Rapide steigende COVID-19-Fallzahlen und verringerte Surveillance des Virus lassen einen problematischen Herbst und Winter in der Europäischen Region erwarten

Neue Strategie von WHO/Europa appelliert dringend an Länder, umgehend ihre Defizite bei der Überwachung und Bekämpfung der Pandemie zu beheben, um vermeidbare Todesfälle und schwere Beeinträchtigungen im Gesundheitswesen zu verhindern

19 July 2022
Aussage
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Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa   


Im vergangenen Jahr warnte WHO/Europa um diese Zeit vor einer neuen Welle von COVID-19, die, angetrieben durch die Delta-Variante, inmitten der Aufhebung von Beschränkungen und verstärkter Sozialkontakte über die Europäische Region hinwegfegte.  
 
Inzwischen ist unverkennbar, dass wir uns in einer ähnlichen Situation befinden wie im vergangenen Sommer – nur dass diesmal die aktuelle COVID-19-Welle vor allem durch die Omikron-Untervarianten BA.2 und BA.5 ausgelöst wurde; diese beiden dominanten Untervarianten haben in Bezug auf Übertragung klare Vorteile gegenüber den zuvor zirkulierenden Viren. 

Die steigenden Fallzahlen haben auch einen Anstieg der Hospitalisierungsrate zur Folge, die sich in den Herbst- und Wintermonaten weiter erhöhen dürfte, wenn die Schule wieder anfängt, die Menschen aus dem Urlaub zurückkehren und die Sozialkontakte sich aufgrund der kälteren Witterung zunehmend nach Innen verlagern. Diese Prognose stellt in immer mehr Ländern das Gesundheitspersonal vor enorme Herausforderungen, denn es steht ohnehin schon seit 2020 unter extremem Druck und hat eine Krise nach der anderen zu bewältigen.  
 
Betrachten Sie einmal die aktuelle Situation: Die Europäische Region verzeichnete in den letzten sechs Wochen eine Verdreifachung der neuen COVID-19-Fallzahlen: allein vergangene Woche wurden fast 3 Millionen neue Fälle gemeldet, knapp die Hälfte aller weltweit gemeldeten neuen Fälle. Zwar haben sich die durch COVID-19 bedingten Hospitalisierungsraten in demselben Zeitraum verdoppelt, doch werden bisher nur relativ wenige Fälle auf der Intensivstation eingeliefert. Aber aufgrund der weiter steigenden Infektionsraten in höheren Altersgruppen kommt es in der Europäischen Region immer noch zu fast 3000 COVID-19-bedingten Todesfällen pro Woche. 
  
Diese Zahlen spiegeln jeweils die Situation in der jüngsten Vergangenheit wider. Zukunftsprognosen und entsprechende Vorbereitungen sind weit schwieriger, müssen aber dringend eingeleitet werden. Deshalb veröffentlicht WHO/Europa heute seine Herbst- und Winterstrategie für COVID-19 und andere Atemwegserkrankungen, um eine Vorbereitung auf die kommenden Infektionswellen zu ermöglichen. Im Herbst ist es zum Handeln zu spät.   
 
In der Strategie werden die Länder aufgefordert, ihre Maßnahmen zur Eindämmung wieder aufzunehmen und sich konkret auf eine erhöhte Belastung ihrer Gesundheitssysteme vorzubereiten. Auch im kommenden Herbst und Winter kommt es zum Schutz der Bevölkerung entscheidend auf die konsequente Anwendung der folgenden fünf Stabilisierungsmaßnahmen für die Pandemie an:   

  • Erhöhung der Impfquote in der Allgemeinbevölkerung;  
  • Verabreichung einer zweiten Auffrischungsimpfung an Menschen mit beeinträchtigtem Immunsystem ab fünf Jahren sowie ihre engen Kontaktpersonen und Erwägung des Angebots einer zweiten Auffrischungsimpfung an spezielle Risikogruppen mindestens drei Monate nach der letzten Dosis;
  • Förderung des Maskentragens in Innenräumen und in öffentlichen Verkehrsmitteln;
  • Belüftung von überfüllten und öffentlichen Räumen (wie Schulen, Büros und öffentlichen Verkehrsmitteln); und 
  • Anwendung strenger therapeutischer Protokolle für Personen, denen ein schwerer Krankheitsverlauf droht.  

Diese Stabilisierungsmaßnahmen sollten ergänzt werden durch:   

  • Stärkung der Laborkapazitäten, um eine zuverlässige Schnelldiagnose des SARS-CoV-2 und eine Rückverfolgung von Varianten zu gewährleisten, und gleichzeitig Fortsetzung der Schnelltests durch die Bevölkerung;
  • Verflechtung der bevölkerungsweiten Surveillance-Systeme für Influenza, SARS-CoV-2 und andere Atemwegserkrankungen, um Ausbreitung und Intensität von respiratorischen Viren zu verfolgen;   
  • Vorrang für Kontaktverfolgung und Quarantäne gemäß den Empfehlungen der WHO für Einzelpersonen, Risikoumfelder und besorgniserregende Situationen;
  • Förderung sinnvoller individueller Entscheidungen über Schutzmaßnahmen wie Atemhygiene, Maskentragen, Belüftung, Händewaschen und Impfungen; und 
  • Ausweitung der Infektionsschutzmaßnahmen in allen Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen sowie in der Allgemeinbevölkerung.  
 
