Von Infodemien spricht man, wenn zu viele Informationen, einschließlich falscher oder irreführender Informationen, in digitalen und physischen Umgebungen zur Verfügung stehen. Dies kann ein großes Gesundheitsrisiko darstellen, das sich in Notlagen oft noch verschärft. Anlässlich der Veröffentlichung eines neuen Instrumentariums erläutert Cristiana Salvi, Regionalbeauftragte für Risikokommunikation, Bürgerbeteiligung und Infodemie-Management bei WHO/Europa, wie wichtig es ist, sich mit gefährlichen Gesundheitsnarrativen auseinanderzusetzen.
Was ist Infodemie-Management?
Gesundheitliche Notlagen wurden seit jeher von Infodemien begleitet, d. h. einem Übermaß an wahren und falschen Informationen, das es den Menschen schwer macht, zuverlässige Orientierungshilfen zu finden und geeignete Maßnahmen zum Schutz ihrer Gesundheit zu ergreifen. Auch wenn dies kein neues Phänomen ist, hat die Covid-19-Pandemie Bedingungen geschaffen, die einem „perfekten Sturm“ ähneln, in dem sich Infodemien leicht ausbreiten können.
Um dem entgegenzuwirken, hat die WHO das Konzept des Infodemie-Managements entwickelt, das eine systematische Methode zur Vorbereitung auf sowie zur Bewältigung und Entschärfung der Gefahren von Falschinformationen sowie von Informationsüberlastung oder -lücken in gesundheitlichen Notlagen darstellt. Beim Infodemie-Management geht es darum, sicherzustellen, dass jeder genaue, zeitnahe und zuverlässige Informationen finden und nutzen kann, um seine Gesundheit und die Gesundheit seiner Mitmenschen zu schützen.
Warum ist es so wichtig, in Notlagen gegen Falschinformationen vorzugehen?
In jeglicher Art von Notlagen – sei es beim Auftreten von Infektionskrankheiten, einer Naturkatastrophe oder einem militärischen Konflikt – sind die Menschen mit großer Unsicherheit und Angst konfrontiert. In solchen Fällen brauchen sie zeitnahe, genaue und konsistente Informationen und Ratschläge, um die Situation zu verstehen und fundierte Entscheidungen bezüglich ihrer Gesundheitsrisiken und der notwendigen Maßnahmen treffen zu können. Wenn Verwirrung herrscht, wenn es keine Klarheit gibt, wenn es keine verlässlichen Informationsquellen gibt, verstärkt das die Angst und die Unsicherheit und ebnet den Weg für die Verbreitung von Falschinformationen.
In einem kürzlich erschienenen Bericht des Weltwirtschaftsforums wird darauf hingewiesen, dass manipulierte und falsche Informationen die dringendste kurzfristige Gefahr für die Welt darstellen. Falschinformationen können in unserer Gesellschaft zu Tod, Misstrauen und Spaltung führen. Dies hat die COVID-19-Pandemie deutlich gezeigt. So schätzte eine Studie, dass etwa 17 000 Menschen nach der Einnahme von Hydroxychloroquin gestorben sein könnten, einem Malariamedikament, das fälschlicherweise als COVID-19-Heilmittel angepriesen wurde.
Zudem wird es durch neue Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) immer leichter, Falschinformationen zu erzeugen und zu verbreiten.
Falsche Informationen wird es in einer freien Gesellschaft zwar immer geben, doch wir können ihren Schaden begrenzen. Wir müssen besser darin werden, genaue und verlässliche Informationen zum richtigen Zeitpunkt und auf die richtige Art und Weise bereitzustellen, Falschinformationen frühzeitig zu erkennen und sie gegebenenfalls zu entlarven und gefährdeten Menschen die Fähigkeit zu vermitteln, zu beurteilen, ob eine Information wahr oder falsch ist.
WHO/Europa hat ein neues operatives Instrumentarium zur Reaktion auf Falschinformationen in gesundheitlichen Notlagen veröffentlicht. Was sind die wichtigsten Schritte, die darin beschrieben werden?
Das Instrumentarium beschreibt fünf zentrale Schritte, die einen strukturierten Ansatz für den Umgang mit Falschinformationen in komplexen und intensiven Situationen wie Notlagen bieten.
Der erste Schritt ist die Signalerfassung, bei der es darum geht, die Gesundheitsnarrative, Fragen, Bedenken und Informationslücken der gefährdeten Zielgruppen zu verstehen. Dies kann durch Online- und Offline-Methoden erfolgen, wie z. B. die Überwachung sozialer Medien, Fokusgruppen und die Einbindung der Bevölkerung.
Der zweite Schritt ist die Signalverifizierung, bei der Fakten überprüft, die Glaubwürdigkeit der Quelle analysiert und die Informationen mit anderen Quellen auf ihre Genauigkeit und Konsistenz verglichen werden.
Der dritte Schritt ist die Risikobewertung, bei der der potenzielle Schaden von Falschinformationen anhand von Faktoren wie Glaubwürdigkeit der Quelle, Verbreitung und Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit bewertet wird.
