Annika Schroder
Annika wears a placard which reads: 'one midwife for one birth'
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Eine tickende Zeitbombe: ohne sofortige Maßnahmen könnten die Engpässe beim Gesundheits- und Pflegepersonal in der Europäischen Region zu einer Katastrophe führen

Neuer Bericht von WHO/Europa stellt fest: 40% der Ärzte in einem Drittel der europäischen und zentralasiatischen Länder nähern sich dem Rentenalter

14 September 2022
Medienmitteilung
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Tel Aviv, 14. September 2022

Einem neuen heute von WHO/Europa veröffentlichten Bericht zufolge stehen alle Länder der Europäischen Region der WHO – die 53 Mitgliedstaaten in allen Teilen Europas und Zentralasiens umfasst – gegenwärtig vor gewaltigen Herausforderungen in Bezug auf ihr Gesundheits- und Pflegepersonal. Hervorzuheben ist hierbei insbesondere die Überalterung des Personals. Die Analyse kommt zu dem Ergebnis, dass in 13 der 44 Länder, die zu diesem Thema Data vorgelegt haben, 40% der Ärzte bereits 55 Jahre oder älter sind.

Die Überalterung des Gesundheits- und Pflegepersonals war auch vor der COVID-19-Pandemie bereits ein ernsthaftes Problem, ist aber nun noch besorgniserregender angesichts von schwerem Burnout und demografischen Faktoren, die zum stetig schrumpfenden Arbeitskräfteangebot beitragen. Die angemessene Ersetzung von in Ruhestand gehenden Ärzten und anderen Gesundheits- und Pflegefachkräften wird in den kommenden Jahren für Regierungen und Gesundheitsbehörden zu einem wichtigen politischen Anliegen werden. WHO/Europa fordert die Länder nachdrücklich dazu auf, jetzt zu handeln, um die nächste Generation von Gesundheits- und Pflegefachkräften auszubilden, anzuwerben und zu binden.

Ein weiteres zentrales Ergebnis des Berichts ist die schlechte psychische Gesundheit der Fachkräfte in der Region. Lange Arbeitszeiten, unzureichende professionelle Unterstützung, ernsthafter Personalmangel und hohe Infektions- und Sterberaten infolge von COVID-19 unter den während der Pandemie an vorderster Front tätigen Fachkräften – insbesondere in der Frühphase der Pandemie – haben Spuren hinterlassen.

Personalausfälle im Gesundheitswesen stiegen in der Region in der ersten Phase der Pandemie im März 2020 um 62%, und psychische Probleme wurden in fast allen Ländern der Region gemeldet. In einigen Ländern gaben über 80% der Pflegekräfte an, aufgrund der Pandemie unter einer Form von psychologischer Belastung zu leiden. WHO/Europa erhielt Meldungen, dass nicht weniger als 9 von 10 Pflegekräften die Absicht geäußert hätten, ihren Job zu kündigen.

„Mein eigener persönlicher Weg durch diese Pandemie war eine reine Achterbahnfahrt“, erzählt die britische Pflegekraft Sarah Gazzard. „Ich hielt ein Telefon ans Ohr einer sterbenden Frau, während ihre Tochter Abschied von ihr nahm. Das war für mich unglaublich schwer, deshalb habe ich mir Hilfe gesucht, um besser damit umgehen zu können.“

Ein uneinheitliches Bild in der Europäischen Region

Auch wenn die 53 Länder in der Region im Vergleich zu anderen Regionen der WHO im Durchschnitt die höchste Verfügbarkeit von Ärzten, Pflegekräften und Hebammen aufweisen, haben europäische und zentralasiatische Länder dennoch mit beträchtlichen Engpässen und Lücken zu kämpfen, die innerhalb der Region erheblich variieren.

Die Abweichungen bei der Verfügbarkeit des Gesundheitspersonals variieren zwischen den Ländern um den Faktor fünf. Die Gesamtdichte von Ärzten, Pflegekräften und Hebammen variiert zwischen 54,3 je 10 000 Einwohner (EW) in der Türkei und über 200 je 10 000 EW in Island, Monaco, Norwegen und der Schweiz. Auf der subregionalen Ebene verzeichnen die zentral- und westasiatischen Länder die niedrigste Dichte, die nord- und westeuropäischen Länder die höchste.

