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Können sich die Menschen ihre Gesundheitsversorgung leisten? Neue Erkenntnisse über finanzielle Absicherung in Belgien

28 February 2023
Medienmitteilung
Kopenhagen
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Einem neuen Bericht zufolge, der heute vom WHO-Regionalbüro für Europa veröffentlicht wurde, zählt der Anteil an Haushalten mit ruinösen Gesundheitsausgaben in Belgien derzeit zu den höchsten in ganz Westeuropa. Es werden jedoch konkrete Maßnahmen ergriffen, um diese Herausforderung anzugehen – eine Herausforderung, die das Land mit vielen anderen Ländern in der Europäischen Region der WHO teilt.

Mit ruinösen Gesundheitsausgaben zu kämpfen bedeutet, dass ein Haushalt sich aufgrund von Zahlungen aus eigener Tasche für die Gesundheitsversorgung Grundbedürfnisse – wie Nahrungsmittel, Wohnung und Heizmittel – nicht länger leisten kann.

Dem Bericht zufolge hatten im Jahr 2020 – dem letzten Jahr, für das Daten vorliegen – fast 260 000 Haushalte in Belgien mit ruinösen Gesundheitsausgaben zu kämpfen. Dies entspricht einem Anteil von 5,2 % aller Haushalte, doch die Zahl steigt auf bis zu 8 % bei Haushalten, die von Arbeitslosen geführt werden, und auf 12 % bei Haushalten im einkommensschwächsten Quintil der Bevölkerung.

Die in Kooperation mit dem Föderalen Fachzentrum für Gesundheitspflege (KCE) in Belgien ausgearbeitete und mit Mitteln der Europäischen Union (EU) finanzierte neue Analyse zeigt, dass ruinöse Gesundheitsausgaben in Belgien stärker durch Zahlungen aus eigener Tasche für medizinische Produkte (etwa Hörgeräte, Brillen, Zahnersatz und Prothesen) getrieben werden als in vielen anderen Ländern. In einkommensschwächeren Haushalten werden sie in erster Linie durch ambulante Medizin, diagnostische Tests und ambulante Versorgung getrieben.

„Die Zahlen aus 2020 zeigen, dass jeder zwanzigste belgische Haushalt aufgrund von Zahlungen aus eigener Tasche für die Gesundheitsversorgung mit finanziellen Härten zu kämpfen hat. Dies gibt Anlass zu ernster Besorgnis. Die Regierung Belgiens hat jüngst wichtige Schritte unternommen, um die finanzielle Absicherung zu stärken, doch die weitere Verringerung von Zahlungen aus eigener Tasche – insbesondere für Menschen mit geringem Einkommen – sollte weiterhin Vorrang haben“, erklärte WHO-Regionaldirektor für Europa, Dr. Hans Henri P. Kluge. „Eine Fortsetzung der Anstrengungen zum Schutz der Menschen vor der Krise der Lebenshaltungskosten, von denen viele Haushalte in Belgien wie auch in Europa insgesamt betroffen sind, wird zur Verbesserung der Gesundheit der Menschen und zur Stärkung des Gesundheitssystems beitragen.“

