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Wahrnehmung der Affenpocken in der gefährdetsten Gruppe: Männer mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten und häufig wechselnden Partnern

26 August 2022
Pressemitteilung
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Seitdem der weltweite Ausbruch der Affenpocken die Europäische Region erreicht hat, wurden die meisten Fälle unter Männern mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten registriert, insbesondere jenen, die häufig wechselnde und oftmals unbekannte Partner haben, also Männer, die in Saunen, Abschleppbars und Sex-Clubs, auf Sex-Parties oder nach Verabredung durch Dating-Apps aufeinandertreffen.

Während sich der Ausbruch in Europa fortsetzt, trägt eine vorurteilsfreie und sachliche Aufklärung über die Ausbreitung des Virus entscheidend dazu bei, die Menschen zur Reduzierung ihrer Risiken zu veranlassen. Dabei gilt es, eine Stigmatisierung und Diskriminierung der betroffenen Bevölkerungsgruppen zu vermeiden; außerdem müssen die am stärksten betroffenen Gruppen – aktuell Männer mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten – in die Gestaltung von Lösungskonzepten für die Unterbindung der weiteren Ausbreitung des Virus einbezogen werden, anstatt sie auszuschließen.

Nun, da der Ausbruch Ende Juli zu einer gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite erklärt wurde, kommt es entscheidend darauf an, eine baldige Beendigung dieses Ausbruchs anzustreben, wie Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, in seiner Erklärung vom 26. Juli zum Ausdruck brachte: „Dementsprechend ist die Verantwortung für die Beendigung dieses Ausbruchs zwangsläufig eine gemeinsame Verantwortung, die von Gesundheitseinrichtungen und Gesundheitsbehörden, Regierungen sowie betroffenen Gemeinschaften und Einzelpersonen gleichermaßen geteilt wird.“   

Vor diesem Hintergrund haben wir fünf Männer, die in diversen Treffs oder über entsprechende Plattformen sexuell mit anderen Männern verkehren, gefragt, wie sie den Ausbruch der Affenpocken sehen und wie er sich auf ihr Leben auswirkt. 

Vor diesem Hintergrund haben wir fünf Männer, die in diversen Treffs oder über entsprechende Plattformen sexuell mit anderen Männern verkehren, gefragt, wie sie den Ausbruch der Affenpocken sehen und wie er sich auf ihr Leben auswirkt. Alle von ihnen wussten Bescheid über die Affenpocken und die verdächtigen Symptome – Ausschlag und blasenartige Läsionen – und wussten auch, dass bei diesem Ausbruch die Übertragung hauptsächlich durch Haut-zu Haut-Kontakt beim Sex erfolgt. 

Der 52-jährige John aus London erzählt von seiner ersten Reaktion, als er von dem aktuellen Ausbruch erfuhr: „Anfangs machte ich mir keine großen Sorgen, weil ich dachte, man müsse in eines der Länder gereist sein, wo die Krankheit endemisch ist.

Aber als ich dann mehr erfuhr, wurde mir klar, dass das nicht stimmt – und dass sie sich auch unter Personen ausbreitet, die nicht in Afrika waren. Da wurde ich plötzlich hellwach, vor allem als in Europa ein Großteil der Fälle unter schwulen Männern auftraten und die Übertragung durch Sex erfolgte.“

Verhaltensänderungen als Ergebnis steigender Fallzahlen 

Die befragten Männer schilderten, wie die steigenden Fallzahlen sie dazu veranlasst hätten, ihr Sexualverhalten ernsthaft zu überdenken – zumindest solange die Affenpocken weit verbreitet sind. 

Der 34-jährige Alessandro, der im Raum Mailand lebt, sprach ganz offen über seine normalen sexuellen Gewohnheiten: „Ich ging fast an jedem Wochenende in einen Abschleppladen oder eine Sauna und chattete mehrmals am Tag mit Männern auf Grindr [eine Dating-App]. Wegen des Ausbruchs der Affenpocken habe ich seit einem Monat keinen Sex mehr gehabt und war schon lange nicht mehr auf der App.“ 

„Ich finde, im Augenblick sollten alle Männer, die Sex mit vielen anderen Männern haben, verantwortungsbewusster sein, damit die Fallzahlen deutlich zurückgehen. Jeder muss über seine sexuellen Gewohnheiten nachdenken und alles tun, um sich und andere zu schützen.“