„Personalmangel, unzureichende Anwerbung und Bindung, die Abwanderung qualifizierter Fachkräfte, unattraktive Arbeitsbedingungen und ein fehlender Zugang zu kontinuierlichen Fortbildungsmöglichkeiten beeinträchtigen die Gesundheitssysteme“, erklärte Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa.

„Verschärft wird dies durch unzulängliche Daten und begrenzte analytische Kapazitäten, Misswirtschaft und schlechtes Management, einen Mangel an strategischer Planung sowie unzureichende Investitionen in die Personalentwicklung. Darüber hinaus gehen Schätzungen der WHO davon aus, dass allein in Europa rund 50 000 Gesundheits- und Pflegefachkräfte aufgrund von COVID-19 ihr Leben verloren haben.“

Dr. Kluge warnte: „Alle diese Bedrohungen stellen eine tickende Zeitbombe dar, die, wenn nicht gehandelt wird, höchstwahrscheinlich in allen Bereichen zu schlechten gesundheitlichen Resultaten, langen Wartezeiten für Behandlungen, unzähligen vermeidbaren Todesfällen und möglicherweise sogar zum Kollaps des Gesundheitssystems führen werden. Jetzt ist die Zeit zu handeln, um den Personalmangel bei Gesundheits- und Pflegefachkräften zu bewältigen. Zudem reagieren die Länder auf die Herausforderungen in einer Zeit der akuten Wirtschaftskrise, die wirksame, innovative und intelligente Ansätze erfordert.“ 

Annika Schröder, eine Hebamme aus Deutschland, arbeitet in einem Krankenhaus, in dem jedes Jahr rund 950 Geburten stattfinden. Hier bestehen ähnliche Herausforderungen wie in vielen anderen Teilen der Europäischen Region. „Ich arbeite oft im Schichtdienst, ohne auch nur die Möglichkeit zu haben, zur Toilette zu gehen, ohne Pausen oder Zeit zum Essen“, erzählte sie WHO/Europa.

„Die Türklingel geht und die Telefone klingeln, während wir von einem Zimmer ins nächste eilen. Im Durchschnitt versorge ich zwei Gebärende gleichzeitig. So hatte ich mir meinen Beruf oder meinen Berufsalltag nicht vorgestellt. Ich bin oft erschöpft und müde. Der Mangel an Hebammen beeinträchtigt die Sicherheit von Geburten. Und seit der Pandemie hat sich die Situation noch verschlechtert. Das wirkt sich auch auf die körperliche und psychische Gesundheit von uns Hebammen, von Müttern, Gebärenden und Säuglingen aus“, erläuterte Frau Schröder.

Neuesten Daten aus 2022 zufolge verfügt die Europäische Region im Durchschnitt über:

  • 80 Pflegekräfte je 10 000 EW 
  • 37 Ärzte je 10 000 EW
  • 8 Physiotherapeuten je 10 000 EW 
  • 6,9 Apotheker je 10 000 EW
  • 6,7 Zahnärzte je 10 000 EW 
  • 4,1 Hebammen je 10 000 EW. 

In der Globalen Strategie der WHO für die Ausbildung von Gesundheitspersonal aus dem Jahr 2016 wurde der Schwellenwert für die Gesamtdichte des Gesundheitspersonals auf 44,5 Ärzte, Pflegekräfte und Hebammen je 10 000 EW festgesetzt. Alle Länder in der Europäischen Region liegen damit aktuell über diesem Schwellenwert. Doch das bedeutet nicht, dass sie es sich leisten können, selbstgefällig zu sein. Beim Gesundheits- und Pflegepersonal gibt es beträchtliche Lücken und Engpässe, die mit der Zeit nur schlimmer werden, wenn keine Konzepte und Praktiken zu ihrer Bewältigung eingeführt werden.

Sich der Herausforderung stellen: Beispiele aus den Ländern 

„Die Länder werden neu überdenken müssen, wie sie die Beschäftigten im Gesundheitswesen besser unterstützen und führen. Sie werden Strategien entwickeln müssen, die ihre eigenen Rahmenbedingungen und Bedürfnisse widerspiegeln, denn ein allgemeingültiges Patentrezept gibt es nicht“, erklärte Dr. Natasha Azzopardi-Muscat, Direktorin der Abteilung Gesundheitspolitik und Gesundheitssysteme der Länder bei WHO/Europa.

