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Organisation der gesundheitlichen Hilfsmaßnahmen für die Notlage in der Ukraine: Interview mit dem Repräsentanten der WHO Jarno Habicht

20 March 2022
Pressemitteilung
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Jarno Habicht arbeitet seit 19 Jahren für die WHO, und seit 2018 fungiert er als Repräsentant der WHO in der Ukraine. In diesem Interview beantwortet er Fragen zu den Vorbereitungen der WHO auf bewaffnete Auseinandersetzungen im Land und der gesundheitsbezogenen humanitären Reaktion der Organisation seit Beginn der russischen Militäroffensive und des Krieges.

Was waren Ihre Erfahrungen in der Ukraine vor Beginn der aktuellen Militäroffensive Russlands?

„Die Ukraine ist von einer gesundheitsbezogenen Perspektive aus gesehen eines der dynamischsten Länder für unsere Art von Arbeit. Seit 2014 waren 3,4 Mio. Menschen in der Region Donbas im Südosten der Ukraine auf gesundheitsbezogene humanitäre Hilfe angewiesen. Als ich den Job in der Ukraine angetreten habe, war zudem der Masernausbruch im Land der zweitgrößte derartige Ausbruch weltweit, bevor unser Team begann Gegenmaßnahmen einzuleiten. Und natürlich hatten wir dann seit 2020 mit COVID 19 zu kämpfen, und in diesem Zusammenhang habe ich eng mit der Regierung zusammengearbeitet, um einen nationalen Strategieplan für Vorsorge- und Bekämpfungsmaßnahmen gegen COVID-19 auszuarbeiten, und war natürlich auch aktiv in die Reaktion auf die Pandemie im ganzen Land eingebunden. Dann wurde Ende letzten Jahres ein Polioausbruch entdeckt, also haben wir zusammen mit dem Gesundheitsministerium und mit Partnerorganisationen eine Kampagne gestartet, um sämtliche Kinder im Alter zwischen 6 Monaten und 6 Jahren zu impfen. Seit 2016 durchlief die Ukraine einen Reformprozess, und selbst angesichts all dieser gesundheitlichen Notlagen im Land wurden die Gesundheitsreformen der Regierung zur allmählichen Verwirklichung einer allgemeinen Gesundheitsversorgung nie unterbrochen. Es wurden neue Einrichtungen geschaffen und neue Praktiken angewandt. Insgesamt war diese Zeit für jemanden, der im Bereich der öffentlichen Gesundheit tätig ist, mit großen Herausforderungen verbunden, aber es war auch sehr bereichernd, diese ganze Zeit in der Ukraine tätig zu sein.“

Wie lange hat sich die WHO auf eine mögliche Eskalation des Konfliktes im Land vorbereitet?

„In der Ukraine haben wir immer schon Bereitschaftsplanung für eine gesundheitliche Notlage betrieben, doch im Oktober/November letzten Jahres haben wir begonnen, konkrete Maßnahmen zu ergreifen. Diese umfassten etwa Besuche in Oblasten im Osten des Landes, die Auffüllung unserer Warenlager mit Hilfsgütern und deren Lieferung an ausgewählte Krankenhäuser und die Entsendung von Kollegen aus dem Regionalbüro in Kopenhagen und dem Hauptbüro in Genf, um die Maßnahmen zu bewerten. Im Dezember richteten wir zudem medizinische Notfallteams ein, instruierten die Behörden und übersetzten Leitlinien und Material der WHO zum Thema bewaffnete Konflikte ins Ukrainische.

Anfang dieses Jahres begannen wir, traumatologische Hilfsgüter – also unentbehrliche lebensrettende Materialien und Behandlungsmittel für Verletzungen – in unseren Warenlagern und Krankenhäusern bereitzuhalten, und Dr. Hans Kluge, der WHO Regionaldirektor, unternahm einen Amtsbesuch in die Ukraine, um zu erörtern, was aus einer gesundheitsbezogenen Perspektive angesichts der eskalierenden Gewalt zu unternehmen sei.“

Wie haben Sie sich gefühlt als die russische Militäroffensive begann?

„Ende Februar, als die Militäroffensive begann, waren gerade Schulferien, daher waren die Menschen vielleicht etwas entspannter als sonst – was dazu führte, dass der Angriff ein umso größerer Schock war. Wir hatten gerade erst im Januar eine zweijährige Kooperationsvereinbarung zwischen der WHO und den nationalen Gesundheitsbehörden unterzeichnet, um die gesundheitspolitische Agenda voranzutreiben, und haben uns sehr auf die ganzen positiven Veränderungen gefreut, die dadurch bewirkt werden würden. Zudem sollte Ende März eine von der WHO und der Weltbank unterstützte nationale Konferenz über Krankenhausreformen stattfinden, und wir haben Vorbereitungen für den Weltgesundheitstag am 7. April getroffen, um Fortschritte in der primären Gesundheitsversorgung zu erzielen. All diese Initiativen mussten jetzt erst einmal auf Eis gelegt werden. Die letzten Wochen waren von Lernen, Nachdenken und dem Abfinden mit dieser Situation geprägt, denn auch, wenn wir uns seit Längerem schon – und intensiver in den letzten 4 bis 5 Monaten – auf mögliche Kriegshandlungen vorbereitet hatten, hätte niemand von uns gedacht, dass es wirklich in diesem Ausmaß dazu kommen würde.“

Wie musste die Arbeit des WHO-Länderbüros in Reaktion auf den Krieg angepasst werden?

