WHO
Diagnoselabor im Mechnikov-Krankenhaus in Dnipro (Ukraine), Juli 2023
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Verhaltensbezogene und kulturelle Erkenntnisse: neue Maßstäbe bei der Bekämpfung antimikrobieller Resistenzen

29 November 2023
Pressemitteilung
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Antimikrobielle Resistenzen (AMR) stellen eine globale Bedrohung dar. Wenn keine wirksamen Maßnahmen ergriffen werden, besteht die Gefahr, dass Jahrzehnte medizinischer Fortschritte zunichte gemacht werden. AMR entstehen, wenn Mikroorganismen wie Bakterien, Viren, Pilze und Parasiten nicht mehr auf antimikrobielle Arzneimittel ansprechen. Das bedeutet, dass Infektionen schwieriger zu behandeln sind und Krankheiten sich ausbreiten. Angesichts dieser schwerwiegenden globalen Gesundheitsbedrohung müssen alle potenziellen Möglichkeiten zur Förderung wirksamerer Ansätze untersucht werden. 

Die Nutzung verhaltensbezogener und kultureller Erkenntnisse bietet einen innovativen, evidenzbasierten und auf den Menschen ausgerichteten Ansatz, um den Umgang mit AMR neu zu gestalten. Gesundheitsminister und Delegierte aus den 53 Mitgliedstaaten in der Europäischen Region der WHO haben kürzlich einen neuen Fahrplan zur Bekämpfung antimikrobieller Resistenzen für die Europäische Region angenommen, in dem verhaltensbezogene und kulturelle Erkenntnisse als „hochwirksame Intervention“ anerkannt werden, die in größere Anstrengungen zur Bekämpfung von AMR integriert werden soll. 

Ein zu wenig genutztes Instrument

Verhaltensbezogene und kulturelle Erkenntnisse machen sich Methoden aus den Sozial- und Verhaltenswissenschaften zunutze, um individuelle und kontextbezogene Faktoren, die das Gesundheitsverhalten beeinflussen, systematisch zu erfassen. Verschiedene Faktoren haben Auswirkungen auf Verhaltensweisen, die zu AMR beitragen: Standardverfahren für Krankenhäuser, soziale Normen unter Ärzten, Angst vor Behandlungsfehlern, Gewohnheiten bei der Verschreibung von Antibiotika durch Ärzte und die Verfügbarkeit diagnostischer Tests. Ein besseres Verständnis dieser Verhaltensweisen ebnet den Weg für maßgeschneiderte und wirksamere Interventionen, die wiederum verhaltensbezogene und gesundheitliche Resultate verbessern. 

„Verhaltensbezogene und kulturelle Erkenntnisse können bei der Bekämpfung globaler Gesundheitsbedrohungen wie AMR neue Maßstäbe setzen“, erklärte Robb Butler, Direktor der Abteilung Übertragbare Krankheiten, Umwelt und Gesundheit bei WHO/Europa. „Es ist höchste Zeit, dass wir die Nutzung dieses Instruments ausweiten und die Gesundheitsbehörden dabei unterstützen, diese Art von Erkenntnissen wirksam in die Gesundheitssysteme zu integrieren.“

Verhaltensbezogene und kulturelle Erkenntnisse in der Praxis 

Es gibt Evidenz, theoretische Rahmen und praktische Methoden, die den Gesundheitsbehörden helfen sollen, einen auf verhaltensbezogene und kulturelle Erkenntnisse gestützten Ansatz zur Identifizierung und Umsetzung von Maßnahmen zur Bekämpfung von AMR anzuwenden. WHO/Europa hat das Konzept „Tailoring Antimicrobial Resistance Programmes“ (TAP) (für maßgeschneiderte Programme zur Bekämpfung antimikrobieller Resistenzen) und das breiter angelegte Konzept „Tailoring Health Programmes“ (THP) (für die zielgenaue Ausrichtung von Gesundheitsprogrammen) entwickelt, die Gesundheitsbehörden schrittweise Hilfestellung bei der Anwendung verhaltensbezogener und kultureller Erkenntnisse geben, von der Problemstellung bis zur Interventionsgestaltung und -evaluation. 

Diese Leitfäden haben sich als entscheidend erwiesen, wenn es z. B. darum geht, die Rolle des Verhaltens von Gesundheitsfachkräften bei der Bekämpfung von AMR zu verstehen. 

