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Die Stärkung unserer gemeinsamen Architektur zur Wahrung der Gesundheitssicherheit ist eine dringende Aufgabe

22 November 2022
Aussage
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Sehr geehrte Paulette Lenert, Gesundheitsministerin von Luxemburg, sehr geehrte Sandra Gallina, Generaldirektorin für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit der Europäischen Kommission, sehr geehrte Kathleen Van Brempt, Vertreterin des Sonderausschusses des Europäischen Parlaments, sehr geehrte Andrea Ammon, Direktorin des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten, und sehr geehrte Emer Cooke, Direktorin der Europäischen Arzneimittelagentur, verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde!

Vielen Dank, liebe Sandra, für die Gelegenheit, heute hier zu Ihnen zu sprechen – ein weiteres Beispiel für unsere produktive Zusammenarbeit.

Es tut mir wirklich leid, dass ich nicht persönlich bei Ihnen sein kann. Ich melde mich aus der Ukraine, von meiner vierten Mission in diesem Jahr, wo ich mich derzeit auf der Straße nach Dnipro befinde. Die Temperaturen bewegen sich hier derzeit um den Gefrierpunkt, könnten in den kommenden Monaten jedoch auf bis zu minus 20 Grad Celsius sinken.

Für die Menschen in der Ukraine wird es in diesem Winter ums Überleben gehen, und zwar an vielen Fronten gleichzeitig, während sie mit einer verheerenden Energiekrise, einer sich verschärfenden gesundheitlichen Notlage, dem fehlenden Zugang zu Gesundheitsangeboten und Versorgungsgütern und der Gefahr von Virusinfektionen konfrontiert sind.

Damit wird unsere heutige Tagesordnung unweigerlich in den Fokus gerückt, ebenso wie die Tatsache, dass wir – die Paneuropäische Region und die Welt – wirksame Schritte ergreifen müssen, um diese sogenannte Permakrise aus Pandemien, Kriegen, neu auftretenden Krankheiten und Klimakrise zu bewältigen.

Die Stärkung unserer gemeinsamen Architektur zur Wahrung der Gesundheitssicherheit ist für uns alle eine dringende Aufgabe. Daher möchte ich in der kurzen Zeit, die mir heute mit Ihnen zur Verfügung steht, gerne drei Aspekte ansprechen:

  • ich möchte Ihnen einen Überblick über die neuesten Entwicklungen geben und einige Gedanken zum Globalen Pandemievertrag und zur Überarbeitung der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) mit Ihnen teilen;
  • ich möchte erläutern, welche Maßnahmen wir in der gesamten Europäischen Region ergreifen, um die Gesundheitssicherheit zu fördern; und
  • ich möchte betrachten, inwiefern diese Entwicklungen die Maßnahmen ergänzen, die Sie auf Ebene der Europäischen Union (EU) als Teil des Rahmens für die Gesundheitssicherheit ergreifen.

Die COVID-19-Pandemie unterstrich bekannte und offenbarte neue Defizite in unserem globalen Umfeld der Gesundheitssicherheit, darunter Grenzen der aktuellen IGV, die zuletzt im Jahr 2005 aktualisiert wurden. Verzögerte Meldungen, fehlende Verantwortlichkeit und schwache Mechanismen für eine länderübergreifende Zusammenarbeit und den Zugang zu Gegenmaßnahmen behinderten die Reaktion auf die Pandemie und haben Menschenleben gekostet.

In Reaktion darauf brachte der WHO-Generaldirektor im Mai 2022 zehn Vorschläge zur Stärkung der globalen Architektur für die Bereitschaftsplanung für, Reaktion auf und Widerstandsfähigkeit gegenüber gesundheitlichen Notlagen vor, die auf über 300 Empfehlungen aus unterschiedlichen unabhängigen Überprüfungen beruhten.

Darüber hinaus wurden zwei wichtige Prozesse unter Federführung der Mitgliedstaaten ins Leben gerufen:

  • die Arbeitsgruppe für Änderungen an den IGV (WGIHR); und
  • das Zwischenstaatliche Verhandlungsgremium (INB) zur Ausarbeitung und Aushandlung eines WHO-Übereinkommens, einer Vereinbarung oder eines anderen internationalen Instruments über Pandemieprävention, -vorsorge und -reaktion.

Die WGIHR kam in der vergangenen Woche erstmals zusammen und soll ihre Ergebnisse bei der Weltgesundheitsversammlung 2023 vorstellen, mit dem Ziel, ihre Empfehlungen im Jahr 2024 einvernehmlich anzunehmen.

