WHO
Dr Thieren talking to medical staff on his visit to the Barzilai Medical Centre in Ashkelon.
© Credits

Erschütterung, Trauer und die herausfordernde Aufgabe der Heilung: Israels Gesundheitssystem reagiert auf die Angriffe vom Oktober

23 October 2023
Pressemitteilung
Reading time:

Dr. Michel Thieren, Sonderbeauftragter der WHO in Israel, ist fast zwei Wochen lang durch das Land gereist, um zu beobachten, wie das Gesundheitssystem nach den Angriffen der Hamas vom 7. Oktober reagiert. Hier ist sein Bericht.

Hinweis: Manche Leser könnten den Inhalt dieses Artikels als aufreibend empfinden.

Mehr als zwei Wochen nach den Anschlägen in Israel, bei denen 1400 Menschen starben und über 4600 verletzt wurden, bemüht sich das dortige Gesundheitswesen weiterhin rund um die Uhr, dem enormen Bedarf der Patienten gerecht zu werden. 

Unmittelbar nach den Angriffen vom 7. Oktober bot der WHO-Regionaldirektor für Europa, Dr. Hans Henri P. Kluge, dem israelischen Gesundheitsministerium für die unter seiner Regie durchgeführten Gesundheitsmaßnahmen die Unterstützung der WHO im Rahmen ihres humanitären Auftrags an. Das Ministerium antwortete, dass das Gesundheitssystem derzeit die Situation unter Kontrolle habe, dass es aber nicht zögern werde, um Hilfe zu bitten, wenn sie benötigt werde.

Bislang wurden im Rahmen des Surveillance-Systems der WHO für Angriffe auf das Gesundheitswesen acht Angriffe auf medizinische Einrichtungen in Israel registriert, die insgesamt sieben Todesfälle zur Folge hatten.

Der Sonderbeauftragte der WHO in Israel, Dr. Michel Thieren, hat die gesundheitlichen Maßnahmen in verschiedenen Bereichen überprüft, Krankenhäuser besucht, mit Verletzten und mit Vertriebenen gesprochen, zerstörte und verlassene Städte und Dörfer besucht und die komplizierte, äußerst schwierige Arbeit der Gerichtsmediziner beobachtet, die fast die Hälfte der Toten noch nicht offiziell identifiziert haben. 

Dr. Thieren besuchte unter anderem ein Krankenhaus in der Küstenstadt Aschkelon, in dem viele der Verletzten behandelt werden. 

„Auffallend ist, dass fast alle Menschen, mit denen ich gesprochen habe, die meisten von ihnen mit schweren Schuss-, Splitter- und Brandverletzungen, überhaupt nicht über sich selbst sprechen wollten, sondern über die Menschen, die sie vor ihren Augen hatten sterben sehen“, erzählt Dr. Thieren

„Fast jeder dieser Überlebenden hatte den Tod eines anderen gesehen, bevor er selbst verletzt wurde. Davon werden sie alle verfolgt. Das beherrscht ihre Gedanken. So viele Menschen benötigen dringend psychologische Betreuung.“

Zusätzlich zu den Toten und Verletzten befinden sich noch über 200 israelische Geiseln in Gefangenschaft, darunter Frauen, Kinder und ältere Menschen, von denen Berichten zufolge viele an Vorerkrankungen leiden, die eine kontinuierliche Versorgung erfordern. Die WHO und ihre Partner bei den Vereinten Nationen haben wiederholt ihre sofortige und bedingungslose Freilassung gefordert. 

„Die Tatsache, dass so viele Israelis immer noch von der Hamas als Geiseln gehalten werden, bedeutet, dass es für die breite Öffentlichkeit keine Möglichkeit gibt, den Heilungsprozess einzuleiten“, sagt Dr. Thieren, der mit Angehörigen vieler entführter Israelis gesprochen hat. 

„Sie denken den ganzen Tag nur daran. Das hat die kollektive psychische Belastung, die landesweit zu beobachten ist, noch verstärkt und einen akuten Bedarf an psychosozialen Leistungen ausgelöst.“ 

Dr. Thieren erzählt, er habe mit mehreren Ärzten und Pflegekräften gesprochen, die Verletzte behandeln, und sie hätten berichtet, dass auch ihre psychische Gesundheit durch die Geschichten der Überlebenden und ihre Verletzungen beeinträchtigt sei.

„Soweit ich sehen kann, scheinen sich psychische Probleme in der Bevölkerung des Landes rasch zu verbreiten. Das menschliche Leid ist immens. Die Menschen fühlen sich einfach nicht mehr sicher, und das ist gegenüber der jüngeren Vergangenheit eine abrupte Veränderung.“

Dr. Thieren besuchte auch mehrere Militärbasen, in denen die Leichen zahlreicher Opfer der Angriffe in Kühl-Containern aufbewahrt werden.

