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Forschungsergebnisse der WHO sprechen für einen Ausbau der psychischen Gesundheitsversorgung im Rahmen der primären Gesundheitsversorgung

23 April 2025
Pressemitteilung
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WHO/Europa hat ein neues Grundsatzpapier veröffentlicht, in dem es darum geht, inwiefern die Länder die psychische Gesundheitsversorgung im Rahmen der primären Gesundheitsversorgung zugänglicher und weniger stigmatisierend gestalten können.

Das Papier mit dem Titel „Scaling up mental health services within the primary care approach: lessons from the WHO European Region“ [dt.: Ausbau der psychischen Gesundheitsversorgung im Rahmen der primären Gesundheitsversorgung: Lehren aus der Europäischen Region der WHO] ist das jüngste in einer Reihe, die aktuelle Erkenntnisse zusammenfasst und praktische Wege aufzeigt, wie durch verstärkte Investitionen in die primäre Versorgung und die Anwendung des in der Erklärung von Astana dargelegten breiter angelegten Ansatzes bessere gesundheitliche Resultate erzielt werden können.

Zwischen einem Drittel und der Hälfte aller Menschen, die Angebote der primären Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen, tun dies aufgrund psychischer Beschwerden, was die primäre Gesundheitsversorgung zu einem entscheidenden Ansatzpunkt für den Aufbau von Vertrauen in die Gesundheitssysteme macht. Aufgrund der Art und Weise, wie die psychische Gesundheitsversorgung in vielen Ländern traditionell erbracht wird, bleiben psychische Beschwerden jedoch oft unerkannt. Wenn sie entdeckt werden, können Betroffene umgehend an fachärztliche psychiatrische Dienste überwiesen werden, wo sie oft lange Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. Diese langen Verzögerungen können dazu führen, dass sich ihr Zustand verschlimmert. Darüber hinaus kann die Inanspruchnahme von fachärztlichen Angeboten mit einem Stigma behaftet sein, das die Menschen weiter davon abhält, die benötigte Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Das neue Grundsatzpapier von WHO/Europa stellt wichtige evidenzbasierte Strategien vor, wie die Länder die psychische Gesundheitsversorgung im Rahmen der primären Gesundheitsversorgung ausbauen können. 

Schließung von Lücken beim Zugang

Obwohl in der Europäischen Region der WHO über 125 Mio. Menschen mit einer psychischen Erkrankung leben, erhält nur ein Bruchteil von ihnen die benötigte Versorgung und Unterstützung. Diese Zugangslücken werden u. a. auf einen Mangel an geschulten Fachkräften, unzureichende oder unterfinanzierte Einrichtungen sowie eine weitverbreitete Stigmatisierung und Diskriminierung zurückgeführt, die die Menschen davon abhalten, psychische Versorgungsangebote in Anspruch zu nehmen.

Die psychische Gesundheit wird jedoch ebenso sehr von den Lebensumständen wie von biologischen Faktoren geprägt. Einkommen, Wohnen, Bildung, Arbeit und soziale Kontakte spielen allesamt eine entscheidende Rolle, und Probleme in diesen Lebensbereichen sind oft die Ursache für psychische Probleme. Wenn an diesen sozialen Determinanten nicht angesetzt wird, tragen sie zu einem schlechteren Gesundheitszustand und größeren Ungleichheiten zwischen Bevölkerungsgruppen bei.

Die primäre Gesundheitsversorgung ist gut aufgestellt, um sowohl die Behandlungslücke zu schließen als auch bei vielen sozialen Determinanten zu helfen. Für die meisten ist die primäre Gesundheitsversorgung die erste Anlaufstelle, wo sie Hilfe suchen. Die Menschen neigen dazu, vertrauensvolle, langfristige Beziehungen zu ihren primären Gesundheitsanbietern aufzubauen, die oft Generationen überdauern. Diese Kontinuität kann sensiblere Gespräche ermöglichen und die psychische Gesundheit auf natürliche Weise in die alltägliche Versorgung einbeziehen. An einem beliebigen Tag können Hausärzte beispielsweise einen Termin mit einem jungen Menschen haben, der aufgrund von Angstzuständen nicht schlafen kann, sowie mit einem älteren Menschen, der sich Sorgen macht, dass seine kognitiven Fähigkeiten nachlassen könnten. 