Von WHO/Europa zwischen 2020 und 2023 durchgeführte Studien zu Routineimpfstoffen und COVID-19-Impfstoffen unterstreichen die Bedeutung und die Komplexität der Verhaltensweisen von Gesundheitsfachkräften und der ihnen zugrunde liegenden Faktoren.

Es wurde bereits eine Vielzahl von Pilotprojekten zum Thema verhaltensbezogene und kulturelle Erkenntnisse durchgeführt bzw. eingeleitet, bei denen es um die Bekämpfung antimikrobieller Resistenzen geht, u. a. in Schweden zur sozialen Orientierung, im Vereinigten Königreich zur Änderung des Verschreibungsverhaltens im Hinblick auf Antibiotika, in Ungarn zur Verschreibung von Antibiotika in der Kinderheilkunde, in Kasachstan zum Verhalten von Apothekern in Bezug auf den rezeptfreien Verkauf von Antibiotika und in Georgien zu einem chirurgischen Programm für einen verantwortungsbewussten Umgang mit antimikrobiellen Mitteln in Krankenhäusern. 

Zur Untersuchung der Verhaltensweisen von Gesundheitsfachkräften können mehrere Modelle angewandt werden, darunter das so genannte COM-B-Modell, das vier Schlüsselfaktoren aufzeigt, die bei der Umsetzung und Evaluation von Maßnahmen in Zusammenhang mit AMR berücksichtigt werden sollten: 
  • Fähigkeit: bezieht sich auf die Fähigkeit von Gesundheitsfachkräften, Antibiotika effektiv und verantwortungsbewusst auszuwählen, zu dosieren und zu überwachen (z. B. Fachwissen, Fähigkeiten, professionelles Urteilsvermögen, Ausbildung);
  • Motivation: umfasst das Vertrauen der Gesundheitsfachkräfte in ihre Fähigkeiten und das Bewusstsein für die Folgen ihrer Entscheidungen sowie emotionale Reaktionen (z. B. Angst, Gewohnheiten, Reaktionen auf situative Zwänge); 
  • soziale Möglichkeiten: bezieht sich auf zwischenmenschliche und gruppendynamische Faktoren sowie organisatorische Strukturen (z. B. Normen und Werte von Fachkollegen, Interaktion mit Führungskräften); und
  • physische Möglichkeiten: bezieht sich auf die materiellen und umweltbedingten Faktoren, die das Verschreibungsverhalten beeinflussen (z. B. leichter Zugang zu notwendiger Ausrüstung, jederzeit verfügbare Protokolle und Richtlinien). 

Nutzung verhaltensbezogener und kultureller Erkenntnisse zur Bekämpfung von AMR in ukrainischen Krankenhäusern

Derzeit spielen diese Erkenntnisse eine entscheidende Rolle bei der Durchführung einer Situationsanalyse in drei ukrainischen Krankenhäusern, die dazu beitragen soll, die Zunahme resistenter Infektionen, insbesondere bei Personen mit kriegsbedingten Verletzungen, und die längerfristige Notwendigkeit einer Reduzierung von AMR durch eine angemessene Verschreibung und Anwendung von Antibiotika anzugehen. 

„AMR sind in unserer Einrichtung ein Problem... Lange Zeit wurden antimikrobielle Mittel unkontrolliert ohne direkte Indikation und ohne Bestätigung durch bakteriologische Tests verschrieben“, erläutert Nataliia Balaniuk, Leiterin der Abteilung für Infektionsschutz im Stadtkrankenhaus von Chmelnyzkyj. „Die Verhaltenswissenschaft kann untermauern, wie das Verhalten des Personals in Bezug auf den Infektionsschutz im Allgemeinen und in Bezug auf AMR im Besonderen geändert werden kann.“

Das Wissen und die Erkenntnisse, die ein auf verhaltensbezogene und kulturelle Erkenntnisse gestützter Ansatz bieten kann, sind von entscheidender Bedeutung für die Infektionsprävention und -bekämpfung sowie für die Verringerung des unangemessenen Einsatzes von Antibiotika in der Ukraine, mit dem Ziel, Erkenntnisse zu gewinnen, die auf nationaler Ebene umgesetzt werden können. 

Es ist klar, dass der Kampf gegen AMR ein komplexes Unterfangen darstellt, welches das Engagement jedes Einzelnen erfordert. Im Vorfeld der Weltwoche für AMR-Bewusstsein können wir uns dafür einsetzen, diese stille Pandemie mit Hilfe verhaltensbezogener und kultureller Erkenntnisse zu beenden.