Ein Vorschlag, der auf großes Interesse gestoßen ist, ist die Einführung einer neuen globalen Zielvorgabe: der sogenannten Vorgabe 7-1-7, die darauf abzielt, dass jeder mutmaßliche Ausbruch innerhalb von 7 Tagen nach dem ersten Auftreten identifiziert und Gesundheitsbehörden gemeldet wird, daraufhin innerhalb 1 Tages eine Untersuchung gestartet und Reaktionsanstrengungen unternommen werden, und innerhalb von 7 Tagen nach objektiven Maßstäben wirksam reagiert wurde.

Die Befürworter dieser Zielvorgabe argumentieren, dass dadurch die globale Verantwortlichkeit verbessert werde, Länder in die Lage versetzt würden, ihre Leistung leichter zu beurteilen und zu erkennen, wo es Verbesserungen bedarf, sowie unmittelbare Maßnahmen und die Unterstützung von Gebern auf Bereiche mit dem größten Bedarf ausgerichtet würden.

Der zweite Prozess wurde vor fast einem Jahr ins Leben gerufen, als Mitgliedstaaten der WHO vereinbarten, das INB einzurichten, um ein WHO-Übereinkommen, eine Vereinbarung oder ein anderes internationales Instrument über Pandemieprävention, -vorsorge und -reaktion – den sogenannten Pandemievertrag – auszuarbeiten und auszuhandeln.

Dessen Grundprinzip besteht darin, Bereiche außerhalb des Rahmens der IGV abzudecken. Einige der vorgeschlagenen Themen – die noch abschließend ausgehandelt werden müssen – umfassen die globale Versorgungskette und entsprechende Logistik, den Zugang zu Technologien, verstärkte Forschung und Entwicklung, das Gesundheitspersonal, die Einbeziehung der Bevölkerung, den einheitlichen Gesundheitsansatz (One Health) und Gesundheitskompetenz.

Im vergangenen Jahr hat das INB beeindruckende Fortschritte erzielt, u. a. durch die Vereinbarung, dass das neue Instrument rechtsverbindlich sein, aber auch nicht rechtsverbindliche Element umfassen sollte. Auf Grundlage der bisherigen umfassenden Konsultationen wurde in der vergangenen Woche ein konzeptioneller Vorentwurf vorgelegt, und es wird davon ausgegangen, dass dieser konzeptionelle Entwurf bis Ende Februar in einen tatsächlichen Vorentwurf ausgearbeitet werden kann. Ein entsprechender Vorschlag soll im Jahr 2024 der Weltgesundheitsversammlung vorgelegt werden.

Diese globalen Prozesse unter Federführung der Mitgliedstaaten erfordern zu Recht umfassende Konsultationen und entsprechende Konsensbildung. Dies braucht Zeit und erfordert zusätzliche Anstrengungen, um sicherzustellen, dass alle Länder dabei eine aktive Rolle einnehmen.

Das bringt mich zu den Maßnahmen, die wir in allen 53 Ländern in der Europäischen Region der WHO – die sowohl ganz Europa als auch Zentralasien umfasst – ergreifen, um die Gesundheitssicherheit zu stärken. Wir verfolgen den Ansatz, eine maßgebliche Rolle bei der Vorantreibung der globalen Zielsetzungen im Bereich der Gesundheitssicherheit zu spielen und gleichzeitig unsere eigenen gesamteuropäischen Pläne voranzubringen. Um unsere Mitgliedstaaten dabei zu unterstützen, sich an den globalen Prozessen zu beteiligen, haben wir ein Sekretariat für die Europäische Region eingerichtet. Dieses soll zudem dazu beitragen, Doppelarbeit zu vermeiden und die Fortschritte zu beschleunigen.

Ich habe schon bei vielen Gelegenheiten über die Paneuropäische Kommission für Gesundheit und nachhaltige Entwicklung unter dem Vorsitz von Prof. Mario Monti gesprochen, die von mir einberufen wurde, um politische Prioritäten vor dem Hintergrund der Pandemie zu überdenken. Auf Wunsch unserer Mitgliedstaaten werden wir nun mehrere ihrer konkreten Empfehlungen umsetzen.

