Aufgrund des sich verschärfenden Krieges in der Ukraine mussten Hunderte von krebskranken Kindern im ganzen Land von zuhause oder aus dem Krankenhaus fliehen und sich auf eine gefährliche Reise begeben, in der Hoffnung, anderswo die lebenswichtige Behandlung fortsetzen zu können.
So musste auch der achtjährige Leonid, der wegen eines Blasentumors in chemotherapeutischer Behandlung war, wegen zunehmenden Artilleriebeschusses das Krankenhaus in Kiew verlassen. Zusammen mit seiner Mutter Anna machte er sich auf die Suche nach Behandlung an einem sicheren Ort.
„Der Weg war lang und beängstigend, und Leonid hatte furchtbare Angst vor den Bomben und Granaten“, erzählt Anna.
Schließlich kam Leonid am Westukrainischen Pädiatriezentrum in Lemberg nahe der polnischen Grenze an, wo er seine Krebsbehandlung fortsetzen konnte. Leider erfuhr Anna, dass der Tumor ihres Sohnes inzwischen gewachsen war.
„Wir wollen so bald wie möglich nach Polen, damit unser Sohn eine reguläre Behandlung bekommt“, sagt sie. „Wir wollen nicht warten. Niemand weiß, was noch passiert.“
Bei der humanitären Gesundheitshilfe stimmt sich die WHO mit ihren Partnerorganisationen ab, sowohl innerhalb der Ukraine als auch an ihren Grenzen, und stellt Hilfsgüter, fachliche Unterstützung und Notfallpersonal zur Verfügung. Die Organisation baut in Polen einen Knotenpunkt für die Unterstützung der Ukraine auf und bietet den Nachbarländern die Infrastruktur und den Sachverstand an, den sie zur Bewältigung eines massiven Zustroms von Flüchtlingen benötigen. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen haben inzwischen mehr als 3 Millionen Menschen das Land verlassen.
Zur Finanzierung der gesundheitlichen Hilfsmaßnahmen hat die WHO einen Nothilfeappell für die Ukraine veröffentlicht. Örtliche und internationale Organisationen liefern sich einen Wettlauf mit der Zeit, um krebskranken Kindern eine Fortsetzung ihrer Behandlung zu ermöglichen.
Am Westukrainischen Pädiatriezentrum werden Kinder aus allen Teilen der Ukraine stabilisiert und dann mit dem Krankenwagen zur Triage in die Unicorn-Klinik Marian Wilemski in Polen gebracht. Von dort werden sie mit ihren Angehörigen in ein Onkologiezentrum in Polen oder anderswo in Europa oder der übrigen Welt überwiesen.
Yulia Nohovitsyna, die für eine gemeinnützige Stiftung arbeitet, berichtet, dass bisher etwa 170 Kinder eine solche Überweisung erhalten haben.
Eine von ihnen ist Anastasia aus Kiew. Sie kam am 7. März zusammen mit ihrer Mutter Natalia in Hamburg an, wo sie nun ihre Behandlung gegen akute Lymphoblastenleukämie fortsetzt. Fünf Tage zuvor waren Mutter und Tochter aus der Nationalen Kinderfachklinik Okhmatdyt geflohen, die unter Artilleriebeschuss geraten war.
„Es war unmöglich, die Behandlung fortzusetzen, wegen der ständigen Alarme und Sirenen und der drohenden Zerstörung der Hauptstadt“, erzählt Natalia. „Ich bin allen, die die Evakuierung von Kindern organisiert haben, und den Ärzten, die uns zur Behandlung nach Deutschland überwiesen haben, so dankbar.“
Krebs gehört zu den schwierigsten Herausforderungen bei der gesundheitlichen Notlage in der Ukraine“, erklärte WHO-Generaldirektor Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus diese Woche. Dr. Tedros wies auch auf fehlende Behandlungsmöglichkeiten für Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen hin.
Eine Flut von Patienten
Als zentrale Anlaufstelle für die jungen Krebspatienten, die die Ukraine verlassen, muss das Westukrainische Pädiatriezentrum mit rasch zur Neige gehenden Materialbeständen und einer Flut von kranken, oftmals traumatisierten Patienten fertigwerden – innerhalb von nur einer Woche wurden so viele Neuzugänge verzeichnet wie sonst in sechs Monaten.
„Wir bereiten uns auf das Schlimmste vor: wir sichern die Fenster und bereiten im Keller Räume für eine Evakuierung vor. Aber das reicht nicht für unsere Patienten“, erklärt Dr. Severyn Ferneza, einer der Ärzte am Pädiatriezentrum, der während des Interviews mit Mitarbeitern der WHO mit den Tränen kämpfte. „Ich mag mir gar nicht vorstellen, was passieren würde, wenn dieses Krankenhaus nicht mehr funktionsfähig wäre. Keiner könnte diese Arbeit übernehmen.“
Obwohl die Chemotherapie fortgesetzt wird, müssen die Patienten doch etwa viermal am Tag bei Luftalarm schnell in die Schutzräume gebracht werden. Viele der Kinder haben schon in Städten wie Kiew und Charkiw Artillerieangriffe erlebt und haben fürchterliche Angst vor den Sirenen. Ein Psychologe arbeitet zweimal pro Woche mit den Kindern, aber das Krankenhauspersonal hält das bei Weitem nicht für ausreichend.
„Der Krebs selbst ist schon ein Problem, aber aufgrund der Unterbrechungen bei der Behandlung sowie der Stressbelastung und der Infektionsgefahr besteht das Risiko, dass Hunderte von Kindern vorzeitig sterben“, sagt Dr. Roman Kizym, der Leiter des Zentrums. „Für uns sind das die indirekten Opfer dieses Krieges.“
Unter den Neuankömmlingen in dem Zentrum ist auch der sechsjährige Arthur. Er leidet an akuter myeloischer Leukämie, einer Art von Blutkrebs. „Wir sind dankbar für diese Chance, zu überleben und die Behandlung fortzusetzen“, sagt Alina Mykolaivna, die Mutter des Jungen. „Wenn wir die Behandlung unterbrochen hätten, dann wären die ganzen Chemotherapie-Blöcke, die Arthur schon hinter sich hat, umsonst gewesen.“
Dr. Kizym lobt die internationale Koordination, die schon die Evakuierung und Behandlung vieler Patienten ermöglicht hat. „Trotzdem ist das eine sehr schwierige Phase. Manche Behandlungen, zum Beispiel Knochenmarktransplantationen, um deren Einführung ich in der Ukraine so hart gekämpft habe, sind jetzt nicht mehr möglich. Es ist unmöglich, noch Spendermark heranzuschaffen.“
Die Transplantationsstation des Krankenhauses wird nicht benutzt. An der Tür hängt noch ein Band von der feierlichen Eröffnung kurz vor Beginn des Krieges.
Einer von Dr. Kizyms Patienten ist Leonid, der Junge mit dem Blasentumor. Er reagiere gut auf die Behandlung, erklärt seine Mutter, aber das sei ihm scheinbar gleichgültig. „Er will wieder nach Hause. Er vermisst sein Zuhause.“
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Der Inhalt dieses Artikels wurde am 17. März 2022 redaktionell geändert, um das Zitat von Dr. Roman Kizym klarzustellen.