Einführung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, zum Thema „Die Zukunft gestalten: ein Blick jenseits von 20 Jahren Ausweitung kooperativer Maßnahmen im Bereich Tuberkulose und HIV“,
gehalten auf der 25. Internationalen Aids-Konferenz in München
21. Juli 2024
Exzellenzen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
Guten Morgen. Lassen Sie mich mit drei einfachen Wörtern beginnen: vermeidbar, behandelbar, heilbar. All das trifft auf die Tuberkulose zu. Und weltweit hat die Medizin außerordentliche Fortschritte auf dem Weg dorthin gemacht.
Dieses Thema liegt mir sehr am Herzen. Denn ich habe jahrelang in verschiedenen Teilen der Welt und unter äußerst schwierigen Rahmenbedingungen Menschen mit Tuberkulose behandelt, von denen viele auch HIV-positiv waren. Damals mussten viele Menschen lange, giftige Behandlungen über sich ergehen lassen – mehrere Pillen pro Tag über Monate, manchmal Jahre hinweg. Tägliche Injektionen. Die Nebenwirkungen waren unerträglich.
Zum Glück sind die heutigen Therapien viel kürzer, sicherer und wirksamer. Heute haben wir vollständig orale Behandlungen für Tuberkulose und resistente Tuberkulose, die nur sechs Monate dauern. Es müssen weniger Pillen genommen werden. Diagnosen können innerhalb von Stunden gestellt werden. Noch vor einem Jahrzehnt hätten wir uns das nicht einmal im Traum vorstellen können.
Aber noch immer erhalten nicht alle, die es brauchen, diese lebensrettende Versorgung. Und wie wir gerade gehört haben, ist Tuberkulose weltweit immer noch die häufigste Todesursache für Menschen mit HIV.
Ein Blick speziell auf die Europäische Region der WHO zeigt, dass im Jahr 2022 etwa 28 000 neu diagnostizierte Tuberkulosefälle auch HIV-positiv waren, dass wir über die soeben erwähnten Therapien – die präventive Versorgung, die Technologien und die Tests für eine schnelle Diagnose sowie die innovativen digitalen Gesundheitslösungen, die notwendig sind, um die Bedürftigen zu erreichen – zwar verfügen, aber dass die Menschen sie einfach nicht rechtzeitig erhalten.
In vielen Ländern sind die Systeme für die HIV- und Tuberkuloseversorgung noch immer voneinander isoliert organisiert. Eine umfassende, kooperative und integrierte Versorgung ist immer noch eher ein Traum als Realität. So kommt es zu Verzögerungen bei der Diagnose. In der Europäischen Region wird mehr als die Hälfte der HIV-Diagnosen zu spät gestellt, was schwerwiegende Folgen für das Immunsystem der Betroffenen hat.
Die von der WHO empfohlene präventive Therapie für die Tuberkulose wird von Menschen mit HIV nicht annähernd hinreichend in Anspruch genommen. Dabei kann sie eine Verbesserung der Gesundheit bewirken und Menschenleben retten. Heute erhalten in unserer Region ein Drittel der mit HIV lebenden Menschen diese Therapie nicht.
Wir müssen unbedingt alles tun, um diese Lücke zu schließen. Dazu sind konkret vier Schritte erforderlich: Erstens müssen wir die Menschen erreichen, bevor es zu spät ist. Hören wir auf, über die lebensrettenden Innovationen zu reden, und fangen wir an, sie in großem Maßstab einzusetzen.
Zweitens: Nationale Konzepte und das Engagement für kooperative Ansätze nützen nichts, wenn sie nicht umgesetzt werden. Wir müssen sicherstellen, dass Tuberkulose- und HIV-Versorgung Hand in Hand die besten Ergebnisse für alle Menschen erzielen.
Drittens müssen wir die Investitionen erhöhen, um den Menschen wirklich in den Mittelpunkt der Versorgung zu stellen. Dazu gehört eine gemeindenahe Unterstützung, die sich nicht nur mit HIV und Tuberkulose befasst, sondern auch mit Aspekten wie psychische Gesundheit und Substanzgebrauch, und mit den sozialen und finanziellen Problemen, vor denen Tausende von Menschen stehen.
Viertens, und das ist vielleicht das Wichtigste, müssen wir das letzte Hindernis für eine Beendigung von HIV und Tuberkulose überwinden: die Stigmatisierung. Sie ist gefährlich, sie ist allgegenwärtig und sie stiehlt Leben, denn viele haben zu viel Angst, um sich überhaupt in Behandlung zu begeben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben alle Mittel, um HIV und Tuberkulose bis 2030 zu beenden. Timur Abdullaev, ein ehemaliger Kollege von der WHO aus Usbekistan und Aktivist im Bereich HIV und Tuberkulose, hat es großartig auf den Punkt gebracht: „Wir können unsere Unfähigkeit, der Wissenschaft zu folgen, nicht mit Systemfehlern und Einschränkungen rechtfertigen.“
Lassen Sie uns auf unseren unglaublichen Fortschritten weiter aufbauen: durch mehr Führungsinitiative, einen stärkeren politischen Willen, höhere Investitionen, mehr Forschung und mehr Innovation. Nichts Geringeres sind wir all den Menschen auf der Welt schuldig, die mit HIV und Tuberkulose leben.
Vielen Dank.