COVID-19 ist weiterhin eine bösartige und potenziell tödliche Krankheit. Vor nur zwei Wochen wurde ich zum ersten Mal mit dem Virus infiziert, und es hat mich hart getroffen. Ich verbrachte drei schreckliche Tage und Nächte mit hohem Fieber, Schüttelfrost und Kurzatmigkeit. Ich kann mir nur vorstellen, wie schlimm es gewesen wäre, wenn ich nicht vollständig geimpft gewesen wäre und meine Zusatzdosis erhalten hätte. Ich habe mich zuhause erholt, in Isolation und in Nähe meiner Familie, die nach mir sah. Ich musste nicht ins Krankenhaus eingeliefert oder behandelt werden. Die durch die Impfungen gebildeten Antikörper in meinem Immunsystem machten sich an die Arbeit und konnten schließlich die Infektion abwehren. 

Mein Rat an alle Infizierten lautet: schonen Sie sich! Auch wenn Ihre Symptome nachgelassen haben, so bedeutet das nicht unbedingt, dass Sie sich vollständig erholt haben. Und wenn Sie in Ihre normale Alltagsroutine zurückkehren, tun Sie es allmählich, sofern möglich. 
   
Mehr als zwei Jahre nach Beginn der Pandemie kennen wir alle die Werkzeuge, die uns zur Verfügung stehen, um uns zu schützen, unsere Gefährdung einzuschätzen und im Falle einer Infektion die notwendigen Maßnahmen zum Schutz anderer zu ergreifen. Treffen Sie mündige Entscheidungen. Nur weil keine Maskenpflicht besteht, ist Maskentragen noch lange nicht verboten.   
 
Aufgrund der ständigen Veränderung des SARS-CoV-2 kommt es zu wiederholten Infektionen mit dem Virus, und jede neue Infektion könnte zu Long COVID führen. So leiden im Vereinigten Königreich nach Schätzungen 2 Millionen Menschen – 3% der Bevölkerung – an Long COVID. Es muss deutlich mehr getan werden, um vorbildliche Praktiken für die Entdeckung, Behandlung und Rehabilitation von Patienten mit Long COVID festzulegen. Ich appelliere immer wieder an die Länder, das Problem zu erkennen und in die nötigen Forschungsarbeiten zu investieren, um auf diese Schattenpandemie von COVID-19 zu reagieren.  
 
Nochmal: Meine Botschaft an Regierungen und Gesundheitsbehörden lautet, jetzt zu handeln, um sich auf die kommenden Monate vorzubereiten. Die südliche Hemisphäre, in der jetzt Winter ist, erlebt gerade eine sehr aktive Influenzasaison, die zusammen mit COVID-19 eine konstante Belastung für die Gesundheitssysteme darstellt. Ein ähnliches Szenario droht im kommenden Herbst und Winter auch auf der Nordhalbkugel. 

Wenn die Gesundheitsbehörden jetzt handeln, können sie dazu beitragen, die erwarteten Beeinträchtigungen des gesellschaftlichen Lebens zu reduzieren, wie sie etwa durch Fehlzeiten beim Gesundheitspersonal und überlastete Gesundheitssysteme, in Schwierigkeiten geratene Unternehmen und Chaos im Reiseverkehr entstehen.   
 
Unsere Gesundheitssysteme und die Gesellschaft insgesamt müssen unsere kollektiven Anstrengungen zur Bekämpfung des Virus – und etwaiger künftiger besorgniserregender Varianten – weiter anpassen. Wir müssen auch weiterhin alles in unseren Kräften Stehende tun, die am stärksten Gefährdeten zu schützen. Das bedeutet, dass wir die Veränderung des SARS-CoV-2 weiterhin aufmerksam verfolgen müssen, denn es handelt sich ja um ein hochgradig unvorhersehbares Virus. Doch die meisten Länder in der Europäischen Region haben die COVID-19-Surveillance eingestellt oder zumindest deutlich heruntergefahren und so in Bezug auf unser Wissen über die Entwicklung des Virus einen gefährlichen blinden Fleck entstehen lassen.  
 
Deshalb appelliere ich dringend an alle Länder, ihre COVID-19-Surveillance im Rahmen einer breiteren, resilienten, bevölkerungsweiten Surveillance auf respiratorische Viren zu stärken und sich für den Herbst zu rüsten. Wissen ist und bleibt ein lebenswichtiges Instrument im Kampf gegen das Virus. Werfen wir es nicht weg.