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Die überwältigenden Argumente für ein Ende der Stigmatisierung und Diskriminierung im Bereich der psychischen Gesundheit

26 June 2024
Pressemitteilung
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Das Leben mit einer psychischen Erkrankung wie Schizophrenie oder Depressionen ist schwierig, aber für viele Menschen, die mit psychischen Erkrankungen leben, sind die negativen Wahrnehmungen und Verhaltensweisen, die sie bei anderen und sich selbst erfahren, noch schlimmer.

„Ich lebe mit Schizophrenie. Es ist erstaunlich, wie die Menschen reagieren, sobald sie nur das Wort hören – sie treten sofort einen Schritt zurück“, sagt Charlene Sunkel, Gründerin des Global Mental Health Peer Network [Globales Gleichgesinnten-Netzwerk für psychische Gesundheit] und Mitvorsitzende der Lancet Commission on Ending Stigma and Discrimination in Mental Health [Lancet Commission für die Beendigung von Stigmatisierung und Diskriminierung im Bereich der psychischen Gesundheit]. „Sie haben Angst vor uns, weil sie die falsche Vorstellung haben, dass wir gefährlich sind, dass wir nicht denken und nicht arbeiten können – dass wir im Grunde nutzlos sind.“

Stigmatisierung ist weit mehr als nur eine negative Einstellung – es ist ebenso wichtig, diskriminierende Verhaltensweisen zu berücksichtigen, weshalb viele es vorziehen, „Stigmatisierung und Diskriminierung“ zusammen aufzuführen.

Sir Graham Thornicroft, Professor für Gemeindepsychiatrie am King’s College London und ein weiterer Mitvorsitzender der Lancet Commission, veranschaulicht dies anhand eines Phänomens, das als „diagnostisches Überschatten“ bekannt ist.

„Stellen wir uns vor, eine Person, die an Depressionen leidet, hat starke Schmerzen im Bauch. Sie geht in eine Notaufnahme. Der Arzt sieht sich die Krankenakte des Patienten an, stellt fest, dass er an Depressionen leidet, und sagt: ,Das ist alles nur Einbildung‘. In diesem Fall handelt es sich in Wirklichkeit um einen Blinddarm, der zu platzen droht, was eine tödliche Komplikation sein könnte.“

Er gibt zu, dass dies ein dramatisches Beispiel ist, doch es macht deutlich, was auf dem Spiel steht: Stigmatisierung kann eine Frage von Leben oder Tod sein.

Stigma ist das größte Hindernis für den Erfolg

Charlene und Graham betraten die Welt der Stigma-Reduzierung mit unterschiedlichen Perspektiven – Graham als Leistungsanbieter, Charlene als Inanspruchnehmerin von Leistungen.

Graham kam durch seine Arbeit als Psychiater und Forscher dazu und erkannte, dass das Problem der Stigmatisierung die Psychiatrie von anderen Bereichen der Medizin unterscheidet. Eine Diagnose kann eine Person weit über ihre Interaktion mit den Gesundheitsdiensten hinaus begleiten, sowohl in Form von negativen Einstellungen oder Vorurteilen („Ich möchte nicht in der Nähe dieser Person sein, sie ist gefährlich“) als auch in Form von Fehlinformationen („Von einer Depression kann man sich nicht erholen“).

Vorurteile und Fehlinformationen wiederum können zu Diskriminierung führen, sowohl auf der zwischenmenschlichen Ebene (öffentliches Stigma) als auch in Gesetzen und Handlungskonzepten (strukturelles Stigma). Stigmatisierung wird auch als Grund dafür genannt, dass psychosoziale Dienste in vielen Ländern weniger Mittel erhalten und als weniger prestigeträchtig angesehen werden als andere Gesundheitsdienste.

Menschen können auch stigmatisierende Überzeugungen verinnerlichen (Selbststigmatisierung), was zu einem geringen Selbstwertgefühl und dem „Warum-versuchen-Syndrom“ führen kann – so nehmen sie etwa nicht an Aktivitäten teil, die für ihren Lebensunterhalt wichtig sind, wie z. B. die Bewerbung an einer Universität, weil sie glauben, dass sie versagen werden.

Charlene kam durch ihre Erfahrungen mit einem Leben mit Schizophrenie in dieses Tätigkeitsfeld. „Mir wurde gesagt, dass ich nie in der Lage sein würde, zu arbeiten. Außerdem war ich ständig in Krankenhäusern und erlebte den Missbrauch im südafrikanischen System. Erst als ich anfing, mit Gleichgesinnten zu sprechen, wurde mir klar, dass die Stigmatisierung wahrscheinlich das größte Hindernis für uns ist, unser Leben zurückzuerobern und erfolgreich zu sein.“

Was sagt die Evidenz?

Graham und Charlene arbeiteten mit 42 anderen Forschern und Menschen mit Lebenserfahrung mit psychischen Erkrankungen zusammen und stellten 2022 die Lancet Commission on Ending Stigma and Discrimination in Mental Health zusammen. Dieser Überblick über 216 systematische Übersichtsarbeiten, durchsetzt mit Gedichten von Menschen, die mit psychischen Erkrankungen leben, fasst die besten verfügbaren Erkenntnisse darüber zusammen, was nötig ist, um Stigmatisierung und Diskriminierung zu verringern.