Auch Ryan (49), der in Birmingham lebt, will sich von Sex fernhalten, solange das Virus so stark im Umlauf ist. „Zuerst dachte ich, der Ausbruch betrifft mich nicht so, aber seit sich die Fallzahlen erhöht haben, ist das alles doch mehr real und erschreckend und hat mich dazu gebracht, über meine Gewohnheiten nachzudenken. Ich war regelmäßig in diesen Sex-Clubs, aber bei meinem letzten Besuch habe ich bemerkt, dass weniger Leute da waren.
Im Augenblick ist es wohl das Beste, erst mal nicht mehr hinzugehen.“

Der 31-jährige Giacomo aus Brescia in Italien sieht das ähnlich, wenn auch aus sehr persönlichen Gründen: „Zwei meiner Freunde hatten die Affenpocken, ich habe das also mit eigenen Augen gesehen. Ich wohne zuhause, und es wäre schrecklich, wenn meine Eltern entdecken müssten, dass ich es auch habe. Also habe ich erst mal mit Sex-Clubs und überhaupt mit Sex aufgehört.“ 

Realismus, dass es nur vorübergehend ist 

Doch da diese gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite so bald nach all den Beschränkungen und der Schließung von Veranstaltungsorten am Höhepunkt der COVID-19-Pandemie kommt, ist Giacomo – wie viele andere Männer, mit denen wir gesprochen haben – auch ehrlich darüber, wie lange er glaubt, das aufrechterhalten zu können: „Nach zwei Jahren sozialer Einschränkungen wegen COVID-19 wollen wir alle wieder mehr von dem Leben, das wir davor hatten, und die Freiheit, zu Sex-Clubs zu gehen, wenn ich Lust dazu habe, gehört für mich da auf jeden Fall dazu.“

WHO/Europa rät nicht dazu, permanent auf Sex zu verzichten, empfiehlt aber Männern mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten, derzeit ernsthaft über eine Begrenzung der Zahl ihrer Sexualpartner und -kontakte nachzudenken, da sich so eine Infektion mit Affenpocken vermeiden und die Auswirkungen der Krankheit auf Einzelpersonen und Allgemeinheit begrenzen lassen.  

Treffpunkte tragen zur Bekämpfung des Ausbruchs bei 

WHO/Europa empfiehlt nicht die Schließung von Swinger-Clubs. Solche Treffpunkte sollten offengehalten werden und können bei der Bekämpfung des Ausbruchs sogar zu einem Teil der Lösung werden. Denn sie können zur Verbreitung von Botschaften an die gefährdetsten Gruppen beitragen und diese über Risiken, Präventionsstrategien und verfügbare Testangebote aufklären. Viele Clubs nehmen diese wichtige Aufgabe jetzt schon wahr.

„Ich habe in vielen der Clubs, die ich besuche, Informationen gesehen – das ist gut und richtig“, sagt John. „Hoffentlich bringt das die Leute dazu, es sich zweimal zu überlegen, bevor sie losziehen, vor allem wenn sie unerklärte Läsionen oder einen Ausschlag haben.“

Impfung gegen die Affenpocken

Die vier Männer, mit denen wir gesprochen haben, waren gern bereit, sich impfen zu lassen, um besser vor der Krankheit geschützt zu sein. Doch auch wenn inzwischen ein neuer Impfstoff zur Vorbeugung gegen die Affenpocken zugelassen wurde und der traditionelle Impfstoff gegen die Pocken ein hohes Maß an Schutz bieten soll, so sind diese Impfstoffe doch noch nicht in großem Umfang verfügbar. Deshalb bieten viele Länder derzeit noch keine Impfungen für Männer mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten und andere Risikogruppen an.