Der vierte Schritt ist die Gestaltung der Reaktion, bei der ein Kommunikationsplan entwickelt wird, um den falschen Informationen entgegenzuwirken und die Risiken zu beseitigen.
Der letzte Schritt ist die Öffentlichkeitsarbeit, bei der die Schlüsselbotschaften an die Zielgruppen übermittelt werden, um sie zu überzeugen, das gewünschte Gesundheitsverhalten an den Tag zu legen.
Welche bewährten Praktiken können Sie mit Praktikern teilen, die das Instrumentarium nutzen möchten?
Das Instrumentarium bietet den Nutzern eine Vielzahl von Taktiken und systemischen Ansätzen, die ihnen helfen können, mit Falschinformationen umzugehen, und die alle auf bewährten Praktiken aus der Europäischen Region und anderen Teilen der Welt beruhen. Eine besonders wichtige Praxis ist die Verwendung mehrerer Datenquellen, um die kursierenden Falschmeldungen zu verstehen – die Überwachung sozialer Medien allein kann keine genauen Erkenntnisse liefern.
Eine weitere bewährte Praxis ist die Kooperation: Wir haben bei den jüngsten Notlagen auf die harte Tour gelernt, dass Falschinformationen nicht von einer einzigen Instanz allein behandelt werden können. Wissenschaftler, Journalisten, Faktenprüfer und Gemeinschaftsorganisationen müssen ihre Kräfte bündeln, um dieses komplexe und wachsende Problem zu bewältigen. Die Einrichtung von Kooperationsplattformen auf regionsweiter, nationaler und lokaler Ebene ist der Schlüssel zur gegenseitigen Nutzung von Ressourcen und zu entsprechender Reichweite.
Welche drei Schritte würden Sie Gesundheitsbehörden empfehlen, die heute mit Falschinformationen zu kämpfen haben?
Im Grunde genommen gibt es drei wesentliche Maßnahmen: zuhören, verstehen und handeln.
Was das Zuhören angeht, so muss man die Risiken und den Kontext kennen, bevor man handelt. Das bedeutet, dass man zuverlässige und aktuelle Online- und Offline-Datenquellen nutzen muss. Dies ist die Grundlage jeglicher Risikokommunikation, Bürgerbeteiligung und Maßnahme zur Bewältigung von Infodemien in einer Notlage.
Verstehen bedeutet, dass man die Signale prüft und die Risiken bewertet. Das können weder Computer noch künstliche Intelligenz für einen übernehmen. Man muss Gespräche und Narrative verfolgen und sein Urteilsvermögen einsetzen, um zu entscheiden, ob und wie man eingreifen sollte.
Um die Akzeptanz und Inanspruchnahme von Schutzmaßnahmen zu erhöhen, ist es wichtig, die Gemeinschaften einzubeziehen, um falsche Informationen durch maßgeschneiderte, angemessene und die jeweilige Kultur respektierende Botschaften zu entlarven.
All diese Aktivitäten erfordern beträchtliche Ressourcen, und die politischen Entscheidungsträger sollten Infodemie-Management als eine Investition betrachten, die nicht nur in Notlagen hilft, sondern auch darüber hinaus, denn Falschinformationen im Gesundheitsbereich sind ein Problem, das nicht einfach verschwinden wird.
Wie kann die WHO Regierungen und maßgeblichen Akteuren in der Europäischen Region helfen?
Die Pandemie hat das Infodemie-Management ganz oben auf die Tagesordnung der Regierungen gerückt, und Forderungen nach Unterstützung und Kapazitätsaufbau sind in den letzten zwei Jahren in die Höhe geschnellt. Um diesem Bedarf gerecht zu werden, haben wir im Rahmen unseres Programms für gesundheitliche Notlagen von WHO/Europa eine Funktion für Infodemie-Management eingerichtet, die vollständig in die Risikokommunikation und die Bürgerbeteiligung eingebunden ist, um Vertrauen aufzubauen und Einzelpersonen wie auch Gemeinschaften in die Lage zu versetzen, fundierte Entscheidungen zum Schutz ihrer Gesundheit zu treffen.
Den maßgeblichen Akteuren in der Europäischen Region stehen verschiedene Formen der Unterstützung zur Verfügung. Hierzu zählen Leitfäden, Tools und Ressourcen – wie etwa dieses Instrumentarium – für den Umgang mit Falschinformationen; fachliche Hilfe bei der Einrichtung von Systemen für Social Listening; Kapazitätsaufbau zur Stärkung der Kompetenzen von Regierungsbeamten, Partnern und Akteuren in der Gemeinschaft; Forschung zur Förderung des Verständnisses und der Nutzung von KI; Plattformen zur Erleichterung der operativen Kooperation beim Infodemie-Management; und schließlich die Gewinnung von Evidenz und bewährten Verfahren als Grundlage für Politik und Praxis.
Dieser Artikel wurde am 9. September 2024 aktualisiert, um Verweise auf eine Studie, die ursprünglich in der fachlich begutachteten Fachzeitschrift Biomedicine & Pharmacotherapy veröffentlicht und in der Zwischenzeit zurückgezogen wurde, zu streichen.
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