Die primäre Gesundheitsversorgung befindet sich zudem in der Nähe des Wohnorts, des Arbeitsplatzes und des Ortes, an dem sich das Familienleben abspielt, so dass sie gut positioniert ist, Frühwarnzeichen für Krankheiten und stressauslösende Faktoren zu erkennen, kulturell angemessene Unterstützung anzubieten und unterversorgte Bevölkerungsgruppen zu erreichen, die sonst keinen Zugang zu Gesundheitsleistungen hätten. Diese Nähe und dieses Vertrauen machen die primäre Gesundheitsversorgung zudem zu einem natürlichen Knotenpunkt für die Verknüpfung mit Leistungen anderer Sektoren und für die Vermittlung von Einzelpersonen an andere hilfreiche Ressourcen in ihrer Gemeinschaft, wie etwa Sozialdienste oder Schulprogramme. 

Ein umfassenderer Ansatz für die öffentliche Gesundheit

Viele Herausforderungen behindern die wirksame Erbringung von Angeboten der psychischen Gesundheitsversorgung im Rahmen der primären Gesundheitsversorgung, z. B. finanzielle und haushaltspolitische Einschränkungen, begrenzte und überlastete personelle Ressourcen, eine mangelnde Ausbildung der Fachkräfte in der primären Gesundheitsversorgung mit Blick auf die Erbringung von psychischen Gesundheitsleistungen sowie unzureichende Kommunikation und Überweisung zwischen Anbietern der primären Gesundheitsversorgung, Fachärzten und anderen Leistungsangeboten innerhalb der Gemeinschaft. 

Um die Länder bei der Bewältigung dieser Herausforderungen zu unterstützen und den Zugang zur psychischen Gesundheitsversorgung zu erleichtern, hat WHO/Europa Erkenntnisse und gute Beispiele aus der gesamten Region zusammengetragen, wie psychische Gesundheitsleistungen im Rahmen der primären Gesundheitsversorgung effektiver erbracht werden können.

„Die primäre Gesundheitsversorgung ist nicht nur ein Leistungsangebot an vorderster Front“, erklärt Natasha Azzopardi-Muscat, Direktorin der Abteilung Gesundheitspolitik und Gesundheitssysteme der Länder bei WHO/Europa. „Sie ist die Grundlage für einen widerstandsfähigen, chancengleichen und auf den Menschen ausgerichteten Lösungsansatz für die psychische Gesundheit. Sie muss Teil eines umfassenderen Ansatzes für die öffentliche Gesundheit sein, bei dem die Förderung der psychischen Gesundheit und die Prävention psychischer Störungen der Schlüssel zu einem genesungsorientierten System der psychischen Gesundheitsversorgung sind. Deshalb ist dieses Grundsatzpapier so wichtig.“