„Ärzte und Gerichtsmediziner arbeiten noch immer an der Identifizierung der Leichen. Sie sind in Plastiksäcke eingewickelt. Natürlich gibt es erwachsene Leichen und Kinderleichen, aber die große Mehrheit der Säcke ist unförmig. Obwohl Israel über einige der besten Gerichtsmediziner der Welt verfügt, konnten bisher nur 700 Leichen – knapp die Hälfte der 1400 Opfer – eindeutig identifiziert werden. „Das hat natürlich ungeheure Auswirkungen auf diejenigen, die diese notwendige Arbeit leisten“, erklärte er.

„Ich habe Geisterstädte im Süden besucht, deren Bevölkerung evakuiert worden war. Da ist immer noch der fürchterliche Gestank des Todes. Ich habe so vielen Menschen zugehört, die ihre Geschichten erzählt haben. Überlebende, Verletzte, Psychiater, Ärzte, Ersthelfer und Soldaten – sie alle haben Entsetzliches zu erzählen. Der Schatten der nationalen Erschütterung und Trauer hat dieses Land in Finsternis getaucht. Wenn die psychische Gesundheit leidet, leidet auch die körperliche Gesundheit.“

In seiner Funktion als Sonderbeauftragter der WHO traf Dr. Thieren auch mit einer Reihe öffentlicher und offizieller Persönlichkeiten zusammen, um deren Ansichten zu den aktuellen gesundheitlichen Erfordernissen zu erfahren und die Solidarität der WHO mit allen Zivilisten und Gesundheitsfachkräften zum Ausdruck zu bringen. 

Konflikte und psychische Gesundheit

Aus einer 2022 veröffentlichten Übersichtsarbeit der WHO über 129 Studien aus 39 Ländern geht hervor, dass von den Menschen, die in den letzten zehn Jahren einen Krieg oder einen anderen Konflikt erlebt haben, etwa jeder Fünfte (22 %) an Depressionen, Angstzuständen, posttraumatischen Belastungsstörungen, bipolaren Störungen oder Schizophrenie leidet.

„Die traurige Wahrheit ist, dass in jedem Konflikt die Zivilbevölkerung und die humanitären Helfer die Hauptleidtragenden sind“, stellte Dr. Gerald Rockenschaub, Direktor für gesundheitliche Notlagen bei WHO/Europa, fest. 

„Angesichts einer Reihe von Konflikten in der Europäischen Region der WHO und weltweit betont die WHO, dass Zivilisten und Gesundheitspersonal niemals zum Ziel werden dürfen, egal wo. Gewalt, Todesfälle, Verletzungen, Vertreibung – dies alles hat erhebliche langfristige Herausforderungen zur Folge, die von den Gesundheitssystemen nur schwer hinreichend zu bewältigen sind.“

Dr. Rockenschaub fügte hinzu: „Nur durch ein Ende der anhaltenden Gewalt – und die sofortige Freilassung aller Geiseln – kann das Leid der betroffenen Menschen gelindert werden.“

Leitlinien der WHO für die psychische Gesundheitsversorgung während Notlagen 

Die Leitlinien der WHO für die Erfüllung der psychischen Gesundheitsbedürfnisse während Notlagen auf verschiedenen Ebenen, von der Grundversorgung bis zur klinischen Versorgung, umfassen folgende Aussagen:
  • Psychologische Erste Hilfe für Menschen in akuter Not sollte von Kräften vor Ort geleistet werden, d. h. von Gesundheitspersonal, Pädagogen und geschulten Freiwilligen.
  • Die klinische Grundversorgung für vorrangige psychische Gesundheitsprobleme wie Depressionen, psychotische Störungen und Epilepsie sollte in jeder Gesundheitseinrichtung von dafür geschultem und angemessen beaufsichtigtem allgemeinem medizinischem Personal erledigt werden.  
  • Psychologische Interventionen, wie problemlösende, interpersonelle Gruppentherapie und Interventionen anhand der Grundsätze der kognitiven Verhaltenstherapie für unter anhaltender Belastung leidende Menschen sollten durch entsprechende Spezialisten angeboten werden.
  • Der Schutz und die Förderung der Rechte von Menschen mit schweren psychischen Gesundheitsproblemen und psychosozialen Behinderungen sind während humanitärer Notlagen besonders wichtig. Dazu gehören auch Besuche bei Menschen in psychiatrischen Einrichtungen und Pflegeheimen sowie die Überwachung und Unterstützung dieser Menschen.
  • Zwischen Fachärzten für Psychiatrie, Allgemeinärzten, kommunalem Gesundheitspersonal und anderen Leistungsanbietern wie Schulen, sozialen Diensten und Notfallzentren sollten Verbindungen und Überweisungsmechanismen eingerichtet werden.
  • Die gemeindenahe Selbsthilfe und die soziale Unterstützung müssen gestärkt werden.
Weitere Informationen über psychische Gesundheit während Notlagen finden Sie unter nachstehendem Link.