WHO/Elie Gardner
Erasmus MC CO-FLOW long COVID study
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„Es ist Zeit zu handeln. Wir haben noch viel Arbeit vor uns“: Wissenschaftler in den Niederlanden arbeiten gemeinsam mit Patienten an der Lösung des Rätsels um Long COVID

26 January 2023
Pressemitteilung
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Als COVID-19 vor fast drei Jahren die Niederlande erreichte, arbeitete Dr. Merel Hellemons als Fachärztin für Atemwegserkrankungen. Aus Sorge um die langfristigen Folgen einer Lungenschädigung bei ihren stationären Patienten richteten sie und ihre Kollegen am Medizinischen Zentrum der Erasmus-Universität in Rotterdam eine Klinik für Post-COVID-19-Erkrankungen ein, um die Genesung von 650 Patienten, die während der ersten und zweiten COVID-Welle im Jahr 2020 ins Krankenhaus eingeliefert wurden, zu verfolgen.

Was sie sahen, überraschte sie.

„Eines der Dinge, die wir frühzeitig bei diesen Patienten feststellten, war, dass sie eine Lungenschädigung aufwiesen, dass diese jedoch in den meisten Fällen abheilte, und dass nur bei einem Bruchteil der Patienten eine schwere Lungenschädigung zu verzeichnen war“, bemerkte Dr. Hellemons. „Es zeigte sich jedoch, dass viele Patienten nicht in der Lage waren, zur Arbeit zurückzukehren, und eine Vielzahl seltsamer Symptome aufwiesen, wie etwa kognitive Probleme und Gedächtnisverlust.“

Schon bald erhielt die Klinik Anrufe von Allgemeinärzten, die von Patienten erzählten, die nicht krank genug gewesen waren, um eine Behandlung im Krankenhaus zu erfordern, die aber dennoch an einer Reihe von ähnlichen Symptomen litten.

„Rückblickend war es ein Irrtum, diese Gruppe nicht in den ursprünglichen Studienplan mit einzubeziehen. Wir hätten nie gedacht, dass Patienten, die ursprünglich einen milderen Krankheitsverlauf von COVID-19 durchliefen, ebenfalls mit Restbeschwerden zu kämpfen haben würden.“

Mittlerweile wurden diese Patienten ebenfalls in ein Forschungsprogramm einbezogen, dessen Ziel es ist, das Post-COVID-Syndrom – das komplexe Syndrom, das mittlerweile allgemein unter dem Namen „Long COVID“ bekannt ist – besser zu verstehen und praktikable Behandlungen zu finden.

Die Komplexität von Long COVID verstehen

Basierend auf der Grundlagenforschung zur myalgischen Enzephalomyelitis/zum chronischen Erschöpfungssyndrom (ME/CFS) – einer ernsthaften langwierigen Erkrankung, die eine Vielzahl von Körpersystemen betrifft) stellte das Erasmus-Team die Hypothese auf, dass langanhaltende Symptome nach einer COVID-19-Erkrankung auf durch die Virusinfektion ausgelöste Störungen des Immunsystems zurückgeführt werden könnten. Um diese Hypothese zu prüfen, verglichen sie die Veränderungen im Immunsystem von Studienteilnehmern, die eine COVID-19-Infektion durchlaufen hatten und sechs Monate nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus noch immer unter andauernder Müdigkeit litten, mit jenen, die nicht unter dieser andauernden Müdigkeit litten. Dabei traten einige interessante Unterschiede zutage, die nun vom Forschungsteam genauer untersucht werden.

„Wir stellten eine große Vielzahl von Immunauffälligkeiten fest, und zwar mit unterschiedlichen Immunprofilen bei unterschiedlichen Patienten. Es gibt unterschiedliche Arten von Immunstörungen. Was wir bisher jedoch noch nicht ermitteln können ist, inwiefern diese Befunde im Immunsystem mit den Symptomen zusammenhängen. Was wir jedoch sehen, sind mögliche Ansatzpunkte für eine Therapie, und dass eine solche auf die Patienten zugeschnitten werden sollte.“

Das Erasmus-Team hat Messungen der körperlichen Funktionen vorgenommen, wie etwa die Gehfähigkeit und die Griffstärke in den Händen, die mit der Zeit Hinweise auf Verbesserungen bei der körperlichen Genesung eines Patienten liefern und dazu beitragen könnten, Patienten zu identifizieren, die eine Rehabilitation benötigen. Kognitive Messungen und Untersuchungen im Hinblick auf die Lebensqualität, die Wiederaufnahme ihrer Arbeit, Stress, Depressionen und Symptome von Angstzuständen wiederum offenbaren erhebliche langfristige Folgen.

Darüber hinaus koordiniert das Erasmus-Team die CO-FLOW-Studie, an der Patienten aus acht anderen regionalen Krankenhäusern und Rehabilitationszentren aus den gesamten Niederlanden teilnehmen. Aufgrund der hohen Prävalenz dieser Restbeschwerden unter den 650 an der Studie beteiligten Personen plant das Team, seine Forschungen auszuweiten und zu verlängern, um die längerfristigen Folgen besser zu verstehen.

