Die meisten von uns denken selten, wenn überhaupt, über Ertrinken als eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Gesundheit nach. Doch vor Kurzem hat der Untergang der Adriana in den Gewässern zwischen Griechenland und Italien – eines winzigen Fischerboots, überfüllt mit Hunderten von Menschen, die auf ein neues Leben in Europa hofften – dies geändert. Bei dieser Katastrophe ertranken mit einem Mal mehr als 600 Menschen, die sich in ihrer Verzweiflung zusammenkauerten; die meisten Leichen werden nie geborgen werden.
Weitaus häufiger jedoch ertrinken Männer, Frauen und Kinder lautlos und allein unter verschiedensten Umständen: sie springen unbeaufsichtigt in einen nicht eingezäunten Swimmingpool oder geraten am Strand in eine Strömung, aus der sie sich mit Schwimmkenntnissen allein nicht befreien können; oder sie segeln oder paddeln ohne den Schutz einer Schwimmweste oder fallen ins Wasser, während sie allein auf dem Heimweg sind. Es gibt endlos viele Möglichkeiten.
Der 25. Juli ist der Welttag der Ertrinkungsprävention, ein Tag, der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen speziell ausgerufen wurde, um zu verhindern, dass es überhaupt zu Ertrinkungsfällen kommt.
Nach Schätzungen der WHO kommen weltweit jedes Jahr mindestens 236 000 Menschen durch Ertrinken ums Leben. Ich sage „mindestens“, weil diese Zahlen das unbeabsichtigte Ertrinken betreffen. Also werden hier aufgrund der Art der Klassifizierung Ertrinkungsereignisse in Verbindung mit Wassertransport, Umweltkatastrophen, Selbstschädigung oder Übergriffen nicht berücksichtigt. Damit wird die weltweite Häufigkeit von Ertrinkungsunfällen um 30 bis 50 % unterschätzt.
In der Europäischen Region der WHO sterben jedes Jahr schätzungsweise 20 000 Menschen durch Ertrinken. Dies mag wie ein kleiner Bruchteil der weltweiten Gesamtbelastung erscheinen, aber es ist immer noch die zweithäufigste Todesursache bei Kindern zwischen 5 und 14 Jahren.
Die Häufigkeit von Ertrinkungsunfällen ist auch äußerst ungleich verteilt, denn die Mortalitätsraten in den 53 Ländern der Europäischen Region variieren um das 20-fache, wobei die östlichen Länder im Allgemeinen die höchsten Raten aufweisen.
Für ein besseres Verständnis des Ausmaßes der Herausforderung und der vielfältigen Einflussfaktoren kommt es entscheidend auf präzise Daten an.
So ist beispielsweise die tatsächliche Häufigkeit von Ertrinken im Vereinigten Königreich, bei der alle Ursachen berücksichtigt werden, um 165 % höher als der von der WHO geschätzte begrenzte Umfang. Dabei geben Todesfälle durch Ertrinken aufgrund vorsätzlicher Selbstschädigung Anlass zu besonderer Besorgnis und werden zunehmend als Krise mit vorrangigem landesweitem Handlungsbedarf angesehen.
Auch die Epidemiologie des Ertrinkens in der Europäischen Region der WHO unterscheidet sich deutlich vom Rest der Welt. So ist hier die Mortalität aufgrund von Ertrinken bei Männern in der Altersgruppe von 30 bis 49 Jahre höher als in allen anderen fünf Regionen der WHO. Dies spiegelt die Tatsache wider, dass diese Fälle von Ertrinken sich eher in Verbindung mit Freizeitaktivitäten im Wasser als mit Katastrophen wie Überschwemmungen ereignen.
Und da die gemeldeten Todesfälle nur die Spitze des Eisbergs bilden, verursacht Ertrinken auch ein breites Spektrum an nicht tödlichen Verletzungen mit erheblichen gesundheitlichen Folgen, die von Atemwegsbeschwerden aufgrund des Einatmens von Wasser bis hin zu hypoxischen Hirnverletzungen mit lebenslangen Folgen reichen.
Darüber hinaus weist Europa von allen WHO-Regionen den höchsten Alkoholkonsum pro Kopf auf. Dieser ist ein wesentlicher Risikofaktor bei Gewalt und Unfällen jeglicher Art. Alkohol wird mit 26 % aller Ertrinkungstodesfälle in der Europäischen Region in Verbindung gebracht, wobei die Spanne in den einzelnen Ländern der Region von 3 bis über 55 % reicht.
Nicht zuletzt haben wir es, wie die jüngste Tragödie im Mittelmeer verdeutlicht, mit der Migrationskrise und ihrer Verbindung zum Ertrinken zu tun.
Laut dem von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) durchgeführten Projekt für vermisste Migranten sind seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2014 rund 34 000 Menschen während der Migration ertrunken. Das sind 60 % aller erfassten migrationsbedingten Todesfälle, und davon ereigneten sich fast vier Fünftel (76%) im Mittelmeerraum und im Ärmelkanal, die beide zur Europäischen Region der WHO gehören.
Es gibt Anzeichen dafür, dass die Problematik des Ertrinkens stärker in den Mittelpunkt der Gesundheits- und Sicherheitspolitik gerückt ist.
Im Mai 2023 verabschiedete die Weltgesundheitsversammlung nach dem Vorbild der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 2021 eine wegweisende Resolution zur Prävention des Ertrinkens, die von 72 Ländern, darunter 42 der 53 Länder der Europäischen Region, eingebracht wurde.
Für die Unterstützung für diese Resolution sowie für das Thema Ertrinkungsprävention allgemein sind wir sehr dankbar. Die größere Frage ist jedoch, was diese Resolution in der Realität für so unterschiedliche Länder wie Irland, eine Insel mit über 3000 km Küste, und Turkmenistan, wo 70 % des Landes aus Wüste bestehen, bedeutet. Wie werden die Mitgliedstaaten der WHO konkrete Maßnahmen zu einem Thema ergreifen, das weitaus mehr Aufmerksamkeit erfordert, als bisher erkannt wird?
Die evidenzbasierten Empfehlungen und Leitlinien der WHO zur Ertrinkungsprävention, die 2014 im Globalen Bericht zur Ertrinkungsprävention veröffentlicht wurden, werden weiter umgesetzt, wobei mittlerweile konkret die Risiken und Interventionen untersucht werden, die in der Europäischen Region für Ertrinken besonders relevant sind. Im kommenden Jahr wird die WHO den Globalen Sachstandsbericht zur Ertrinkungsprävention veröffentlichen, in dem erstmals die Häufigkeit von Ertrinkungsunfällen in allen Mitgliedstaaten sowie die Präventions- und Bekämpfungsmaßnahmen der Länder dokumentiert werden. Auf der Grundlage dieser neuen Informationen wird die WHO politische und praktische Optionen ausarbeiten, um den Ländern noch weiterreichende Maßnahmen zu ermöglichen.
In Zukunft sollten wir dafür sorgen, dass unser kollektives Augenmerk auf dem Ertrinken nicht mehr auf der jeweils jüngsten Massenkatastrophe liegt, die nur allzu kurz die Schlagzeilen beherrscht, sondern darauf, wie der Verlust jedes einzelnen Menschenlebens durch Ertrinken – unabhängig von den Umständen – hätte verhindert werden können.
Diese Zahl wurde am 27. Juli 2023 korrigiert, da WHO/Europa statt 145 % fälschlicherweise 165 % angegeben hatte.