Lücken bei erschwinglichem Zugang zur Gesundheitsversorgung

Viele der Faktoren, die einen erschwinglichen Zugang zur Gesundheitsversorgung untergraben – und sich unverhältnismäßig stark auf einkommensschwächere Haushalte auswirken –, spiegeln die Komplexität der Kostenerstattungspraxis in Belgien wider. Hier ein paar Beispiele: 
  • Für alle Gesundheitsleistungen gilt ein komplexes System von Nutzergebühren (Zuzahlungen).
  • Obwohl es mehrere Mechanismen gibt, um die Menschen vor Zuzahlungen zu schützen, kommen einige dieser Mechanismen nicht automatisch zur Anwendung und sind daher nicht so wirksam wie sie sein sollten. Darüber hinaus gibt es keine allgemeine Befreiung von Zuzahlungen für einkommensschwache Haushalte.
  • Für einige ambulante Versorgungsleistungen gilt nach wie vor eine nachträgliche Kostenerstattung (d. h. die Menschen zahlen am Ort der Inanspruchnahme den vollen Preis und erhalten nachträglich eine Teilerstattung der Kosten von ihrer Krankenkasse), was in den Gesundheitssystemen der EU äußerst ungewöhnlich ist.
  • Die staatlich finanzierte Abdeckung von zahnmedizinischen Versorgungsleistungen, medizinischen Produkten und nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ist nach wie vor unzureichend.
  • Mindestens 1 % der Bevölkerung (rund 115 000 Menschen) sind unzureichend über ihre gesetzliche Krankenversicherung abgedeckt – eine Zahl, die in der Region Brüssel sowie unter jüngeren Erwachsenen auf rund 2 % steigt.
Der neue Bericht stellt fest, dass die Regierung diese Probleme anerkennt und wichtige Schritte unternommen hat, um sie anzugehen, so etwa:
  • den Ersatz anteiliger Zuzahlungen (bei denen der Nutzer einen Anteil des Preises für die Gesundheitsleistung zahlt) durch feste Zuzahlungen für Besuche bei einem Haus- oder Facharzt;
  • die Beschränkung von Ausgleichsabrechnungen [sogenanntem „Balance Billing“] (bei denen Anbieter von Gesundheitsleistungen Patienten einen höheren als den von der gesetzlichen Krankenversicherung festgelegten Preis in Rechnung stellen dürfen) in Krankenhäusern;
  • die Abschaffung der nachträglichen Kostenerstattung für bei Hausärzten in Anspruch genommene Leistungen für einkommensschwache Menschen und die Ermöglichung, dass sämtliche Anbieter ambulanter Versorgungsleistungen auf freiwilliger Basis Sachleistungen gewähren können; 
  • die Stärkung der jährlichen Obergrenze für Zuzahlungen durch Senkung des Höchstbetrages, den eine einkommensschwache Person aus eigener Tasche zahlen muss.
Erst jüngst hat die Regierung zusätzliche Maßnahmen ergriffen, um die Menschen vor Zahlungen aus eigener Tasche zu schützen – insbesondere jene in prekären Situationen. Die jährliche Obergrenze für Zuzahlungen wurde eingefroren, anstatt sie entsprechend der Inflationsrate anzuheben; der Versicherungsschutz für zahnmedizinische Versorgung und psychische Erstlinienversorgung wurde ausgeweitet; und es werden Maßnahmen ergriffen, um Ausgleichsabrechnungen in der ambulanten Versorgung zu beschränken.

Vereinfachung der Kostenerstattungspraxis zum Schutz der einkommensschwächsten Haushalte

Das WHO-Regionalbüro für Europa begrüßt diese Änderungen und gibt Empfehlungen ab, wie die verbleibenden Herausforderungen bewältigt werden können, darunter:
  • die Abschaffung der nachträglichen Kostenerstattung für sämtliche Gesundheitsleistungen;
  • eine weitere Beschränkung von Ausgleichsabrechnungen in sämtlichen Umfeldern;
  • die Ausweitung der jährlichen Obergrenze für Zuzahlungen auf sämtliche Gesundheitsleistungen und deren weitere Senkung für einkommensschwache Menschen;
  • die Gewährung eines automatischen Anspruchs für jeden mit entsprechendem Anrecht auf höhere Erstattungssätze (reduzierte Zuzahlungen) zur Eliminierung administrativer Hürden bei der Inanspruchnahme; Forschungsergebnisse zeigen, dass reduzierte Zuzahlungen nahezu umfassend in Anspruch genommen werden, wenn sie automatisch gewährt werden, die Inanspruchnahme aber sehr gering ausfällt, wenn die Menschen sie erst beantragen müssen;
  • die Befreiung einkommensschwacher Haushalte von sämtlichen Zuzahlungen;
  • die Stärkung der Preisregulierung für medizinische Produkte, die von der gesetzlichen Krankenversicherung nicht abgedeckt werden; 
  • die Gewährleistung, dass die gesetzliche Krankenversicherung die gesamte Bevölkerung abdeckt.
„Neben der Reduzierung unerfüllter Bedürfnisse und finanzieller Härten für einkommensschwache Haushalte würden diese Maßnahmen zudem dazu beitragen, das Gesundheitssystem gerechter und weniger komplex zu gestalten für die Menschen, die Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen“, erklärte Dr. Natasha Azzopardi-Muscat, Direktorin der Abteilung Gesundheitspolitik und Gesundheitssysteme der Länder beim WHO-Regionalbüro für Europa. „Die in Belgien gezogenen Lehren sind auch für andere Länder in unserer Region nützlich, die darum bemüht sind, ihre eigenen Herausforderungen im Hinblick auf ruinöse Gesundheitsausgaben anzugehen und den Zugang der gesamten Bevölkerung zur Gesundheitsversorgung zu verbessern.“

