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Erklärung – Die Ukraine ein Jahr danach: Es ist jetzt nicht die Zeit, sich von Ermüdung überwältigen zu lassen

Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

17 February 2023
Aussage
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Guten Morgen aus der Ukraine, wo ich vor dem Hintergrund eines seit einem Jahr währenden verheerenden Krieges auf meinem mittlerweile fünften Besuch bin. 

Es erstaunt mich immer wieder, dass trotz der nicht zu entschuldigenden Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen – mittlerweile sind es fast 780 – und trotz der Erschöpfung und Stressbelastung des Personals das ukrainische Gesundheitssystem sich doch immer noch als so resilient erweist. 

Dies ist heroischen Mitarbeitern, anhaltendem politischem Willen und einer konsequenten Bereitstellung von Haushaltsmitteln für das Gesundheitswesen zu verdanken.  

Aus Daten und Erkenntnissen, die das Gesundheitsministerium und die WHO in den vergangenen Monaten gesammelt haben, ergibt sich ein klareres Bild hinsichtlich der drängenden Herausforderungen und der wichtigsten Prioritäten in nächster Zeit – psychische Gesundheit, Rehabilitation und Zugang der Bürger zur Gesundheitsversorgung. 

Nach Schätzungen sind in der Ukraine inzwischen möglicherweise fast 10 Mio. Menschen von psychischen Gesundheitsproblemen betroffen, davon etwa 4 Mio. von moderaten bis schweren Erkrankungen. 

Als Reaktion darauf hat die Ukraine mit ihrem landesweiten Programm für psychische Gesundheit die psychiatrische und psychosoziale Versorgung ausgebaut. Wie die First Lady Olena Selenska mir gestern erneut erklärt hat, liegt das Sicherheitsnetz für die psychische Gesundheit und das seelische Wohlbefinden, die gemeindenahe Versorgung und die Selbstbewältigung psychischer Gesundheitsprobleme, das heute zur Erfüllung der überwältigenden Anforderungen jeder einzelnen Kommune in der Ukraine erforderlich ist, nicht nur in den Händen der Gesundheits- und Sozialbehörden, deren Kapazitäten für solche Anforderungen einfach nicht ausreichen, sondern ebenso bei den Bürgern selbst. 

Eine weitere dringende Priorität sind die Rehabilitationsmaßnahmen

Zusammen mit Ministerpräsident Shmyhal möchte ich die Bedeutung von Rehabilitation hervorheben und mich seinem dringenden Handlungsappell an die Partnerorganisationen anschließen – auch mit Blick auf die Behandlung von durch den Konflikt bedingten Verletzungen, die oft für Kinder wie Erwachsene gleichermaßen fürchterlich sind. 

Kinder wie die sechsjährige Maryna, deren linkes Bein unterhalb des Knies amputiert wurde, nachdem sie während eines Angriffs auf ihr Haus in Cherson Anfang Mai 2022 von einem Granatsplitter verletzt worden war. Bei dem Beschuss wurde auch ihre Mutter verletzt. Seit dem Sommer wird sie nun im Kinderkrankenhaus Okhmatdyt von einem großartigen Team behandelt, das aus einer Psychologin, einem Rehabilitationsexperten und einem Prothetiker besteht, und von ihrer Tante betreut, da die Mutter immer noch in einem anderen Krankenhaus in Kiew liegt.

Maryna hat ein sehr enges Verhältnis zu ihrem Physiotherapeuten aufgebaut; er benutzt eine Vielzahl von Tricks, um sie abzulenken und zu ihren Übungen zu motivieren. Im Augenblick hat sie einen Rollstuhl, mit dem sie sich fortbewegen kann, doch die Ärzte hoffen, dass sie bis zum Frühjahr mobiler ist. Maryna wird täglich ins Krankenhaus Okhmatdyt gebracht, das ich gestern besucht habe, um mit eigenen Augen zu sehen, wie hochmoderne Technologien und Therapien das Leben von Kindern verändern, die auf Rehabilitationsmaßnahmen angewiesen sind. Mein nachdrücklichster Eindruck von meinem Besuch war die Widerstandsfähigkeit und positive Einstellung dieser Kinder. 

Wir dürfen es nicht zulassen, dass diese Flamme erlischt. 

Hier in der Ukraine wird die Lieferung einer größeren Zahl von Hilfsmitteln wie Rollstühlen benötigt. Die WHO hat bereits die Lieferung von über 4500 derartigen Produkten an Traumakliniken veranlasst und Rehabilitationsmaßnahmen für über 2500 Patienten unterstützt. 

Nach der psychischen Gesundheit und den Rehabilitationsmaßnahmen komme ich nun also zu meinem dritten Punkt: dem Zugang zur Gesundheitsversorgung. 

Eine vor Kurzem durchgeführte Bedarfsabschätzung der WHO kam zu dem Ergebnis, dass ein Zehntel der Bürger aus unterschiedlichen Gründen Probleme beim Zugang zu Arzneimitteln hat, u. a. wegen zerstörter oder beschädigter Apotheken und wegen Versorgungsengpässen. Darüber hinaus gab etwa ein Drittel der Befragten an, sich die benötigten Arzneimittel nicht mehr leisten zu können.

Der Krieg macht alle anfällig. Deshalb koordinieren wir mit fast 200 Partnerorganisationen die Bereitstellung einer Vielzahl von Gesundheitsleistungen in diesem so weitläufigen Land und haben damit im vergangenen Jahr 8,5 Mio. Menschen erreicht. In diesem Jahr wollen wir mit dieser Unterstützung 13,6 Mio. Menschen erreichen. Deshalb haben wir unseren Hilfeaufruf für 2023 auf 240 Mio. US-$ erhöht – 160 Mio. für die Ukraine und 80 Mio. für die Aufnahmeländer. 

Ich rufe dringend zur Fortsetzung der Unterstützung für die mutige Bevölkerung der Ukraine und zur Solidarität mit ihrem großartigen Gesundheitspersonal auf. Ich kann Ihnen versichern, dass die WHO auch weiterhin fest an ihrer Seite stehen und Gesundheit für alle anstreben wird, solange es notwendig ist. Es ist jetzt nicht die Zeit, sich von Ermüdung überwältigen zu lassen. 

Ich danke Ihnen.