Eine dieser Empfehlungen war die Einrichtung eines Paneuropäischen Netzwerks für Krankheitsbekämpfung. Dieses soll wichtige Kompetenzen und entscheidendes Wissen in der gesamten Region durch kooperative operationelle Forschungsprojekte, einen fachlichen Austausch und Partnerschaftsprogramme teilen, die in einer regelmäßigen Konferenz münden werden.

Unsere Hoffnung ist es, dieses Netzwerk im zweiten Halbjahr 2023 ins Leben zu rufen. Ich danke jenen Mitgliedstaaten, die sich an die WHO gewandt und diese Initiative unterstützt haben – wir zählen auf Ihre Unterstützung sowie auf die Unterstützung der Gesundheitsinstitutionen der EU.

Im Rahmen unserer Anstrengungen zur Umsetzung des Europäischen Arbeitsprogramms werden wir nun darüber hinaus einen Prozess anstoßen, um eine neue Strategie und einen neuen Aktionsplan zur Stärkung der Bereitschaftsplanung für, Reaktion auf und Widerstandsfähigkeit gegenüber gesundheitlichen Notlagen für den Zeitraum 2024–2029 zu gestalten. Wir nennen sie Vorsorge 2.0.

Auf Grundlage der umfangreichen Lehren, die wir aus den aktuellen gesundheitlichen Notlagen gezogen haben, sowie umfassender Konsultationen verfolgt Vorsorge 2.0 das Ziel, eine Europäische Region zu schaffen, die über die erforderlichen Fähigkeiten und gesamteuropäische Netzwerke verfügt, um neu auftretende und sicher weiter entwickelnde gesundheitliche Bedrohungen rasch zu entdecken, zu verifizieren und zu melden und auf wirksame Weise auf durch Gefahren verursachte Notlagen zu reagieren.

Gestützt auf einen gefahren- und ressortübergreifenden einheitlichen Gesundheitsansatz (One Health) wird die Strategie anhand identifizierter Lücken und der Prioritäten der Mitgliedstaaten strukturiert. Hierzu zählen etwa:

  • die Bewältigung der Bedrohung durch antimikrobielle Resistenzen;
  • die Schaffung eines regionsweiten Personalbestands für gesundheitliche Notlagen;
  • die Bekämpfung von Infodemien und Vertrauensbildung in der Bevölkerung; und
  • die Vorantreibung der Arbeit des Paneuropäischen Netzwerks für Krankheitsbekämpfung.

All diese Entwicklungen zeigen, dass die Generaldirektion für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit der Europäischen Kommission und WHO/Europa eine gemeinsame Vision verfolgen, um eine stärkere Architektur zur Wahrung der Gesundheitssicherheit für unsere Bürger zu schaffen, basierend auf den Grundsätzen der Solidarität, Transparenz und Rechenschaftspflicht.

Wir begrüßen Ihre Führungsstärke, um die Gesundheitssicherheit in der EU durch vorgeschlagene Veränderungen bei allen vier Elementen des Rahmens für die Gesundheitssicherheit zu fördern, u. a. durch neue Rechtsvorschriften, aktualisierte Mandate für das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten und die Europäische Arzneimittelagentur sowie die Schaffung einer Europäischen Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (HERA).

Wir begrüßen, dass der neue Rahmen den Wert der IGV und die Rolle der WHO unterstreicht, und wir sind bestrebt, genauer zu untersuchen, inwiefern das Paneuropäische Netzwerk diese Reformen über die Grenzen der EU hinaus vorantreiben könnte.

Wir sind bereit und fest entschlossen, unsere Zusammenarbeit mit Ihnen zu beschleunigen und Ihre Initiativen zu unterstützen. Unsere Instrumente, Methoden und fachliche Kompetenz könnte sich für die Zusammenarbeit auf nationaler Ebene mit den Mitgliedstaaten in der Europäischen Union und der weiter gefassten paneuropäischen Region als wertvoll erweisen, um so zu gewährleisten, dass ihre nationalen Vorsorgepläne und entsprechenden Kapazitäten zwecktauglich sind.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde, in unserer heutigen komplexen Welt können wir nicht wissen, welche gesundheitlichen Bedrohungen uns noch bevorstehen, oder wann sie uns treffen werden und wo sie herkommen. Doch was wir mit absoluter Sicherheit sagen können, ist, dass wir zur wirksamen Bekämpfung dieser Permakrise am gleichen Strang ziehen und die gleiche Richtung verfolgen sowie eine paneuropäische Einheit anstreben müssen und dabei kein Land und keinen Menschen zurücklassen dürfen.