Über den Bericht

Der Bericht beurteilt das Ausmaß, in dem die Menschen in Belgien bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen (einschließlich Arzneimitteln) mit finanziellen Härten zu kämpfen haben und aufgrund der finanziellen Barrieren beim Zugang zur Gesundheitsversorgung Bedürfnisse unerfüllt bleiben. Der Bericht stützt sich dabei auf Mikrodaten aus Erhebungen über die Wirtschaftsrechnungen privater Haushalte, die im Zeitraum zwischen 2012 und 2020 (dem letzten Jahr, für das Daten vorliegen) alle zwei Jahre von Statistics Belgium durchgeführt wurden, auf Daten zu unerfüllten Bedürfnissen im Hinblick auf Gesundheitsversorgung und zahnmedizinische Versorgung aus der EU-Statistik über Einkommen und Lebensbedingungen bis 2021 (dem letzten Jahr, für das Daten vorliegen) sowie auf detaillierte Informationen zur Kostenerstattungspraxis (der Art und Weise, wie der Krankenversicherungsschutz gestaltet ist und umgesetzt wird) bis 2022. Der Schwerpunkt des Berichts liegt auf drei zentralen Dimensionen der Kostenerstattungspraxis: dem Anteil der Bevölkerung, der von der Versicherung abgedeckt ist, dem Versorgungsgrad mit Gesundheitsleistungen und Nutzergebühren (Zuzahlungen).

Das WHO-Regionalbüro für Europa

Finanzielle Absicherung ist von zentraler Bedeutung für die allgemeine Gesundheitsversorgung, die im Zentrum des Europäischen Arbeitsprogramms steht, dem strategischen Rahmen des Regionalbüros, der von allen 53 Mitgliedstaaten in Europa und Zentralasien angenommen wurde. Sie ist zudem ein Indikator der Ziele für nachhaltige Entwicklung und Teil der Europäischen Säule sozialer Rechte.

Das Regionalbüro überwacht die finanzielle Absicherung über das WHO-Büro Barcelona zur Finanzierung der Gesundheitssysteme. Darüber hinaus leistet das Büro in Barcelona maßgeschneiderte fachliche Hilfe für die Länder, um durch Identifizierung und Beseitigung von Versorgungsdefiziten unerfüllte Bedürfnisse und finanzielle Härten zu verringern.

Der Bericht über Belgien wurde vom WHO-Büro Barcelona in Kooperation mit nationalen Experten des KCE und mit finanzieller Unterstützung der EU ausgearbeitet. Der Inhalt des Berichts liegt in der alleinigen Verantwortung der WHO und ist auf keinen Fall als Wiedergabe der Ansichten der EU anzusehen.

Im Juni 2023 wird das Regionalbüro einen regionsweiten Bericht über finanzielle Absicherung veröffentlichen, in dem der erschwingliche Zugang zur Gesundheitsversorgung in über 40 Ländern der Europäischen Region verglichen werden soll.

Das KCE

Das KCE ist ein unabhängiges Forschungszentrum, das wissenschaftliche Gutachten zu Themen der Gesundheitspflege ausstellt. Die Aufgabe des KCE besteht darin, auf Grundlage wissenschaftlicher und objektiver Forschung politische Entscheidungsträger bei Entscheidungen zur Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung zu beraten. Es ist ein Beratungsorgan und ist an den politischen Entscheidungen oder deren Umsetzung nicht beteiligt.