Stigmatisierung wird oft unter dem Aspekt der psychischen Gesundheitskompetenz umschrieben. Indem man Fehlinformationen über psychische Erkrankungen korrigiert, so die Theorie, baut man Vorurteile ab und verringert die Wahrscheinlichkeit, dass jemand diskriminiert.

Das Problem ist, dass die Korrektur von Wissen nicht unbedingt zu einem Abbau von Vorurteilen führt: „Die Evidenz ist extrem spärlich“, erklärt Graham.

„Sensibilisierungsmaßnahmen reichen nicht aus, um das Problem in den Griff zu bekommen“, fährt er fort.

Der Lancet Commission zufolge lässt sich die Stigmatisierung am besten durch soziale Kontakte abbauen – durch vorurteilsreduzierende Interaktionen zwischen Menschen, die mit psychischen Erkrankungen leben, und Menschen ohne eine solche Erkrankung.

Bei sozialen Kontakten kann es zwar darum gehen, Fehlinformationen zu korrigieren, doch liegt der Schwerpunkt auf der Veränderung von Einstellungen und der Verbesserung von Verhaltensweisen. Oft umfasst dies, dass jemand seine Erfahrungen mit dem Leben mit einer psychischen Erkrankung teilt und dabei freimütige Beschreibungen des vergangenen Leids mit klaren Demonstrationen der Genesung und der Widerstandsfähigkeit verbindet.

Dies muss nicht einmal persönlich geschehen – es gibt immer mehr Belege dafür, dass virtuelle Kontakte ebenso wirksam sein können, einschließlich positiver und genauer Darstellungen von Menschen mit psychischen Erkrankungen in Filmen.

„Soziale Kontakte können es der Zielgruppe ermöglichen, der Person mit einer psychischen Erkrankung mehr Handlungsmacht einzuräumen und ihr mehr Empathie entgegenzubringen“, sagt Graham.

Menschen, die mit psychischen Erkrankungen leben und in sozialem Kontakt geschult sind, werden oft als „Experten aus Erfahrung“ bezeichnet. Es ist wichtig, dass diese Experten auch Anti-Stigma-Initiativen leiten, da sie diese Initiativen besser auf den jeweiligen Kontext zuschneiden und letztlich effektiver gestalten können. Soziale Kontakte erzielen in der Regel eine größere Wirkung beim Abbau von Vorurteilen, wenn die teilnehmende Person einen relativ gleichen Status wie das Publikum hat.

„Wir haben aufgrund unserer Erfahrungen so viel Wertvolles beizutragen“, sagt Charlene. „So etwas kann man nicht studieren. Wir bringen den Wert praktischer Lösungen mit.“

Was wird also unternommen?

Die Lancet Commission gibt acht Empfehlungen für verschiedene Interessengruppen, darunter auch die WHO, in Bezug darauf, was getan werden muss, um Stigmatisierung und Diskriminierung zu verringern. Sowohl Graham als auch Charlene waren an der Umsetzung dieser Empfehlungen beteiligt.

Charlene hat sich zusammen mit der von ihr 2018 gegründeten Organisation Global Mental Health Peer Network die Empfehlung 8 zu eigen gemacht – die Entwicklung finanzierter Programme für Menschen mit Lebenserfahrung. Das Global Mental Health Peer Network will Menschen, die mit psychischen Erkrankungen leben, dazu befähigen, die Stigmatisierung in ihren Gemeinschaften und Ländern abzubauen, indem es ihnen eine Gemeinschaft Gleichgesinnter und Schulungsmöglichkeiten bietet.

Charlene sagt: „Wenn es eine Lösung gibt, um die Stigmatisierung zu überwinden, dann ist es die Einbeziehung von Menschen mit psychischen Erkrankungen in alle Bereiche – in den Arbeitsmarkt, in die Bildung, in die Gemeinschaften. Indem wir Menschen einbeziehen, können andere sehen, dass es sich um einen anderen Menschen handelt, der Würde und Menschenrechte verdient.“

Graham und andere Forscher des King’s College London haben sich mit WHO/Europa und Mitgliedern des Global Mental Health Peer Network zusammengetan, um die Empfehlung 2 zu erfüllen – die Entwicklung eines Toolkits zum Abbau von Stigmatisierung und Diskriminierung im Bereich der psychischen Gesundheit.

Das Toolkit mit Namen „MOSAIC-Toolkit der WHO zur Beendigung von Stigmatisierung und Diskriminierung im Bereich der psychischen Gesundheit“ enthält praktische, schrittweise Anleitungen für die Einrichtung von Anti-Stigma-Initiativen, die auf den Grundsätzen des sozialen Kontakts, der gemeinsamen Führung durch Menschen mit Lebenserfahrung und der sinnvollen Kooperation beruhen. Es soll sowohl für Einzelpersonen als auch für Gruppen und Organisationen von Nutzen sein.

Das Toolkit durchläuft derzeit eine Experten-Konsultation und wurde zuletzt den Teilnehmern des „Workshops über Führungskompetenz und die Umgestaltung von Leistungen im Bereich der psychischen Gesundheit“ vorgestellt, der am 22. und 23. Mai 2024 in Brüssel abgehalten wurde.

Das Toolkit wird am 10. Oktober 2024, dem Welttag der psychischen Gesundheit, eingeführt.