Angelique Hasselbaink ist eine der Studienteilnehmer. Sie wurde mit COVID-19 ins Krankenhaus eingeliefert und ist seitdem viermal ins Zentrum zurückgekehrt, um an Tests teilzunehmen. Wie die meisten Patienten möchte sie dazu beitragen, das Verständnis rund um Long COVID zu verbessern. „Das Gesundheitspersonal im Krankenhaus war wirklich für mich da. Deshalb ist es meiner Ansicht nach meine Pflicht, der Öffentlichkeit jetzt etwas zurückzugeben. Und zu helfen.“

Eine weitere Patientin ist Justine Pelmelay, eine Sängerin, die in der Vergangenheit beim Eurovision Song Contest für die Niederlande angetreten ist. Sie wurde 2020 mit COVID-19 ins Krankenhaus eingeliefert und hatte daraufhin mit schwerwiegenden Folgen für ihre Gesundheit zu kämpfen: „Das erste Mal, das ich nach COVID wieder auf der Bühne stand, musste ich heulen, weil es mir so schlecht ging.“ Ihre Motivation, an der Studie teilzunehmen, bestand auch darin, anderen zu helfen, damit sie nicht dasselbe durchmachen müssen wie sie.

Ein patientenorientierter Ansatz

Dr. Hellemons ist sich bewusst, dass es für Patienten, die nach wie vor unter Symptomen leiden, ein vordringliches Ziel ist, Behandlungsansätze zu finden, und dass viele frustriert sind vom Warten auf ein volles Verständnis der Krankheit. Aus diesem Grund schlägt sie vor, dringend progressive Behandlungsformen zu erforschen.

„Wir als Ärzte sind nicht besonders risikofreudig. Statt dass Patienten auf private Initiative unerprobte Ansätze ausprobieren, setzen wir lieber auf sichere Behandlungsmethoden, von denen wir wirklich etwas lernen können, die unter kontrollierten Bedingungen, mit informierter Einwilligung und unter Mitgestaltung der Patienten durchgeführt werden. Keine zwei Long-COVID-Patienten sind gleich. Aufgrund der Vielzahl an Symptomen und der Unterschiede bei den Störungen des Immunsystems muss jeder Patient unterschiedlich behandelt werden – darauf werden wir uns als nächstes konzentrieren. Wir planen, eine klinische Studie einzurichten, bei der wir Immunprofile von Patienten erstellen, auf deren Grundlage wir pragmatische Behandlungsansätze vorschlagen. Es gibt einige Medikamente, von denen wir bereits wissen, dass sie gut bei anderen Krankheiten anschlagen, die sicher sind und nur wenige Nebenwirkungen aufweisen, und gleichzeitig bezahlbar sind.“

Darüber hinaus hofft das Team, mit dem Patientenverband Long COVID Europe zusammenzuarbeiten, einer Partnerorganisation von WHO/Europa.

„Sie, die Patienten, sind die Experten. Sie arbeiten eng zusammen und tauschen sich regelmäßig aus. Wir können viel von ihnen lernen“, erklärt Dr. Hellemons.

Trotz der hohen Prävalenz von Long COVID in Europa glaubt Dr. Hellemons, dass die Krankheit bisher noch immer meist unerkannt bleibt und viele Leidtragende mit unerfüllten Bedürfnissen kämpfen. Zudem verweist sie auf weitverbreitete falsche Vorstellungen über Behandlungsansätze, wie etwa der Irrglaube, dass sich die Krankheit durch Sport heilen lässt oder dass die Symptome allein auf psychologische Faktoren zurückzuführen sind.

Die Rolle von Allgemeinärzten

Um falsche Vorstellungen über Long COVID zu zerstreuen, bieten Dr. Hellemons und ihr Team Vorlesungen und Workshops für Allgemeinärzte im ganzen Land an, sowohl persönlich als auch online, und liefern diesen neue Erkenntnisse, wie sie ihre Patienten besser unterstützen können. Im Gegenzug erfahren sie so von den Ärzten mehr über erfolgreiche Behandlungsstrategien für Long COVID.

„Wir beziehen Allgemeinärzte in unser Projekt mit ein, um zu bestimmen, welche Patienten von welchem Fachgebiet behandelt werden sollten. Denn man muss die Last gleichmäßig verteilen und über den richtigen Behandlungsansatz verfügen; gleichzeitig muss man zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Es gibt Patienten, die von einem Internisten oder einem Lungenfacharzt behandelt werden müssen, andere müssen vielleicht zu einem Physiotherapeuten gehen.“

Auch wenn ein „Heilmittel“ für Long COVID noch in weiter Ferne zu sein scheint, ist Dr. Hellemons doch optimistisch, dass die vom Medizinischen Zentrum der Erasmus-Universität durchgeführte Forschungsarbeit dazu beitragen wird, zumindest für einige Patienten erfolgreiche Behandlungsansätze zu finden.

Die Entschlossenheit des Erasmus-Teams, im Leben der von dieser noch wenig erforschten Krankheit Betroffenen etwas zum Positiven zu bewirken, wird von Dr. Hellemons abschließenden Worten treffend zusammengefasst – Worten, die, wie sie hofft, auch für andere in der Europäischen Region und weltweit als Auslöser dienen werden:

„Es ist Zeit zu handeln. Wir haben noch viel Arbeit vor uns.“

WHO/Europa und das Post-COVID-Syndrom (Long COVID)

WHO/Europa ist weiterhin entschlossen, mehr über die mittel- und langfristigen Resultate für Menschen mit dem Post-COVID-Syndrom zu erfahren, und hat dafür in Kooperation mit Long COVID Europe drei Ziele entwickelt, anhand derer sie gemeinsam Regierungen und Gesundheitsbehörden auffordern, dieser Krankheit und den von ihr Betroffenen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, und zwar durch:

- mehr Anerkennung und einen besseren Wissensaustausch;

- mehr Forschung und bessere Berichterstattung; sowie

- bessere Rehabilitation.