Die Mobilität steht an einem Scheideweg.
Eine Welt, die gerade die COVID-19-Pandemie hinter sich lässt, hat keine bessere Zeit für Regierungen und ihre Partner zu bieten, um Straßenverkehr und Mobilität neu zu denken.
Ein „Weiter wie bisher“ würde zwangsläufig bedeuten, dass weiterhin Infrastrukturen und Straßenverkehrssysteme gebaut werden, die in erster Linie auf private Kraftfahrzeuge ausgerichtet sind und nicht auf die tatsächlichen Mobilitäts- und Zugangsbedürfnisse der Menschen.
Es gibt hinreichend Belege dafür, dass mehr Straßen mit mehr Fahrspuren auch zu mehr Autos führen. Doch die Erfahrungen von Städten in aller Welt zeigen, dass eine solche Expansion nicht nachhaltig ist. Sie führt zu Todesfällen, Verletzungen und Behinderungen und trägt zu Verkehrsstaus, langen Arbeitswegen und damit verbundenen Belastungen, aber auch zu nichtübertragbaren Krankheiten infolge von Luft- und Lärmbelastung und eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten, sowie zu klimaschädlichen Treibhausgasemissionen, Bodenversiegelung und Flächenverbrauch und -zerschneidung bei.
Eine neue Vision von Mobilität würde den Bau oder die Neugestaltung von Straßen und öffentlichen Räumen für alle erfordern, wobei die Zugänglichkeit und die Mobilitätsbedürfnisse derjenigen Vorrang haben sollten, die am stärksten von den Auswirkungen des motorisierten Verkehrs betroffen sind: Kinder, Frauen, Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen.
Die Regierungen könnten dies erreichen, indem sie mehr in aktive Fortbewegungsarten wie Zufußgehen, Radfahren und öffentliche Verkehrsmittel investieren und eine Städteplanung betreiben, die den Zugang zu Dienstleistungen und Annehmlichkeiten in Entfernungen ermöglicht, die leicht zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt werden können.
Doch dies ist nur dann realistisch, wenn die von uns zu bauenden und auch die bereits vorhandenen Straßen sicher gemacht werden.
Auch heute noch zahlen wir einen tragischen Preis für unsere Mobilität: 70 000 Tote und Hunderttausende von nichttödlichen Verletzungen infolge von Straßenverkehrsunfällen in der Europäischen Region der WHO pro Jahr.
In unserer Region sterben mehr Kinder und junge Menschen im Alter von 5 bis 29 Jahren durch Straßenverkehrsunfälle als durch jede andere Einzelursache. Schwere vermeidbare Traumata stellen eine große Belastung für bereits überlastete Gesundheitssysteme dar, während langfristige Behinderungen, von denen vor allem junge Menschen betroffen sind, eine hohe Belastung für schon heute überforderte Rehabilitationseinrichtungen und Sozialsysteme darstellen.
Eine Voraussetzung für die Neugestaltung der Art und Weise, wie wir uns auf den Straßen der Welt bewegen, besteht darin, die Sicherheit in den Mittelpunkt der Mobilitäts- und Städteplanung zu stellen. Ironischerweise ist diese Philosophie in der Luftfahrt, im Schienen- und im Seeverkehr bereits im Mainstream angekommen, aber der fatalistische Mythos von „Unfällen“ im Straßenverkehr – die irgendwie unvermeidbar sind und gegen die es kein Mittel gibt – hat zu Akzeptanz und Kompromissen geführt, die bei anderen Verkehrsträgern niemals hingenommen würden.
Daher müssen die Regierungen gezielt darauf hinarbeiten, Fahrzeuge und Straßen sicher zu machen, die Einschätzung der Menschen von Risiken im Straßenverkehr und die Reaktion darauf zu verbessern und sicherzustellen, dass bei Unfällen mit Personenschäden eine rechtzeitige, hochwertige und lebensrettende Notfallversorgung mit anschließender Rehabilitation zur Verfügung steht.
Im Globalen Plan für die Aktionsdekade für Straßenverkehrssicherheit 2021–2030 werden kontinuierliche Maßnahmen in all diesen Bereichen gefordert. Darüber hinaus wird im Globalen Plan hervorgehoben, dass eine Verlagerung hin zu Straßen und Straßennetzen, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen – d. h. die so geplant, entworfen, gebaut und betrieben werden, dass Risiken ausgeschlossen werden – Menschenleben retten wird.
Bei einer derartigen Straßenplanung wird in erster Linie auf die am meisten gefährdeten Personen Rücksicht genommen: Kinder und Jugendliche, Frauen, Menschen mit Behinderungen, Senioren (die am häufigsten Fußgänger sind), Radfahrer und Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel.
Im besten Fall können mehr Sicherheit, Nachhaltigkeit und Gesundheitsverträglichkeit in Bezug auf Verkehr und Mobilität zu einem positiven sozialen Wandel in vielen Bereichen der Gesellschaft beitragen.
Eine Förderung von Zufußgehen und Radfahren kann sich positiv auf die körperliche und psychische Gesundheit, aber auch auf die Umwelt auswirken, und die Menschen profitieren davon, aktiv zu sein, sauberere Luft zu atmen und den CO2-Ausstoß zu verringern.
Zusammen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln können Fußgänger und Radfahrer zu einer chancengleicheren Gesellschaft beitragen, in der Menschen aller sozioökonomischen Schichten den gleichen Zugang zu Beschäftigung, Bildung, Gesundheit und anderen Dienstleistungen haben.
Da bis zum Jahr 2030 etwa 70 % der Weltbevölkerung in Städten leben werden, wird die Nachfrage nach öffentlichen Verkehrsmitteln steigen, um die Mobilität der großen und weiterhin wachsenden Bevölkerung zu erleichtern.
Wenn sie sicher gemacht werden, können Busse, Straßenbahnen und Nahverkehrszüge – die mehr Menschen befördern als private Kraftfahrzeuge – zu Vorreitern für Sicherheit, Inklusion und Wohlstand werden.
Die Europäische Region ist gut aufgestellt, um diesen Wandel zu erleichtern, etwa durch die politische Verpflichtung ihrer Mitgliedstaaten, die auf der Fünften Hochrangigen Tagung Verkehr, Gesundheit und Umwelt im Jahr 2021 die „Wiener Erklärung: Weiterentwicklung zum Besseren durch die Umgestaltung hin zu neuen, sauberen, sicheren, gesunden und inklusiven Mobilitäts- und Verkehrssystemen“ angenommen haben.
Lebenswerte Straßen sind das Herzstück jeder Wohngegend.
Wir müssen gemeinsam die Gunst der Stunde nutzen, um Mobilität neu zu denken und auch neu zu gestalten, zum Wohle der Menschen und des Planeten, jetzt und für künftige Generationen.