„Die Region befindet sich an einem kritischen Punkt: strategische Planung und intelligente Investitionen sind die entscheidenden nächsten Schritte, um zu gewährleisten, dass unser Gesundheitspersonal über die notwendigen Instrumente und die notwendige Unterstützung verfügt, um für sich selbst und ihre Patienten zu sorgen. Die Gesellschaft wird einen hohen Preis zahlen, falls wir uns dieser Herausforderung nicht gewachsen zeigen. Dieser neue Bericht und die darin enthaltenen Daten über jeden unserer Mitgliedstaaten bieten Lösungen und Chancen, die wir nicht ungenutzt lassen dürfen.

Viele Länder in allen Teilen der Region haben bereits damit begonnen, mutige und innovative Maßnahmen zu ergreifen. In Irland, wo bis 2028 mehr Menschen über 65 Jahre alt sein werden als unter 14 Jahre, hat die Regierung ein Programm für die verstärkte wohnortnahe Versorgung und Pflege eingeführt, um der alternden Bevölkerung dabei zu helfen, ihre Unabhängigkeit zu wahren. Das Programm entlastet das Krankenhaussystem, indem es verstärkt wohnortnahe Versorgungsleistungen für ältere Menschen in Kleinstädten und Dörfern im ganzen Land anbietet.

In Kirgisistan hat die Regierung ein auf leistungsbezogener Entlohnung basierendes System in der primären Gesundheitsversorgung eingeführt. Ziel ist es, mehr Ärzte anzuziehen, indem die Gehälter für jene erhöht werden, die bei ihrer Tätigkeit gute Leistung erbringen. Ferner umfasst das System ein Angebot für Fachärzte, sich zu Familienärzten umschulen zu lassen, da im Jahr 2020 30% der Familienärzte das Rentenalter erreicht hatten.

Im Vereinigten Königreich hat die Regierung kontinuierlich im Ausland ausgebildete Pflegekräfte und Hebammen angeworben, um die in Ruhestand gehenden oder aus dem Beruf ausscheidenden Fachkräfte zu ersetzen. Derzeit sind fast 114 000 im Ausland ausgebildete Pflegekräfte dort gemeldet – das ist ein Anstieg um 66% seit 2017/18. Im Gegenzug fiel die Anzahl der in der Europäischen Union (EU)/im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ausgebildeten Pflegekräfte im gleichen Zeitraum um fast 18%. Der Grund dafür liegt vermutlich in der Entscheidung des Vereinigten Königreichs, die EU zu verlassen, und ist Ausdruck einer deutlichen Verschiebung von der Anwerbung von Pflegekräften aus der EU/dem EWR hin zur Anwerbung aus anderen Regionen und Ländern, insbesondere Indien, Nigeria und den Philippinen.

Trotz vielerorts ergriffener progressiver Schritte bedarf es wesentlich größerer Investitionen, deutlich mehr Innovation und erheblich mehr Partnerschaften, um weitere Engpässe beim Gesundheits- und Pflegepersonal in der Zukunft zu verhindern. WHO/Europa fordert alle Mitgliedstaaten – selbst jene, die gegenwärtig eine überdurchschnittliche Personaldichte verzeichnen – eindringlich dazu auf, keine Zeit zu verlieren und folgende zehn Maßnahmen zu ergreifen, um das Gesundheits- und Pflegepersonal zu stärken:

  1. Anpassung der Ausbildung an die Bedürfnisse der Bevölkerung und die Anforderungen an die Gesundheitsversorgung
  2. Stärkung der beruflichen Fortbildung, um das Personal mit neuem Wissen und neuen Kompetenzen auszustatten
  3. Ausweitung der Anwendung digitaler Instrumente zur Unterstützung des Personals
  4. Entwicklung von Strategien für die Anwerbung und Bindung von Gesundheitsfachkräften in ländlichen und abgelegenen Gebieten
  5. Schaffung von Arbeitsbedingungen, die eine gesunde Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben fördern
  6. Schutz von Gesundheit und Wohlbefinden des Personals 
  7. Stärkung der Führungskompetenz zur Verbesserung der Personalplanung und -steuerung
  8. Verbesserung der Gesundheitsinformationssysteme für eine bessere Datenerhebung und -analyse
  9. Erhöhung der öffentlichen Investitionen in die Aus- und Fortbildung und den Schutz des Personals
  10. Optimierung der Mittelverwendung für innovative Personalkonzepte. 

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