Vier zentrale Strategien

Im Mittelpunkt des Grundsatzpapiers stehen folgende 4 zentrale Strategien für den Ausbau der psychischen Gesundheitsversorgung im Rahmen der primären Gesundheitsversorgung:
  • Verbesserung der psychischen Gesundheitskompetenz von Beschäftigten in der primären Gesundheitsversorgung: Dies umfasst die Schulung von in der primären Gesundheitsversorgung tätigen Fachkräften in der Erkennung von Frühwarnzeichen für psychische Erkrankungen und der Bereitstellung von Unterstützungsleistungen, wobei sie nur dann an Fachärzte überweisen, wenn dies unbedingt erforderlich ist.
  • Erweiterung der in der primären Gesundheitsversorgung tätigen Teams durch Fachkräfte für psychische Gesundheit: Dies bedeutet, dass spezialisierte Fachkräfte für psychische Gesundheit, wie z. B. klinische Psychologen, in bestehende Teams der primären Gesundheitsversorgung eingebunden werden, um eine umfassendere Versorgung in entsprechenden Einrichtungen zu ermöglichen.
  • Stärkung der Verknüpfungen zwischen Angeboten der primären Gesundheitsversorgung und fachärztlichen Angeboten für psychische Gesundheit: Dies erfordert eine stärkere Verknüpfung der primären Gesundheitsversorgung und der fachärztlichen Versorgung, um Nutzern mehr Optionen und reibungslosere Übergänge entsprechend ihren sich entwickelnden Bedürfnissen zu bieten.
  • Förderung von Koordination und Partnerschaften mit anderen Sektoren: Dies umfasst den Aufbau von Verbindungen zu anderen Leistungsangeboten innerhalb der Gemeinschaft – wie Arbeit, Wohnen und Bildung –, um die sozioökonomischen Faktoren, die psychischen Erkrankungen zugrunde liegen, anzugehen und eine längerfristige Perspektive für die Genesung zu gewährleisten.
Diese miteinander verknüpften Strategien funktionieren am besten, wenn sie gemeinsam umgesetzt und durch Investitionen in die Aus- und Weiterbildung des Personals, bessere Finanzierungsmodelle und politische Maßnahmen unterstützt werden. Das Papier stützt sich sowohl auf die neueste wissenschaftliche Literatur als auch auf reale Beispiele aus Ländern in der gesamten Region, um die Möglichkeiten zu veranschaulichen.

„Die Erkenntnisse sind eindeutig: Eine starke primäre Gesundheitsversorgung führt zu einer früheren Diagnose, besseren Resultaten und weniger Druck auf die Krankenhäuser“, sagt Melitta Jakab, Leiterin des Europäischen Zentrums der WHO für primäre Gesundheitsversorgung in Almaty (Kasachstan).

Sie fügt hinzu: „Dies ist besonders wichtig für Menschen, deren Bedürfnisse oft unerkannt bleiben, wie Mütter mit postnatalen Depressionen, ältere Erwachsene mit frühem kognitivem Abbau oder Menschen, deren psychische Probleme sich als Müdigkeit, Kopfschmerzen oder Schlafstörungen äußern. Wenn die Menschen einen vertrauenswürdigen Hausarzt haben, werden diese Krankheiten erkannt und behandelt, bevor sie eskalieren. Wenn diese Verbindung fehlt, verzögert sich die Versorgung, wird fragmentiert und ist weitaus kostspieliger – sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesundheitssysteme.“

Psychische Gesundheit als Investitionsrendite

Der Ausbau der psychischen Gesundheitsversorgung im Rahmen der primären Gesundheitsversorgung ist eine Möglichkeit, den Zugang zu qualitativ hochwertigeren und umfassenderen Angeboten zu verbessern, und ist Teil einer breiter angelegten Verlagerung hin zur Stärkung der psychischen Gesundheitsversorgung in der Gemeinschaft.

„Die primäre Gesundheitsversorgung ist der beste Ort für eine auf den Menschen ausgerichtete Versorgung“, sagt Ledia Lazëri, Regionalbeauftragte für psychische Gesundheit bei WHO/Europa. „Hier muss die Versorgung auf den ganzen Menschen eingehen – auf Geschlecht, Alter und mehr –, und alle Determinanten für Gesundheit können berücksichtigt werden. Es steht also außer Frage, dass es sinnvoll ist, die psychische Gesundheit in die primäre Gesundheitsversorgung einzubeziehen.“

Diese Fähigkeit der primären Gesundheitsversorgung, sich um den ganzen Menschen innerhalb seiner Gemeinschaft zu kümmern, ist einer der Hauptgründe, warum sie eine so hohe Investitionsrentabilität aufweist. Durch Investitionen in diese Angebote können die Länder ein breites Spektrum an Unterstützung für alle Stufen der psychischen Gesundheit sicherstellen, was zu einer besseren Gesundheit und einem besseren Wohlbefinden der Bevölkerung, einer geringeren Abhängigkeit von teuren fachärztlichen Angeboten und einer höheren wirtschaftlichen Produktivität führt.