinnerungen im Mobiltelefon, das Anlegen eines Terminplans für den Tag sowie die Beibehaltung einer überschaubaren Routine, sind alles Strategien, die wirklich einen Unterschied machen können.“ 

Die Erprobung des belgischen Versorgungspfades läuft noch bis Juli 2023. Im Anschluss daran werden der Ansatz und seine Wirkung vollumfassend evaluiert. Auch wenn es noch zu früh ist, um fundierte Schlussfolgerungen zu ziehen, ist die Wirkung für einige Patienten sehr ermutigend. 

Hilde (47) infizierte sich im März 2022 mit COVID-19 und litt noch immer an Symptomen, als sie im Juni im Krankenhaus die Diagnose Post-COVID-Syndrom erhielt. „Bei der geringsten Anstrengung litt ich unter Atemnot und Schmerzen in der Brust“, erzählt uns Hilde. „Nur der Versuch, mich körperlich zu betätigen, führte zu Schwindelgefühlen. Alle meine Muskeln schmerzten und ich hatte Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren und mich an Dinge zu erinnern.“ 

Die Kombination dieser Symptome machte es für Hilde unmöglich zu arbeiten, die Hausarbeit zu machen oder sogar mehr als 20 Minuten in Gesellschaft von anderen zu verbringen, da ihre kognitiven Schwierigkeiten sie so sehr ermüdeten. Sie wurde an den multidisziplinären Versorgungspfad überwiesen, über den sie im August zunächst an einen Ergotherapeuten verwiesen wurde, später dann an einen Physiotherapeuten. 

Fast sechs Monate später kann Hilde deutliche Verbesserungen bei sich feststellen. „Ich kann wieder den Haushalt machen, wenn auch in kleinen „Dosen“, mit anderen Worten in langsamerem Tempo, zeitlich begrenzt und abwechselnd mit Ruhe und mentalen Aktivitäten. Meine Aufmerksamkeit und Konzentration sind noch immer nicht wie sie mal waren, aber ich kann mich zumindest wieder länger als eine Stunde in der Gesellschaft von anderen aufhalten, da ich gelernt habe, erste Anzeichen von Müdigkeit zu erkennen und Grenzen zu ziehen. Und ich habe Strategien, um mit großen Menschenmengen umzugehen.“ 

Hilde fügt hinzu: „Meine Rehabilitation ist noch im Gange und wird sich darauf konzentrieren, langsam weitere Aktivitäten im Haushalt und in meinem Sozialleben aufzubauen sowie in naher Zukunft zur Arbeit zurückzukehren.“ 

Hilde ist dankbar für die Behandlungen, die sie erhalten hat, und glaubt, dass der Ansatz des Versorgungspfades für andere Patienten wie sie der Beste ist. „Man fühlt sich gut unterstützt und versorgt und erhält Input aus so vielen unterschiedlichen Disziplinen. Mein Hausarzt hat mich sehr schnell an geeignete Angebote überwiesen und überwacht meine Behandlungen und meine Rehabilitation genau. Ich würde diesen Versorgungspfad auf jeden Fall auch anderen Patienten mit Long COVID empfehlen.“ 

Titel und Text dieses Artikels wurden am 17. März geändert, um den weltweit von Wissenschaftlern unternommenen Anstrengungen zur Verbesserung der Rehabilitation von Patienten mit Post-COVID-Syndrom (Long COVID) besser Rechnung zu tragen und den beiden an der Entwicklung der belgischen Versorgungsleitlinien und des Versorgungspfads beteiligten Wissenschaftlern Anerkennung zu zollen.