Ryan hatte Glück: „Ich will mich diese Woche impfen lassen“, erzählte er uns. „Im Augenblick gehe ich nicht in die Saunas, aber ich schätze, dass ich nach der Impfung wieder hingehe.“ 

Obwohl Alessandro aus Italien kommt, konnte er sich während eines Urlaubs in Frankreich eine Impfung sichern: „Ich bin schwul und HIV-positiv und kenne zehn Leute, die die Affenpocken gehabt haben – einige von ihnen hatten schlimme Schmerzen im Anus und an der Harnröhre. Deshalb hatte ich große Angst vor der Krankheit. Anfang August konnte ich eine Impfung mit Imvanex [ein von der Europäischen Arzneimittelagentur zugelassener Impfstoff gegen Affenpocken] bekommen. Für mich ist das sehr wichtig, weil ich wieder Sex haben und auch möglichst geringe Symptome haben möchte, falls ich mich infiziere.

Aber ich werde mit neuen sexuellen Kontakten noch warten, weil ich weiß, dass mein Körper erst noch Antikörper für eine ausreichende Immunabwehr aufbauen muss.“ 

Die Impfung ist eine wichtige Komponente der Bekämpfung der Affenpocken, aber sie ist kein Wundermittel. Denn die weltweiten Impfstoffvorräte sind derzeit noch begrenzt, und die Länder müssen durch Bürgerbeteiligung effektive Mechanismen für die Impfung der am stärksten gefährdeten Zielgruppen finden, ohne dass es dabei zu Stigmatisierung und Diskriminierung kommt. Außerdem verhindern die verfügbaren Impfstoffe laut Ergebnissen von Studien zwar wirksam eine Infektion mit Affenpocken, doch liegen noch keine abschließenden Wirksamkeitsdaten aus dem wirklichen Leben vor.

Angst vor Stigmatisierung der Schwulen 

Angesichts der zahlenmäßigen und geografischen Ausbreitung des Ausbruchs waren viele der Befragten besorgt über mögliche negative Gegenreaktionen, vor allem eine Stigmatisierung der Infizierten.

„Da werden Erinnerungen an die HIV/Aids-Krise in den 1980er und 1990er Jahren wach“, sagt John, „und ich befürchte, dass es wieder zu einer Stigmatisierung von Männern mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten kommen könnte – auch wenn das eine Krankheit ist, die eigentlich jeder bekommen kann.“

„Wie erklärst du deinem Arbeitgeber oder Partner oder deiner Familie, dass du die Affenpocken hast“, fragt Ryan, „vor allem wenn du engen Kontakt mit ihnen gehabt hast?

So etwas kann Beziehungen zerstören und Existenzen gefährden. Wir müssen das an die Öffentlichkeit tragen und dafür sorgen, dass diese Krankheit nicht zu Schuldzuweisungen und moralischen Verurteilungen führt.“ 

Die Botschaft von WHO/Europa an die gefährdetsten Gruppen 

Männern mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten und insbesondere solchen mit mehreren Sexualpartnern empfiehlt WHO/Europa: 

  • Informieren Sie sich – wir wissen, wie sich die Krankheit ausbreitet, und was man selbst unternehmen kann, um sich zu schützen. 
  • Erwägen Sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Beschränkung Ihrer Sexualpartner und -kontakte. Diese Botschaft mag hart sein, doch Vorsicht kann Sie und Ihre Gemeinschaft insgesamt schützen.  
  • Obwohl vielleicht Impfstoffe für manche Personen mit einem höheren Expositionsrisiko zur Verfügung stehen, stellen sie keine Patentlösung dar. Wir bitten Sie daher, dennoch vorerst Maßnahmen zu ergreifen, um Ihr Risiko weiter zu verringern.  
  • Wenn Sie sich mit den Affenpocken angesteckt haben oder glauben, sich angesteckt zu haben, sind Sie möglicherweise selbst ansteckend – tun Sie daher alles, um die Ausbreitung der Krankheit zu unterbinden, auch durch Isolierung und Unterlassung sexueller Kontakte und des Besuchs sozialer Veranstaltungen. 
Eine Beendigung dieses Ausbruchs ist möglich, aber nur mit umfassender Beteiligung der am stärksten betroffenen Personen und Gruppen. Auch wenn es eine gemeinsame Handlungsverantwortung gibt, so müssen doch Gesundheitsbehörden und Regierungen ihre Ressourcen und ihre Unterstützung so einsetzen, dass sie eine möglichst große Wirkung erzielen.

Anmerkung: Die Namen unserer Interviewpartner wurden zum Schutz ihrer Identität geändert. Wir wissen die Offenheit der Männer, die zu einem Gespräch mit uns bereit waren, zu schätzen.