„Wir haben ein sehr agiles, dynamisches Team – wir können arbeiten, wo auch immer wir uns befinden. Einige Kollegen sind umgesiedelt, einige Kollegen mussten vorübergehend evakuiert werden, aber es sind auch einige Kollegen in die Ukraine gekommen. Eine Sache, die wir aus der COVID-19-Pandemie gelernt haben, ist, dass man immer virtuell mit seinen Kollegen verbunden ist, egal wo man sich gerade aufhält. Wir halten täglich Online-Besprechungen mit Kollegen in über 20 Ländern ab. Zudem haben wir über 60 Kollegen in der Ukraine, einige in Kiew, andere woanders.“

Was konnte die WHO bisher unternehmen, um gesundheitliche Hilfsmaßnahmen in der Ukraine zu unterstützen?

„Ich bin sehr stolz darauf, dass wir dank unserer Erfahrung und unseres Teamgeistes eine der Organisationen der Vereinten Nationen sind, die in der Lage waren, bereits Hilfsgüter nach Kiew und in andere Städte zu liefern. Ferner habe ich in meinen 19 Jahren bei der WHO noch nie einen stärkeren Zusammenhalt auf allen drei Ebenen der Organisation – also von Hauptbüro, Regionalbüro und Länderbüro – erlebt, bei dem wir eng zusammenarbeiten, aufeinander hören und den Hilfsmaßnahmen Priorität einräumen. Wir finden Lösungen und stecken wirklich unsere besten Köpfe und Leute zusammen, um zu handeln. So waren wir auch in der Lage, medizinische Hilfsgüter von Dubai nach Polen, von Polen in die Ukraine und von dort in einzelne Krankenhäuser im ganzen Land zu liefern. Unser WHO-Länderbüro ist nur ein kleines Team, aber wir sind in der Lage, Tausende in der gesamten Organisation zur Unterstützung der Ukraine zu mobilisieren.“

Wie würden Sie die gegenwärtige gesundheitliche und humanitäre Situation im Land beschreiben?

„Sie verändert sich von Tag zu Tag. Innerhalb eines knappen Monats haben über 3 Mio. Menschen das Land verlassen und fast 2 Mio. Menschen wurden innerhalb des Landes vertrieben. Dies geschah schneller als in jeder anderen vorherigen Krise innerhalb Europas. In der Ukraine gibt es derzeit keinen sicheren Ort, und doch müssen wir gewährleisten, dass Gesundheitsangebote vorhanden sind.

Währenddessen hält die Militäroffensive an und eine Reihe von Städten sind vollkommen isoliert – den Menschen gehen die Nahrungsmittel und das Trinkwasser aus und die Krankenhäuser haben teilweise keinen Strom. Noch schlimmer ist, dass viele Angriffe gezielt auf Gesundheitspersonal und Gesundheitseinrichtungen sowie auf Patienten gerichtet werden. Das ist mittlerweile an der Tagesordnung und völlig inakzeptabel. Wenn Sie mich also bitten, die Lage zu beschreiben, dann muss ich leider sagen, dass es jeden Tag schlimmer wird, was auch bedeutet, dass gesundheitliche Hilfsmaßnahmen jeden Tag schwerer werden.“

Wie werden Sie und Ihr Team mit dieser Situation fertig?

„Ich persönlich konzentriere mich auf die Arbeit. Genügend Schlaf ist auch wichtig – glücklicherweise kann ich unter Stress sogar noch besser schlafen. Aber ganz ehrlich, es ist schwer, vor allem, da mein ganzer Besitz in Kiew ist: meine Kleidung, meine Wohnung. Doch am wichtigsten ist, dass ich meine Gesundheit und Energie habe, um die Ukraine zu unterstützen. Es ist schwer, mit dieser Situation umzugehen, und wir alle werden später viele Geschichten zu erzählen haben.

In der letzten Woche haben wir unseren Fokus etwas verändert und uns neu organisiert, um besser auf die enormen gesundheitlichen Herausforderungen eingehen zu können, vor denen das Land nun steht. Vor drei Wochen hatten wir noch die Hoffnung, dass wir einen Teil unserer Entwicklungsarbeit fortsetzen könnten, doch jetzt müssen wir das Ausmaß der humanitären Krise anerkennen. Gegenwärtig müssen wir uns auf humanitäre Maßnahmen konzentrieren, aber auch beginnen, an den Wiederaufbau zu denken, auch wenn wir nicht wissen, ob dieser Krieg in der nahen Zukunft beendet sein oder noch lange anhalten wird.“